Benjamin Stein: «Die Leinwand»
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Auf der Suche nach der Identität
Günter Nawe
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Wer bin ich? – fragen sich die beiden Hauptpersonen in Benjamin Steins raffiniert konstruiertem Roman «Die Leinwand». Und wie lese ich? – fragt sich der Leser. Wie man es auch dreht und wendet: das Buch ist von hinten und von vorn, von vorn und von hinten zu lesen. Und ganz Mutige können auch irgendwo in der Mitte anfangen.
Bei der Buchmesse in Leipzig verkaufte Benjamin Stein sein ungewöhnliches Buch als einen «Akt des Widerstands gegen die Digitalisierung». Das Verwirrspiel um die beiden Hauptfiguren, den Analytiker Amnon Zichroni und den Journalisten Jan Wechsler, hat aber sicher noch einen anderen, einen tieferen Sinn. Ihre gemeinsame deutsch-jüdische Geschichte beginnt, nachdem die Biographien von verschiedenen Seiten aufeinander zulaufen, mit Minsky, einem genialen Hochstapler. Plötzlich leben sie ein anderes Leben – unsicher in ihrem Selbstverständnis, über ihrer Identität. Es geht um die Verlässlichkeit der Erinnerung.
Für Amnon Zichroni heißt das: «Ich glaubte lange Zeit, ich hätte so etwas wie einen sechsten Sinn…» Hat er doch die Fähigkeit, die Erinnerungen anderer Menschen nachzuempfinden, sich in sie hinein zu leben. Beste Voraussetzungen als Psychoanalytiker mit einer Praxis in Zürich. Ganz anders erlebt es Jan Wechsler. Er verliert in seinen Erinnerungen die Orientierung und damit einen großen Teil seiner Lebensgeschichte.
«Aneinander geraten» Zichroni und Wechsler über ein Buch des alten Geigenbauers Minsky, der als Kind Auschwitz überlebt hat. Von Zichroni veranlasst schreibt Minsky seine Erinnerungen; schreckliche Erinnerungen – wie Zichroni sie dank seiner seltenen Gabe miterlebt. Der Journalist Jan Wechsler mit einer DDR-Biographie begibt sich auf Spurensuche und entlarvt das Buch von Minsky als geniale Fälschung. Dafür bedient sich Benjamin Stein einer Geschichte, der Geschichte von Benjamin Wilmorski.
Benjamin Stein ist ein brillant und aufregend «konstruierter» Roman gelungen, sprachlich brillant, mit großem psychologischem Einfühlungsvermögen für seine Figuren, die durchweg als erstaunliche Charaktere auftreten.
Aber damit nicht genug und weiter in der Geschichte. Plötzlich taucht ein ominöser Koffer bei Wechsler auf. Eindeutig sein Koffer, glaubt man den Schriftzügen und dem Namensschild. Allerdings fehlt Wechsler jegliche Erinnerung daran. Auch seine Herkunft, ja seine ganze Biographie stellt sich plötzlich anders dar.
Und weiter treibt der orthodoxe Jude und Schriftsteller Benjamin Stein sein herrlich intelligentes Verwirrspiel – bis hin zu einer alten Mikwe mit ihrem «lebendigen Wasser» in Israel. Auch hier bewegen sich die beiden Protagonisten noch einmal aufeinander zu, bleiben aber «biographisch» immer noch auf unsicherem Grund.
Ein Buch über die existentielle Frage «Wer bin ich?». Zudem eine literarische Glanzleistung. Und: Ein Buch für Leser, die sich gern verwirren lassen und dann umso mehr Freude an der Entwirrung haben. ■
Benjamin Stein, Die Leinwand, Roman, C.H. Beck München, 416 Seiten, ISBN-13 978-3406598418
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