Glarean Magazin

Hans-Joachim Hessler: «More Than 777 Years» (Piano solo)

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Stupendes Klavierklingen durch die Musikgeschichte

Dr. Barbara Dobretsberger

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Cover_More Than 777 Years777 – eine Zahl als Motto: In seiner neuen CD improvisiert und komponiert sich Hans-Joachim Heßler durch mehr als 777 Jahre Musikgeschichte. Was aber hat es mit der magischen Zahl auf sich? Da bietet sich ein reiches Konnotationsfeld an: eine heilige Zahl (Judentum, Christentum, Islam), die auf Weisheit, ein hohes Alter, den siebten Himmel oder auf die Zusammensetzung aus den gleichfalls magischen Zahlen 3 (z.B. Vollkommenheit, Dreieinigkeit) und 4 (z.B. vier Elemente, vier Himmelsrichtungen) hinweisen kann. Der Zusammenhang mit den eingespielten Stücken bleibt offen und soll es vielleicht sogar bleiben.
Zehn Stücke sind auf der CD versammelt – sie spannen einen Bogen quer durch die Jahrhunderte, und sie umschließen musikalische Ästhetiken vom Orient bis zum Okzident. Die letzte Nummer, «Southafrican Aura», dehnt den selbst gesteckten geografischen und musikalischen Rahmen aus.
Die Verschmelzung europäischer und orientalischer Einflüsse in der Musik ist ja keineswegs neu, und berechtigterweise könnte man sich fragen, was dem Repertoire hier noch hinzugefügt werden könnte. Mittelalterliche Musik, Janitscharenklänge und osteuropäische jüdische Volksmusik sind uns als Inspirationsquellen für die zeitgenössische Musik mittlerweile derart gut vertraut, dass deren Verwendung schon fast als Platitüde gelten könnte. Ein Generalverdacht? Mitnichten. Statt dessen fragen wir uns, was ein Komponist oder ein improvisierender Pianist mit diesem «Material» anstellen muss, damit wir aufhorchen und zum Hinlauschen bereit werden.
Er, der Pianist, muss die Fähigkeit mitbringen, unsere Aufmerksamkeit in den Bann zu schlagen. Und dieser Bann speist sich im Falle von Hans-Joachim Heßler aus zwei Komponenten. Zum einen ein stupender und höchst individueller Umgang mit dem Klavierklang: unglaublich direkt, fast rau geht Heßler mit dem Instrument um. Da wird nicht weichgezeichnet, nicht geschmeichelt, nicht um die Gunst des Publikums geworben. Vielmehr vermittelt diese Direktheit einen tiefen Ernst des musikalischen Anliegens, so als ob der Mann am Klavier uns einfach etwas Wahres erzählen möchte. Geschichten, die uns nicht ganz neu sind, Geschichten, denen wir als Zuhörer aber immer wieder von Neuem folgen und zustimmen.

