Das Zitat der Woche
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Von der Unendlichkeit des Todes
Ernst Weiß
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Im Angesichte dieser Erde, und mag sie noch so schwellend sein, wenn sie der reinste Frühlingshauch umduftet, werden wir doch nie selig werden: weder im Leben noch im Tode. Aber darüber hinaus – und mögen wir auch dieses Darüber-Hinaus nie ganz erfassen, mögen wir es auch nie in Worte fassen können, mögen wir es nie in Zungen sprechen lassen –, und doch, darüber hinaus kann es beginnen, in einer anderen Weise. Aus keiner andern Wurzel kann es entspringen als der, die wir kennen, aber einer anderen Blüte soll es entgegenblühen. »Darüber hinaus« soll nicht heißen, daß wir in atemlosem Steigen das verleugnen, was wir erlebt, erlitten und andere leiden gemacht haben. Wir müssen diese niedere Sphäre durchdringen. Vor keinem Schmutze sollen wir uns scheuen, da der Gott unseres Glaubens vor keinem Schmutze sich gescheut hat. Niederstes zu berühren darf uns kein Greuel sein, da Niederstes in der einzigen, absurd einzigen, absurd einigen, absurd ewigen-zeitlichen Welt unseres Gottes ist, wenn er ist, wie wir ihn absurd glauben.
Wir wollen nicht mehr sagen: Zeit oder Ewigkeit, nicht mehr scheiden: leibliche Hölle, ewiger Himmel, denn unsere Himmelfahrt geht nicht erst nach der Todesnacht an.
Der Mensch, der eisige Vernunft hat und nichts als diese logische Vernunft, wird es nicht fassen, aber es faßt ihn, ob er will oder nicht. Er mag stolz seinen kleinen Kreis seines Daseins zu beherrschen glauben, dort, wo er ist, unvertreibbar, wie er sich wähnt, in seinem Büro, auf der Börse, auf dem Sportplatz, in seinem Tanzkreis, oder bei Weib und Kind, in seinen Geschäften, seinen Plänen, seinem Besitze, seinem Hause, seiner Zeit, den Kalender auf dem Tische, die Uhr in der Hand, die Augen im Kopfe, das sichere Gewisse zu seinen Füßen. Er ist nicht sicherer als wir, die wir glauben müssen kraft des Unmöglichen.
Uns allen ohne Ausnahme ist nicht der winzigste Teil eines winzigen Teiles ganz zugeeignet. Keine Kugel, und hätte sie nur die Größe des feinsten Kornes, werden unsere Augen von allen Seiten zugleich betrachten und erfassen können. Aber auch das Weiteste, das Tiefste wird uns anderen wenigstens in einer Ahnung offenbar. Es kann uns nicht ganz entgehen.
Wir müssen uns nicht in die Kirche flüchten, denn gemauerte Dächer werden uns nie decken. Wir wollen nicht Worte lehren, denn in ihnen gibt die Welt nur ihren Nachhall, einen trügerischen, ihrer selbst, mit ihrer falschen Harmonie, ihrem heuchlerischen Gleichklang und lügnerischen Frieden. Das Absurde der Welt, dort, wo es tröstlich zu werden beginnt, wird uns nicht in Kirchen gezeigt, nicht in gebundenen Worten erklärt.
Aber wir wissen es dennoch, wir sind dessen gewiß. Denn: Kamen wir nicht aus dem Sprachlosen zur Sprache? Aus dem Gestaltlosen zur Gestalt? Aus dem Namenlosen zum Namen? Es war eine Zeit, da wir nicht waren. Nicht wir noch die Erde unter uns, die Bäume um uns, die Tiere neben uns, die Wolken und Lüfte über uns. Wie absurd wäre es den damals Seienden, damals Zweifelnden, gewesen, an uns, die Kommenden, Selig-Unseligen, zu glauben. Und doch kamen wir, zu einem elenden, aber doch zu einem Leben. Zu einem Wissen kamen wir, das zwar keines Wertes ganz gewiß ist, das aber alle Werte ahnt, die höchsten wie die niedersten. Zu einer Freude sind wir gekommen, die zwar in Bitterkeit ihre Flügel taucht, aber doch zu einer Freude. Und es ist absurd, aber es ist dennoch unser Glaube, kraft des Unmöglichen: Unendliches erwartet uns.
Wir bleiben nicht am Rande der endenlosen Sphären. In der Mitte der Zonen werden wir schweben.
Die Unendlichkeit des Todes hinter uns. Die Unendlichkeit des Todes vor uns. Die Hölle dieser Erde zu unseren Füßen. Aber, unserm Blicke unerreichbar, dennoch aber uns zukommend in gewaltigstem Lebensgefühl: das andere Ende, die Lösung des Absurden, die Bekräftigung des Glaubens, die Gewißheit des höheren, tieferen Sinnes, die Krone der erkorenen Bestimmung. Das ist es, weswegen wir noch leben. ■
Aus Ernst Weiß, Essays
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