Glarean Magazin

Das Zitat der Woche

Posted in Essays & Aufsätze, Günther Patzig, Kultur&Gesellschaft, Philosophie, Zitat der Woche by Walter Eigenmann on 16. März 2009

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Über die Emanzipation von Musik und Dichtung

Günther Patzig

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Es mag sein, daß Dichtung als gebundene Form der Rede ihren Ursprung in magischen Vorstellungen hatte, daß ohne ein Ritual eine Tradition poetischer Sprachgestaltung nicht hätte entstehen können: Das bedeutet nicht, daß Dichtung demgegenüber nicht ihr Eigenrecht und Eigengesetz haben und entwickeln könnte. Musik und Gesang mögen nach den verschiedenen Hypothesen ihren Ursprung in der rhythmischen Akzentuierung von Arbeitsvorgängen bei gemeinsamen Arbeiten des Stammes haben, oder sie mögen in biologischen Präformationen als Medium der sexuellen Annäherung, vergleichbar dem Balzverhalten anderer Gattungen von Lebewesen, begründet sein: Das ist zwar ein interessantes Faktum, wenn es eins ist, das nicht vergessen werden sollte, wenn man über Musik und Dichtung spricht; aber es kann nicht zur Definition dessen, was Musik ist und welchen Normen sie unterstellt ist, dienen.

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Günther Patzig (*1926)

Das Sachgebiet Dichtung und das Sachgebiet Musik haben sich von ihren gesellschaftlichen oder biologischen Entstehungsbedingungen längst emanzipiert. Auch die Wissenschaft, Natur- wie Geisteswissenschaften, muß sich in ihrer inneren Sachbestimmtheit von den »leitenden Interessen« distanzieren. Das wissenschaftliche Interesse ist verschieden vom gesellschaftlichen Interesse an der Wissenschaft, daher kann das gesellschaftliche Interesse weder zur Definition noch zum Kriterium der Objektivität der Wissenschaft herangezogen werden.
Wie ein Segelflugzeug auf die Motorwinde oder ein Schleppflugzeug angewiesen ist, um seinen Flug beginnen zu können, so ist die Wissenschaft auf gesellschaftliches Interesse angewiesen, um in Gang zu kommen. Hat sie aber erst einmal die Region erreicht, in der sie vom Aufwind des Wahrheitsstrebens erfaßt wird, so gehorcht sie, wie das Segelflugzeug, ihren eigenen Gesetzen.

Aus Günther Patzig, Erklären und Verstehen, Bemerkungen zum Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften, in Neue Rundschau 84/3 1973

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