Musik-Hans-Joachim-Hessler-Portrait

Hans-Joachim Heßler

Danse de la Renaissance eröffnet den Reigen der Improvisationen. Ausgangspunkt ist ein Lied des Renaissance-Komponisten Josquin Desprez mit dem sprechenden Titel «Mille Regretz» (Tausendfaches Bedauern). Dieses Lied wurde 100 Jahre nach seiner Entstehung vom spanischen Komponisten Luys de Narváez bearbeitet und als Canción del Emperador Kaiser Karl V. gewidmet. Heßlers Improvisation über die Komposition von Narváez wird so zur Musik über Musik über Musik, vielschichtig und vieldeutig.
In der Improvisation Sur une sonate de Domenico Scarlatti hören wir vertraute Klänge des Barock. Ganz allmählich verlässt Heßler die anfänglich fast bieder gestaltete Stilimprovisation, und wie er dann sukzessive die Harmonik der Klassik, der frühen und späten Romantik, des Impressionismus und letztendlich des Jazz aus den Klängen der «galanten» Sonate entwickelt, ist absolut faszinierend. Die Kugelgestalt der Zeit schließt sich um das Werk, indem Heßler den Hörer wieder in die Barockzeit zurückführt. Wollte man es banal ausdrücken, könnte man von einer Rahmenform sprechen; wagt man sich in die Zahlenmystik vor, könnte man die Zahl 777 als Ausdruck der Unendlichkeit für diese Improvisation als Motto erkennen.
Zeitlich am weitesten zurückliegend ist das musikalische Material des Danse médiévale. Allerdings scheint weniger die Anlehnung an einen mittelalterlichen Tanz im Zentrum zu stehen als die Hommage an Arvo Pärt und dessen Tintinnabuli-Stil. Das «Glöckchenspiel» (lateinisch Tintinnabulum) wurde zum nicht unumstrittenen Markenzeichen Pärts; Heßlers Improvisation bricht allerdings Pärts Ästhetik in wohltuender Weise auf. Danse médiévale kann auch als Zeugnis einer ununterbrochenen Fortsetzung der Beschäftigung Heßlers mit Pärt verstanden werden.
Mit Händel, Debussy und Bartók werden dezidiert europäische Komponisten als Mentoren für die Improvisationen genannt. Händels «Ohrwurm», die Sarabande aus der d-Moll-Suite HWV 437, erklingt auf der CD zuerst einmal unverändert, bevor sich Heßler in eine fast zehnminütige Improvisation, Danse espagnole, vertieft. In der Melodik und in der Rhythmik statisch, scheint diese Sarabande alle Möglichkeiten für weitschweifende Umspielungen zu geben. Dass Heßler aber im Verlauf seiner Improvisation immer wieder zur Urquelle, dem stilisierten spanischen Tanz, zurückblendet, verleiht dieser Nummer formal eine zugleich straffe wie auch extravagante Note. Das Ballet Debussy wählt eines der Préludes («Les collines d´Anacapri» – Die Hügel von Anacapri) von Debussy als musikalisches Ausgangsmaterial. Dass auch hier Heßler nicht in der Harmonik des Impressionismus verharrt, versteht sich von selbst. Das Ballet Bartók hält, was der Titel verspricht: Eine direkte Würdigung Bartóks, der sich als eifriger Sammler von Volksmelodien verschiedener Länder einen Namen machte. Die Rhythmen der Volkstänze Rumäniens, Bulgariens und des vorderen Orients klingen uns hier entgegen.
Im Danse turque und im Danse juive werden Themen aus türkischen bzw. osteuropäisch-jüdischen Volkstänzen aufgegriffen. Im Danse turque spielt Heßler nicht nur Klavier, sondern auch die Fußtrommel Cajón. Das Klangvolumen und die klangliche Vielfalt des Klaviers werden so immens erweitert.

Fazit-Rezensionen_Glarean Magazin

Pianist Hans-Joachim Hessler demonstriert mit seinem Streifzug durch die Musikgeschichte einen stupenden und höchst individuellen Umgang mit dem Klavierklang: unglaublich direkt, fast rau geht Heßler mit dem Instrument um. Da wird nicht weichgezeichnet, nicht geschmeichelt, nicht um die Gunst des Publikums geworben. Vielmehr vermittelt diese Direktheit einen tiefen Ernst des musikalischen Anliegens, so als ob der Mann am Klavier uns einfach etwas Wahres erzählen möchte.

