Kurzprosa von Göri Klainguti
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Komm, alte Kiste
Göri Klainguti
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…ich hab die Entsorgungstaxe für dich bezahlt. – Schade, dass du nicht sprichst… Vielleicht würdest du mir von den berühmten Pianisten erzählen, deren Finger mit Leichtigkeit über deine Tasten flogen, wobei sie aus deinem Resonanzkasten brillante Sonaten von Clementi und Kuhlau klingen ließen… Oder von den Zeiten danach, als die liebliche Tochter des Bankdirektors «Für Elise» spielte und aufwühlende Stücke von Schumann, auch die Préludes von Chopin, versteht sich, und sogar den ultramodernen Debussy und Satie… bis sich die Zeiten änderten, der erste Weltkrieg warf alles untereinander. Wie kamst du eigentlich in die Bar? He? Warum sprichst du nicht, altes Miststück? – Du, ich bewahre dich vor dem Kehrichtpersonal, wenn du mir von deinem Leben erzählst…. Was? Du willst nicht einmal bewahrt werden? Du bist froh endlich abfahren zu dürfen, soll dies dein dumpfes Dröhnen bedeuten? Ach, dein Pedal, die Feder ist ausgehängt, die Töne vermischen sich, schon wenn man dich nur berührt… Aber lass mich den Deckel öffnen: Die Tasten sehen noch verdammt gut aus! Die weißen sind etwas gelblich und dem C da in der Mitte fehlt das Elfenbein, ausgetrockneter Leim auf Holz ist, was man da sieht; und die schwarzen sind vielleicht ein wenig grau – vor allem die paar da oben. Ja, die da oben, was zitterst du plötzlich? Hast du Angst vor dem Titidongdata, vor dem Flohwalzer? Beruhige dich. Wenn ich in deine Tasten drücke, dann mit Sicherheit nicht dieses verfluchte Stück, das ich letzthin sogar im Radio hören musste, auf Orgel sogar! Kannst also getrost sein, nicht nur verlotterte Klaviere, sogar noble Kirchenorgeln müssen ihre Rippen herhalten. Im Radio waren übrigens noch die «Ramseyers wey go grase» als Haupt- oder als Begleitmelodie eingesät, wenigstens dies!
Wo waren wir stecken geblieben? In der Bar warst du angelangt, nicht? Tangos spielte man weich in deine Tasten und Strauß, viel Strauß, hie und da ein Schubertwälzerchen, auch Schlager, «Avev‘una casetta piccolin‘in Canada», und in den Zwischensaisons, bei klirrender Kälte, drückten klamme Klavierschülerfinger unendlich langweilige Übungen in die Tasten und vielleicht eine Invenzione a due voci von Johan Sebastian, holperig und vollbespickt mit Hindernissen. Bitte entschuldige mich, das wird grauenhaft gewesen sein. Ach, du sagst es sei noch schlimmer geworden? Seit 30 Jahren wirklich nur noch Flohwalzer? Die Bar: zu einem Aufenthaltslokal verkommen, und du: immer noch da. Schreckliche Erinnerungen… Du bist mir dankbar, dass ich dich verrotten lasse, alte Kiste! Horch! Bald wirst du erlöst sein. Die Abfuhrleute kommen. – – –
«Guten Tag. Das ist also das Klavier, das wir zum Kehricht abholen sollen? Lass mich mal sehen»: Ti ti dong da ta, ti ti dong da…
«Halt! Sie haben kein Recht zu spielen… Ich habe die Abfuhrtaxe reglementsgemäß bezahlt. Ihre Aufgabe ist es das Klavier fachgerecht zu entsorgen. Wenn Sie spielen wollen, müssen Sie mir die Entsorgungstaxe rückerstatten und das Klavier abkaufen. Es ist sehr teuer, ich möchte Sie gewarnt haben!» ■
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Göri Klainguti
Geb. 1945 in Pontresina/Graubünden, Sekundarlehrer-Studium an der Universität Zürich, zahlreiche Lyrik- und Prosa-Publikationen in Anthologien und Zeitschriften, Träger des Schiller-Preises 2005, lebt als Landwirt (Mutterkühe, Ziegen und Pferde) in Samedan
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