Glarean Magazin

Alan Pauls: «Geschichte der Tränen»

Posted in Alan Pauls, Buch-Rezension, Günter Nawe, Literatur, Rezensionen by Walter Eigenmann on 21. September 2010

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«Zuhören, weinen, in seltenen Fällen auch reden»

Günter Nawe

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Argentinien ist in diesem Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse. Argentinien feiert zugleich 200 Jahre Unabhängigkeit. Geschichte und Literatur also in einem. Und eine Reihe prominenter argentinischer Schriftsteller weiß sich mit ihren Werke beidem verpflichtet: der Literatur und der Geschichte.

Einer der wichtigsten Autoren Argentiniens ist sicher Alan Pauls. Der 1959 geborene Journalist, Schriftsteller und Dozent für Literaturgeschichte hat in Deutschland mit seinem Roman «Die Vergangenheit» großes Interesse und viel Lob bei Kritikern und Lesern gefunden. Große Aufmerksamkeit und Begeisterung gilt jetzt auch dem neuen Roman «Geschichte der Tränen».

Pauls erzählte eine der wichtigsten Episoden in der Geschichte seines Heimatlandes. Es geht im Wesentlichen um das Regime Videla und die Gegenrevolution der Gewerkschaften in den 70er Jahren. Und es geht um die «Empfindsamkeit», die diese Aktivitäten deutlich werden lassen. Zum Beispiel bei einem hypersensiblen jungen Mann, der Hauptfigur, die als Kind Superman liebt. Allerdings nicht wegen seiner Stärken, sondern wegen seiner Schwächen. Diese Sensibilität hat ihren Preis. So hat der Protagonist, der sonst viel geweint hat, nach der Fernsehübertragung des Putsches gegen Allende in Chile, keine Tränen mehr. Dafür lernt er im Lauf der Zeit zu verstehen, was es auch mit der Diktatur in seinem Lande auf sich hat.

Alan Pauls (*1959)

Das alles geschieht in diesem Roman in Form einer Art Entwicklungsgeschichte, in der der jungen Mann, namenlos und damit stellvertretend, vom «Superman» zum Sozialisten wird. «Schwülstige Menschlichkeit» stösst ihn ab, er verachtet seinen Vater, verlässt seine Freundin und findet seine Berufung. Aus Schwäche wird Stärke.
So erlebt der Held aus der Ortega-y-Gasset (der Name dieser Straße ist ein Stück Programm) im Zentrum von Buenos Aires, wo er mit der geschiedenen Mutter und seinen Großeltern wohnt, seine Geschichte: Er ist ein Einzelgänger, ein Individualist, der die Geschichten von Superman sich zu eigen macht, der ganz in seiner «Empfindsamkeit» aufgeht, der sich in der Kunst des Weinens – vorerst noch – übt. «Zuhören, weinen, in seltenen Fällen auch reden» – so sein Motto. Sein Medium ist das Ohr. Und weil dem so ist, wird er zum Ansprechpartner für alle und jeden; für seine Eltern, für Menschen mit Liebesäffaren und verunglückten Lebensträumen. Denn mitten im Lärm und den Wirrnissen der Politik und ihrer fatalen Erscheinungen, die ihm keinesfalls entgehen, kommt auch immer wieder das Private, das Persönliche zum Ausdruck.

«Folter, Schmerz, Leid allenthalben»: Argentiniens Junta-General Videla

Dem komplexen Geschehen, den sehr differenzierten Wahrnehmungen entspricht die Sprache Alan Pauls, eine Sprache, die an Marcel Proust geschult ist. Es sind monologisch erzählte Episoden, es sind verschiedene «Stimmen», mal laut mal leise, die erzählen. So auch von den Folterungen in den Gefängnissen mit Langzeitfolgen. Der «Zuhörer» bemerkt eine Narbe: «…und plötzlich bleibt sein Blick an der schimmernden Stelle hängen, einer Lichtung, wo sich die Haut zur glatten Oberfläche ohne Poren, ohne Haare, ohne Unregelmäßigkeiten spannt…». Folter, Schmerz, Leid allenhalben.

Gibt es in diesem Leben außer Schmerz auch Glück? Der Held findet es. Und als er zeigt, wer sein Glück ist und wie es aussieht, erhält er prompt eine Warnung, dass dieses Glück nur deshalb so ist, wie es ist, «…weil du nie an ein Bettgestell gefesselt warst, während zwei Typen dir die Eier verkohlen». Dies und das ist bitterböse, ist erschreckend und – wenn man so will – auch eine Anklage mit den Mitteln der Literatur.

Dieser Roman ist vieles zugleich, vor allem aber ein beeindruckendes Psychogramm eines Individualisten - und erschreckendes Zeitzeugnis.

Schmerz und Leid, Öffentliches und Privates sind in diesem Roman thematisiert. Biografie und Zeitgeschichte sind miteinander verwoben. Und das auf eine wunderbar kunstvolle, literarisch bedeutende Art und Weise. Ein großer, ein bedeutender Roman. ■

Alan Pauls, Geschichte der Tränen, Roman, 140 Seiten, Klett-Cotta Verlag, ISBN 978-3-608-93710-7

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Leseproben

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