Das Zitat der Woche
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Über das «Genie» Adolf Hitler
Thomas Mann
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Ich frage mich, ob die abergläubischen Vorstellungen, die sonst den Begriff des <Genie> umgaben, noch stark genug sind, dass sie uns hindern sollten, unsern Freund ein Genie zu nennen. Warum denn nicht, wenn’s ihm Freude macht? Der geistige Mensch ist beinahe ebensosehr auf Wahrheiten aus, die ihm wehe tun, wie die Esel nach Wahrheiten lechzen, die ihnen schmeicheln. Wenn Verrücktheit zusammen mit Besonnenheit Genie ist (und das ist eine Definition!), so ist der Mann ein Genie: Um so freimütiger versteht man sich zu dem Anerkenntnis, weil Genie eine Kategorie, aber keine Klasse, keinen Rang bezeichnet, weil es sich auf den allerverschiedensten geistigen und menschlichen Rangstufen manifestiert, aber auch auf den tiefsten noch Merkmale aufweist und Wirkungen zeitigt, welche die allgemeine Bezeichnung rechtfertigen.
Ich will es dahingestellt sein lassen, ob die Geschichte der Menschheit einen ähnlichen Fall von moralischem und geistigem Tiefstand, verbunden mit dem Magnetismus, den man <Genie> nennt, schon gesehen hat wie den, dessen betroffene Zeugen wir sind. Auf jeden Fall bin ich dagegen, dass man sich durch ein solches Vorkommnis das Genie überhaupt, das Phänomen des großen Mannes verleiden lässt, das zwar vorwiegend immer ein ästhetisches Phänomen, nur selten auch ein moralisches war, aber, indem es die Grenzen der Menschheit zu überschreiten schien, die Menschheit einen Schauder lehrte, der trotz allem, was sie von ihm auszustehen hatte, ein Schauder des Glückes war. Man soll die Unterschiede wahren – sie sind unermesslich. Ich finde es ärgerlich, heute rufen zu hören: «Wir wissen es nun, Napoleon war auch nur ein Kaffer!» Das heißt wahrhaftig, das Kind mit dem Bade ausschütten. Es ist als absurd abzulehnen, dass man sie in einem Atem nennt: den großen Krieger zusammen mit dem großen Feigling und Erpressungspazifisten, dessen Rolle am ersten Tage eines wirklichen Krieges ausgespielt wäre; das Wesen, das Hegel den «Weltgeist zu Pferde» nannte, das alles beherrschende Riesengehirn, die ungeheuerste Arbeitskapazität, die Verkörperung der Revolution, den tyrannischen Freiheitsbringer, dessen Gestalt der Menschheit als Erzbild mittelmeerländischer Klassik für immer ins Gedächtnis geprägt ist – zusammen mit dem tristen Faulpelz, tatsächlichen Nichtskönner und <Träumer> fünften Ranges, dem blöden Hasser der sozialen Revolution, dem duckmäuserischen Sadisten und ehrlosen Rachsüchtigen mit <Gemüt>…
Ich sprach von europäischer Verhunzung: Und wirklich, unserer Zeit gelang es, so vieles zu verhunzen: Das Nationale, den Sozialismus – den Mythos, die Lebensphilosophie, das Irrationale, den Glauben, die Jugend, die Revolution und was nicht noch alles. Nun denn, sie brachte uns auch die Verhunzung des großen Mannes. Wir müssen uns mit dem historischen Lose abfinden, das Genie auf dieser Stufe seiner Offenbarungsmöglichkeit zu erleben.
Aber die Solidarität, das Wiedererkennen sind Ausdruck einer Selbstverachtung der Kunst, welche denn doch zuletzt nicht ganz beim Worte genommen sein möchte. Ich glaube gern, ja ich bin dessen sicher, dass eine Zukunft im Kommen ist, die geistig unkontrollierte Kunst, Kunst als schwarze Magie und hirnlos unverantwortliche Instinktgeburt ebensosehr verachten wird, wie menschlich schwache Zeiten, gleich der unsrigen, in Bewunderung davor ersterben. Kunst ist freilich nicht nur Licht und Geist, aber sie ist auch nicht nur Dunkelgebräu und blinde Ausgeburt der tellurischen Unterwelt, nicht nur <Leben>. Deutlicher und glücklicher als bisher wird Künstlertum sich in Zukunft als einen helleren Zauber erkennen und manifestieren: als ein beflügelt-hermetisch-mondverwandtes Mittlertum zwischen Geist und Leben. Aber Mittlertum selbst ist Geist.Aus Thomas Mann, Bruder Hitler, Paris 1939
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Splitter
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«Welche Bücher habt ihr nie vergessen?»
(Frage in einem deutschen Literatur-Forum)
Eigentlich (fast) jedes…
Denn mit den Büchern ist es wie mit dem Wein im bekannten Sprichwort: Das Leben ist zu kurz, um schlechte/n zu lesen/trinken. Da man also nur «gute Bücher» lesen sollte, indem man sich vor dem Kauf so vielseitig wie möglich kundig macht, weist meine Bibliothek kaum «faule Eier» bzw. nur (für mich) «Unvergessliches» auf.
Es gibt aber Bücher, die einen «verfolgen»!
Bei mir ist das – unter noch ein paar anderen – die berühmte Nazi-Dokumentation von Eugen Kogon: «Der SS-Staat».
Dabei ist es nicht nur die himmelerbarmende und unfassbare Barbarei, mit der damals Deutschland die ganze Welt in die Hölle stürzte, was den Leser dieser erdrückenden Fakten schaudern lässt. Sondern die demprimierende Erkenntnis, dass jeder, also du wie ich genauso zum Verbrecher an der Menschlichkeit werden kann, wenn nur die (zugegeben vielfältigen) «Umstände stimmen»…
Ich habe den Band als Zwanzigjähriger gelesen – und noch heute hat er, quasi als Mahnmal, einen besonderen Platz in meinen Bücherregalen. Walter Eigenmann
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