Dass Heßler seine CD mit der Nummer Southafrican Aura abschließt, ist eine verbindende Geste in Richtung Südhalbkugel dieser einen Erde – offensichtlich sollen nicht nur Orient und Okzident musikalisch (und vielleicht auch anders) verbunden werden. Dass in diesem Schlussstück der südafrikanische Komponist und Pianist Abdullah Ibrahim (alias Dollar Brand) gefeiert wird, verrät das Booklet zur CD. Allerdings gilt auch hier wie für die anderen Stücke, dass fast zur Nebensache wird, woher das Ausgangsmaterial kommt, weil Heßler, wie es scheint, alles, was sich anbietet, mit der gleichen Ernsthaftigkeit und Liebe seinen musikalisch-improvisatorischen Betrachtungen zuführt. ■

Hans-Joachim Heßler: More Than 777 Years – Eine Improvisation über die Musikgeschichte, Piano solo, Audio-CD, Label NonEM Records

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Klangbeispiele

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Barbara Dobretsberger

Geb. 1967, Klavierpädagogik-, Musikwissenschafts- und Philologie-Studium in Salzburg, Promotion in Wien, zahlreiche fachwissenschaftliche und musikpädagogische Publikationen in Büchern und Zeitschriften sowie Veröffentlichungen über Zeitgenössische Musik und über die Beziehung zwischen Text/Literatur und Musik, lebt als Dozentin am Mozarteum in Salzburg

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Hans-Joachim Hessler: «Spiegel im Spiegel»

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Improvisatorische Musik: Erzählend, nachdenklich stimmend…

Dr. Barbara Dobretsberger

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Michael Ende, der Meistererzähler, brachte in seinem Prosaband «Der Spiegel im Spiegel» Szenerien zu Papier, die vordergründig Surrealistisches darstellen, hintergründig Weltverlorenheit zum Ausdruck bringen. «Ohne helfenden Hinweis» – so der Autor – wird der Leser mit dem offenen Schluss der Erzählungen allein gelassen. Vier Geschichten Endes wählt Hans-Joachim Heßler für seine programmatische Improvisation aus. Er überhöht die sprachliche Ebene, modelliert teils komponierte, teils improvisierte musikalische Szenen zu den skurrilen, bedrückenden, nachdenklich stimmenden poetischen Bildern Michael Endes.

Fasziniert vom Spiegel im Spiegel: Schriftsteller Michael Ende (1929-1995)

Ein Tänzer wartet hinter dem Vorhang auf seinen Auftritt, doch das «Schwere schwarze Tuch» – so der Titel der ersten Improvisation – will sich nicht heben. Der Tänzer geht seine Schritte immer und immer wieder in Gedanken durch. Die Musiker «tanzen» sich durch die Szene, umkreisen die einzelnen Figuren des nur imaginär stattfindenden Auftritts. Der Hörer wird in die beklemmende, zugleich aber auch kontemplative Szenerie eingesponnen. Matthias Schubert (Tenorsaxophon), Hans-Joachim Heßler  (Orgel, Klavier, Keyboards), Stefan Werni (Kontrabass, Elektronik) und Klaus Wallmeier (Schlagzeug, Stimme) entlassen weder sich noch den Hörer aus dem dicht gesponnenen Netz fatalistischer Tanzsequenzen.
Im «Schlittschuhläufer», einer 17 Minuten dauernden Improvisation, werden philosophische Fragen in Musik gesetzt: Ein Schlittschuhläufer «schreibt» mit seinen Schlittschuhen Buchstaben in den Himmel. Doch sein Publikum kann die Schrift nicht entziffern. Schließlich gehen die Leute nach Hause und vergessen den Vorfall. «Wer weiß, ob die Botschaft wirklich so wichtig war» – dies der programmatische Hinweis im Booklet. Hier fokussiert sich die Musik auf Fragen nach den Möglichkeiten einer Bedeutung, zunächst in einem ruhigen Umkreisen und Ausloten von Klangfarben und Motiven, nach und nach drängender werdend, und letztendlich, erwartungsgemäß, zu einem quasi achselzuckenden Ende geführt.

