Erich Wolfgang Skwara: «Im freien Fall»
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Hundert Scherben eines schönen Spiegels
Christian Busch
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Schon im 19. Jahrhundert war der Roman – nach Stendhal – «un miroir», ein Spiegel und Abbild seiner Zeit, zugleich Zeugnis der Illusion, das Leben sei in seiner Totalität tatsächlich erfassbar. An diese Tradition knüpft auch Erich Skwaras Roman «Im freien Fall» an, auch wenn der Held – ursprünglich mal auf der Suche nach der Sinnfälligkeit des Lebens – längst das «Zeitalter transzendentaler Obdachlosigkeit» (Georg Lukács) durchschritten hat. Mehr und mehr ist dabei das vereinzelte und sich vereinzelnde Ich auf sich selbst zurückgeworfen, Zuflucht nur in einen grenzenlosen Subjektivismus findend, das Leben dabei ein unergründliches Rätsel, ein undankbares Puzzle, ein zersplitterter Spiegel, dessen Scherben zusammenzusetzen eine qualvolle Sisyphos-Arbeit bedeutete, die zu allem Überdruss auch noch nur sich selbst dient.
Spielmann heißt die Hauptfigur des Romans, bei deren Namensgebung Grillparzers Novelle «Der arme Spielmann» Pate gestanden hat. Ein junggebliebener Mittfünfziger, ein misanthropischer Menschenfreund, der seiner Frau Linda und seinen Töchtern in liebevoller Lieblosigkeit auch aus größter zeitlicher und räumlicher Distanz verbunden ist, der seiner mit der Erfindung von immer neuen künstlichen Bedürfnissen höchst zeitgemäß ausgerichteten Firma mit weiser, an Rousseau’scher Zivilisationskritik orientierter Skepsis gegenübersteht, und der als entwurzelter Weltbürger, der Kultur des Abendlandes verhaftet, in der Neuen Welt gestrandet ist: «Vor ihm erstreckte sich der Ozean. Der gehörte ihm allein, er wusste bestimmt, dass er ihn nicht mit anderen Menschen teilte. Niemand sah, was er sah. Das galt für alle Bilder, und diese Gewissheit war sein verlässlichster Besitz».
Diese Selbsterkenntnis ist Ausgangs- und Zielpunkt der Romanerzählung, die in zahlreichen, durchaus virtuos verknüpften Rückblenden Spielmanns Geschichte komponiert: die hundert Scherben des schönen Spiegels. Vor allem ist da das knabenhafte, leitmotivisch immer «bleiche» Mädchen mit der Botticelli-Aura, dessen Todesanzeige Spielmann bei der morgendlichen Zeitungslektüre sucht, und das ihn auf der gemeinsamen Reise zu den Wurzeln europäischer Kultur in eine heftige, erotische Liebesbeziehung gestürzt hatte. Die Parallele zu Walter Faber und Sabeth drängt sich auf, denn so wie Fabers technisches Welt- und Menschenbild zerbröckelt, so befindet sich auch Spielmann in einer Sinnkrise und auf der existentiellen Suche nach Wirklichkeit – eben «im freien Fall».
Um diesen roten Faden der Geschichte ranken sich verschiedene Episoden um die Freundschaft, die vollkommene Schönheit, den Tod und die wahrhaft – die Anspielung an Dantes Inferno ist überdeutlich – «höllische» Gewalt der Technik, etwa wenn er den Maschinenraum im Bauch eines Kreuzfahrtschiffs aufsucht. Geradezu anrührend erzählt ist der Besuch der Herz-Jesu-Statue in der englischen Kirche St. Peter and The Guardian Angels. Wenn sich Spielmann und sein bleiches Mädchen in gemeinsamem Gedenken an das mütterliche Leid über die im Großen Krieg verstorbenen Brüder Peter und Francis Dennien an den Händen halten, trifft Skwara die menschliche Gesellschaft an ihrem wundesten Punkt: der gnadenlosen Ausbeutung des Individuums durch staatliche Macht.
Doch vor allem reisen Spielmann und seine Liebesgespielin durch Europa auf den Spuren europäischer Kulturgeschichte, den Zentren der Antike und der Renaissance: Rom, Paris, Chartres, Chenonceaux, Vézelay, Brügge, Florenz. Trotz heftigster erotischen Aufladung stellt sich keine dauerhafte Bindung oder Beziehung ein: «Ich bin nicht auf deiner Höhe», schluchzt sie verzweifelt und stürzt – wie Gretchen – in den Wahn, die Liebe wird zum Verbrechen. Spielmann bleibt Einzelgänger – wie Faust – und zieht seiner bleichen, makellosen Schönheit die Fresken von Domenico Ghirlandaio vor. Damit schließt sich der Kreis. Spielmanns Spiegel ist zusammengesetzt, ein Prozess der Selbstfindung, der Selbstvergewisserung ist abgeschlossen, der Preis ist hoch, die Zerbrechlichkeit des Spiegels nur allzu spürbar, «gerettet» nur sein Selbstbild. Und wer sagt, dass Helden in der Moderne sympathisch sein müssen?
Kein Zweifel: Der 1948 in Salzburg geborene Erich Wolfgang Skwara, Literaturdozent, Reiseleiter und Schriftsteller, schöpft aus einem reichen Fundus an Bildung und Lebenserfahrung (die autobiographischen Züge des Romans sind unübersehbar), aus dem er eine facettenreiche Palette von gewichtigen Topoi und Themen kreiert und in die Waagschale wirft. Er versteht es auch – atmosphärisch dicht – Stimmungen zu entwerfen, die in ihrer Zeitlosigkeit von großer poetischer Ausdruckskraft sind, die magische Momente bis hin ins Unvergängliche verklären und nicht nur zu Beginn des Romans von großer suggestiver Kraft sind. So ist dem Autor ein äußerst lesenwerter Roman gelungen. Bei aller erlaubten Provokation, die Spielmann in seiner unendlichen Egozentrik, seinen sexuellen Phantasien und seiner parasitären Existenz auslöst, bleibt indes die Frage nach einer – auch für den Helden – menschlich erfüllteren Daseinsform. ■
Erich Wolfgang Skwara, Im freien Fall, Roman, 272 Seiten, Hoffmann und Campe Verlag, ISBN 978-3-455-40261-2
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Geb. 1968 in Düsseldorf/D, Studium der Germanistik, Romanistik und Erziehungswissenschaft an der Universität Bonn, jahrelange Erfahrung in verschiedenen Chören, arbeitete als Lehrer in Frankreich, Südafrika und Deutschland, lebt derzeit in Teneriffa/SP
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