Glarean Magazin

Michael Ehn / Ernst Strouhal: «en passant»

Posted in Buch-Rezension, Ernst Strouhal, Rezensionen, Schach, Schach-Rezension, Thomas Binder by Walter Eigenmann on 26. November 2010

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Eindrückliche Zeitdokumentation der jüngeren Schachgeschichte

Thomas Binder

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Das 20-Jahr-Jubiläum der wöchentlichen Schachkolumne in einer überregionalen Tageszeitung ist heutzutage sicher ein Grund für würdige Feiern. Michael Ehn und Ernst Strouhal (dem regelmäßigen Leser als «ruf & ehn» bekannt) können stolz auf genau diese zwei Jahrzehnte ihrer Arbeit für den Wiener «Standard» zurückblicken. Sie begehen dies mit einer Sammlung ihrer dort erschienenen Beiträge und werden das dabei entstandene Buch «en passant» am 10. Dezember im «project space» der Wiener Kunsthalle bei einer grandiosen Veranstaltung präsentieren.
Die beiden Autoren müssen dem Fachpublikum wohl nicht mehr vorgestellt werden. Michael Ehn gehört zu den renommiertesten Schachhistorikern der Gegenwart. Erst kürzlich konnten wir an dieser Stelle sein Buch «Alles über Schach» vorstellen. Ernst Strouhal doziert u.a. an der Universität für angewandte Kunst in der österreichischen Hauptstadt. Seine kulturwissenschaftlichen Studien haben vielfältige Bezüge zum Schachspiel.

Der Versuch, eine Zeitungskolumne in Buchform zu pressen, erscheint gewagt. Ehn und Strouhal haben einen ungewöhnlichen Ansatz gewählt, diese Vielfalt zu bewältigen. Ihrem Buch ist eine DVD beigegeben, die eine unveränderte Wiedergabe aller seit Juni 1990 erschienenen Beiträge – das sind mehr als 1’100 – enthält. Dabei gehen die Autoren betont puristisch vor: Die Artikel der Jahre 1990 bis 2008 werden als Scans im JPG-Format präsentiert, die der Jahre 2009 und 2010 (bis Juni) als PDF-Dokument. So hat man einen Weg gefunden, vergängliches Material aus Tageszeitungen vollständig für die Schachfreunde künftiger Generationen zu erhalten.

20 Jahre lang Schach-Feuilleton in Wien: Die Kult-Kolumne von «ruf & ehn» im «Standard»

Eine rückwirkende Rezension der Kolumnen aus heutiger Sicht verbietet sich von selbst. Um dem Leser einen kleinen Einblick zu gewähren, will ich willkürlich ein paar Monate aus dem riesigen Fundus herausgreifen und die Inhalte ganz kurz vorstellen. Die Auswahl wurde nach dem Zufallsprinzip getroffen, lässt aber den eigentlichen Reiz der Lektüre aufscheinen: Es ist höchst amüsant, frühere Beiträge aus heutiger Sicht noch einmal zu lesen, Parallelen zu ziehen, Wertungen zu hinterfragen.

April 1992: Am 5.4. kommentieren die Autoren die Querelen um die Brettbesetzung der österreichischen Olympiade-Mannschaft und teilen in Richtung Verbandsspitze aus. Aktuelle Parallelen kommen dem Rezensenten nicht ganz zufällig in den Sinn. Am 12.4. wird der Schachöffentlichkeit ein neues Wunderkind vorgestellt: Der 12jährige Peter Leko war damals gerade der jüngste IM der Schachwelt. Leko prophezeite übrigens seinerzeit Anand als künftigen Weltmeister – und sich selbst (für 2002) als dessen Nachfolger. Erwies sich Teil 1 der Vorhersage als Volltreffer, wird am zweiten Teil noch gearbeitet… Eine Woche später würdigen die Autoren Alex Wohl für den Gewinn der australischen Meisterschaft und zum Monatsende geht es in die «exzentrische Welt der Studien». Anlass ist das Erscheinen der Studien-Datenbank des Holländers Harold van der Heijden.

Juli 2002: Das Modewort hieß «Advanced Chess», wobei sich zwei menschliche Spieler mit Computer-Unterstützung duellieren. So berichtet die Kolumne vom 6.7.2002 über ein solches Match zwischen Anand und Kramnik – nicht ahnend, dass beide mehrere Jahre später ohne Rechner um die WM gegeneinander spielen werden. Wie es der Zufall will, wird eine Woche später ein weiterer WM-Kandidat ins Bild gesetzt: Ein Topalow-Porträt ziert den Beitrag über das Dortmunder Kandidatenturnier, am 20.07. werden dann Topalow und Leko als Finalisten von Dortmund präsentiert und zum Ende des Monats steht fest: «Es kann nur einen geben» – Leko ist der Herausforderer für Weltmeister Kramnik.

August 2008: In diesem Monat stehen zunächst drei Beiträge zu Geschichte und Gegenwart des Schachs auf der Karibik-Insel Kuba im Blickpunkt. Am 25. August wird dann mit weit ausholendem Blick auf den Ödipus-Komplex eine aktuelle Turnierpartie zwischen Vater und Sohn Carlsen kommentiert. Ohne «ruf & ehn» wäre sie längst in Vergessenheit geraten. –

Auf Buch und DVD namens «en passant» dokumentieren Ehn und Strouhal die 20-jährige Geschichte ihrer Schachkolumne im Wiener «Standard». Das großformatige Buch bietet als Orientierungshilfe die dazugehörigen Register. Wer sich auf die Arbeit mit den mehr als 1’000 Dateien einlässt, wird mit hochinteressanten Fundstücken zur jüngeren Schachgeschichte und darüber hinaus belohnt.

Die Kolumne wird meist mit einer aktuellen oder thematisch passenden und angemessen kommentierten Meisterpartie beschlossen. Hinzu kommen eine oder mehrere Schachaufgaben, seit Juli 2000 in den drei Kategorien «Ganz leicht», «Ganz schön» und «Ganz schön schwer» – Titel, die den spielerisch souveränen Umgang der Autoren mit dem königlichen Spiel ahnen lassen.

Das großformatige und aufwendig gestaltete Buch könnte man augenzwinkernd als «DVD-Booklet» bezeichnen. Es enthält die unentbehrlichen Orientierungshilfen zur DVD: eine kurze Chronologie der Beiträge; ein alphabetisches Namen- und Sachregister jeweils mit Verweis zum Datum des Beitrages; eine detailliert nach Eröffnungen sortierte Partieübersicht und chronologische Übersicht der Partiefragmente; eine Auswahl von ca. 270 der oben erwähnten Aufgaben mit Lösungen; und als Highlight: 20 Kolumnen als Faksimile-Abdruck.

Uns liegt also ein großartiges Zeitdokument vor, mit dem die verdienstvollen Autoren ihrer Schachspalte ein bleibendes Denkmal gesetzt haben. Wer es in voller Pracht genießen will, muss sich am Rechner durch das Gewirr von weit über 1’000 Dateien kämpfen – eine Geduldsarbeit, die wohl nur Enthusiasten (und Rezensenten) fertig bringen. Vielleicht ist ja dereinst das nächste Jubiläum (das Vierteljahrhundert?) Anlass für eine «echte» Buchausgabe ausgewählter Kolumnen mit rückblickendem Kommentar. Lesespaß und Entdeckerfreude wären garantiert. ■

Michael Ehn / Ernst Strouhal: «en passant», Mit DVD, Springer Verlag Wien / New York, 182 Seiten, ISBN 978-3-7091-0345-6

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Leseprobe (Buch-Scan)



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