Komponist, Pianist und Improvisator Hans-Joachim Heßler: Zeugnis ablegend von den vielfältigen Möglichkeiten des «postmodernen» Komponierens

«Dieser Herr besteht nur aus Buchstaben»: Michael Ende beschreibt in dieser Geschichte einen Mann, der sich zwischen seinem eigenen Spiegelbild und seiner Freundin entscheiden muss. Der Herr zerfällt, die Leute trampeln über ihn hinweg. Kurios, surrealistisch auch die Musik (obige Formation ergänzt durch Sabine Hoffmann, Flöte), changierend zwischen verharmlosend Satirischem,  Klangballungen und lose Zerfallendem schließt sich der Kreis in der Wiederaufnahme einer salonhaften Attitüde am Schluss.
Eine ekstatische Klangwelt, die ganz allmählich zum Erlöschen und Verrauchen geführt wird, spiegelt sich in «Die Hochzeitsgäste waren tanzende Flammen» wider. Eine sich ganz allmählich aufbauende Traumwelt, in der aus einem Ostinato sukzessive Stimmungsbilder herauswachsen, wird in einem kontinuierlichen Prozess zum bruchstückhaften Schweigen gebracht.
Ideologien in Bezug auf eine «zeitgenössische» Klangsprache sind Heßler fremd. Seine Stilsouveränität  erlaubt es ihm, sich auf das Changieren zwischen Freitonalem und Tonalem, zwischen Komponiertem und Improvisiertem, zwischen Zitiertem und Originalem einzulassen. Als homme de lettre findet Heßler im französischen Philosophen J.-F.  Lyotard eine Inspirationsquelle: der Diskurs kann nur im Widerstreit (frz. différend) weitergetrieben werden: «Le Différend 17» und «Le Différend 21» (1997 entstanden) für Orchester legen hiervon musikalisches Zeugnis ab.

Ideologien in Bezug auf eine «zeitgenössische» Klangsprache sind dem Komponisten Hans Joachim Heßler fremd. Seine Stilsouveränität erlaubt es ihm, sich auf das Changieren zwischen Freitonalem und Tonalem, zwischen Komponiertem und Improvisiertem, zwischen Zitiertem und Originalem einzulassen. Dies dokumentiert der Komponist eindrücklich auch in seinen vier programmatischen Improvisationen «Spiegel im Spiegel»

Dass Ironie und Satire Heßler nicht fremd sind, wird in den programmatischen Improvisationen zu Michael Endes Texten deutlich. Ein Vorläufer der surrealistischen Ader Heßlers zeigt sich im Streichquartett «Tanz im Vogelkäfig», das mit Flamenco-Klängen folkloristische Allusionen zulässt. Das Orchesterstück «Nabuli Tintin» von 1999 verrät einiges über Heßlers stets auf der Suche befindliche und über eine große Bandbreite verfügende Komponistenseele. Als Hommage an Arvo Pärt, dessen Tintinnabuli-Stil (Glöckchenspiel-Stil) in den 1970er-Jahren aus der von ihm als zukunftslos empfundenen Moderne hinausführte und einen neuen kompositorischen Weg öffnete, legt «Nabuli Tintin» Zeugnis ab von den vielfältigen Möglichkeiten des «postmodernen» Komponierens. ■

Hans-Joachim Heßler: Spiegel im Spiegel – Eine programmatische Improvisation über vier Geschichten aus dem gleichnamigen Zyklus von Michael Ende, mit M. Schubert, St. Werni, K. Wallmeier, Eichendorff Quartett, Philharmonie Kronstadt, Audio-CD, Label United Dictions of Music UDM

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Barbara Dobretsberger

Geb. 1967, Klavierpädagogik-, Musikwissenschafts- und Philologie-Studium in Salzburg, Promotion in Wien, zahlreiche fachwissenschaftliche und musikpädagogische Publikationen in Büchern und Zeitschriften sowie Veröffentlichungen über Zeitgenössische Musik und über die Beziehung zwischen Text/Literatur und Musik, lebt als Dozentin am Mozarteum in Salzburg

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