Glarean Magazin

Das Zitat der Woche

Posted in Adolf Portmann, Philosophie, Wissenschaft, Zitat der Woche by Walter Eigenmann on 20. Juli 2010

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Vom Organismus als geistige Macht

Adolf Portmann

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Eingliederung in ein teilweise unbekanntes Gesamtbild – das ist eine unbequeme und unbeliebte Forderung, und doch ist sie entscheidend. Sie wird heute oft in einem erschreckenden Mass vernachlässigt. Die Bilder vom Organismus geben sich in unseren Tagen meist als rational durchschaute. Sie wollen völlig verstandene Bilder sein. Der Organismus ist in diesen Konstruktionen auf das reduziert worden, was von ihm jederzeit rational fassbar ist, und diese Auffassung beherrscht denn auch den elementaren Unterricht der Gegenwart. Die Blüte der höheren Pflanze ist in dieser Betrachtungsweise eine Bestäubungseinrichtung mit einem weit ausgebauten, farben- und düftereichen Publizitätsdienst. Das Farbenkleid eines Vogels steht etwa im Dienst der Tarnung oder der Anlockung der Geschlechter oder es vermittelt das Erkennen von Artgenossen. Der Farbwechsel eines Fisches ist ein Auslöser für soziale Beziehungen, eine Kundgabe von Stimmungen. Dass in allen diesen Fällen gerade die eigenartigsten Tatsachen der Gestalt auch noch anderen Deutungen zugänglich wären, die nicht ausschliesslich der Sphäre der puren Erhaltung der Art oder des Individuums angehören, das sei im Augenblick nur angedeutet.

Adolf Portmann (1897-1982)

Selbst Forschungsrichtungen, welche die Gestaltung des Lebendigen sehr ernst nehmen, wie die Verhaltungsforschung der neuesten Zeit, sind in manchen ihrer Varianten auf den blossen Nachweis von funktionellem Sinn der äusseren Merkmale eingeengt, sie suchen nach «Rollen» in ganz bestimmten Lebensspielen. Sie machen deshalb bewusst oder unbewusst mit bei der Reduktion der organischen Erscheinung auf bloss funktional Verstandenes.
Die Gefahr einer Gestaltauffassung, die derart auf das rational Durchschaute reduziert ist, wird in unserer Zeit noch vergrössert durch einen Umstand, der eine immer drohendere Lage schafft: der technische Ausbau der Arbeitsmethoden führt heute immer weiter weg von einer umfassenden Betrachtung der Gesamterscheinung eines Organismus. Die zwangsläufige Entwicklung lenkt ab von der Gestalt. Sie zwingt den Forscher ins Submikroskopische, in den molekularen Bereich. Die Form ist dann nur noch Funktionsträger, der als durchschaut gilt; sie ist zuweilen dem Forscher überhaupt nur noch technischer Test für Verborgenes. Dadurch wird einer Reduktion der Vorstellung vom Lebendigen Vorschub geleistet, die oft noch weit unter das geht, was zur Zeit rational verstanden wird: eine Reduktion auf blosse biotechnisch bedeutungsvolle Ausschnitte.
Denken wir nun an die Notwendigkeit der äussersten Beschränkung im Unterricht, wie sie die nahe Zukunft aus Zeitgründen immer schärfer bringen wird – wie gross ist da die Gefahr, dass wir uns mehr und mehr auf einige schematische Robotbilder des Lebendigen beschränken. Nur eine neue Auffassung vom Organismus, von der eine wirkliche geistige Macht ausgeht, könnte einem solchen Verfall entgegenwirken. ■

Aus Adolf Portmann, Wandlungen unseres Bildes vom Lebendigen, in: Wege zur neuen Wirklichkeit, Vortragsreihe, Verlag Hallwag Bern 1960

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