Das Zitat der Woche
.
Vom Zauber der Poesie
Hugo von Hofmannsthal
.
Ich möchte, daß wir für einen Augenblick daran denken, wie verschieden das Lesen unserer Zeit von dem ist, wie frühere Zeiten gelesen haben. Um so ruheloser, zielloser, unvernünftiger das Lesen unserer Zeit ist, um so merkwürdiger scheint es mir. Wir sind unendlich weit entfernt von dem ruhigen Liebhaber der schönen Literatur, von dem Amateur einer populären Wissenschaft, von dem Romanleser, dem Memoirenleser einer früheren, ruhigeren Zeit. Gerade durch sein Fieberhaftes, durch seine Wahllosigkeit, durch das rastlose Wieder-aus-der-Hand-Legen der Bücher, durch das Wühlende, Suchende scheint mir das Lesen in unserer Epoche eine Lebenshandlung, eine des Beachtens werte Haltung, eine Geste.
Ich sehe beinahe als die Geste unserer Zeit den Menschen mit dem Buch in der Hand, wie der kniende Mensch mit gefalteten Händen die Geste einer anderen Zeit war. Natürlich denke ich nicht an die, die aus bestimmten Büchern etwas Bestimmtes lernen wollen. Ich rede von denen, die je nach der verschiedenen Stufe ihrer Kenntnisse ganz verschiedene Bücher lesen, ohne bestimmten Plan, unaufhörlich wechselnd, selten in einem Buch lang ausruhend, getrieben von einer unausgesetzten, nie recht gestillten Sehnsucht. Aber die Sehnsucht dieser, möchte es scheinen, geht durchaus nicht auf den Dichter. Es ist der Mann der Wissenschaft, der diese Sehnsucht zu stillen vermag, oder für neunzig auf hundert unter ihnen der Journalist. Sie lesen noch lieber Zeitungen als Bücher, und obwohl sie nicht bestimmt wissen, was sie suchen, so ist es doch sicherlich keineswegs Poesie, sondern es sind seichte, für den Moment beruhigende Aufschlüsse, es sind die Zusammenstellungen realer Fakten, es sind faßliche und zum Schein neue »Wahrheiten«, es ist die rohe Materie des Daseins. Ich sage dies so, wie wir es geläufig sagen und leichthin glauben; aber ich glaube, nein ich weiß, daß dies nur der Schein ist.Denn sie suchen mehr, sie suchen etwas anderes, diese Hunderttausende, in den Tausenden von Büchern, die sich von Hand zu Hand weitergeben, bis sie beschmutzt und zerlesen auseinanderfallen; sie suchen etwas anderes als die einzelnen Dinge, die in der Luft hängenden kurzatmigen Theorien, die ihnen ein Buch nach dem anderen darbietet: sie suchen, aber es ist ihnen keine Dialektik gegeben, subtil genug, um sich zu fragen und zu sagen, was sie suchen; keine Übersicht, keine Kraft der Zusammenfassung: das einzige, wodurch sie ausdrücken können, was in ihnen vorgeht, ist die stumme beredte Gebärde, mit der sie das aufgeschlagene Buch aus der Hand legen und ein neues aufschlagen. Und dies muß so weitergehen: denn sie suchen ja von Buch zu Buch, was der Inhalt keines ihrer tausend Bücher ihnen geben kann: sie suchen etwas, was zwischen den Inhalten aller einzelnen Bücher schwebt, was diese Inhalte in eins zu verknüpfen vermöchte. Sie schlingen die realste, die entseelteste aller Literaturen hinunter und suchen etwas höchst Seelenhaftes. Sie suchen immerfort etwas, was ihr Leben mit den Adern des großen Lebens verbände in einer zauberhaften Transfusion lebendigen Blutes. Sie suchen in den Büchern, was sie einst vor den rauchenden Altären suchten, einst in dämmernden von Sehnsucht nach oben gerissenen Kirchen. Sie suchen, was sie stärker als alles mit der Welt verknüpfe und zugleich den Druck der Welt mit eins von ihnen nehme. Sie suchen ein Ich, an dessen Brust gelehnt ihr Ich sich beruhige. Sie suchen, mit einem Wort, die ganze Bezauberung der Poesie. Aber es ist nicht ihre Sache, sich dessen Rechenschaft zu geben, noch auch ist es ihre Sache, zu wissen, daß es der Dichter ist, den sie hinter dem Tagesschriftsteller, hinter dem Journalisten suchen. Denn wo sie suchen, dort finden sie auch, und der Romanschreiber, der sie bezaubert, der Journalist, der ihnen das eigene Leben schmackhaft macht und die grellen Lichter des großen Lebens über den Weg wirft, den sie täglich früh und abends gehen – ich habe wirklich nicht den Mut und nicht den Wunsch, ihn von dem Dichter zu sondern. Ich weiß keinen Zeilenschreiber, den elendesten seines Metiers, auf dessen Produkte nicht, so unwürdig er dieses Lichtes sein mag, für ein völlig unverwöhntes Auge, für eine in der Trockenheit des harten Lebens erstickende Phantasie etwas vom Glanz der Dichterschaft fiele, einfach dadurch, daß er sich, und wäre es in der stümperhaftesten Weise, des wundervollsten Instrumentes bedient: einer lebendigen Sprache. Freilich, er erniedrigt sie wieder, er nimmt ihr soviel von ihrer Hoheit, ihrem Glanz, ihrem Leben, als er kann; aber er kann sie niemals so sehr erniedrigen, daß nicht die zerbrochenen Rhythmen, die Wortverbindungen, die seiner Feder, ihm zu Trotz, zur Verfügung stehen, die Bilder, die in seinem Geschreibe freilich das Prangerstehen lernen, noch da und dort in eine ganz junge, eine ganz rohe Seele wie Zauberstrahlen fallen könnten. ■
Aus Hugo von Hofmannsthal, Der Dichter und diese Zeit, Vortrag 1907
.
.
Der Salzburger «Jedermann» 2000 auf DVD
.
Unaufdringlich-zurückhaltende Inszenierung
Christian Schütte
.
Hugo von Hofmannsthals «Jedermann» gehört zu den Salzburger Festspielen wie kein zweites Stück. Seit der Gründung der Festspiele 1920 hat sich eine bedeutende Reihe an Regisseuren daran gemacht, den imposanten Eingangsbereich des Salzburger Doms zur Theaterbühne werden zu lassen, unzählige berühmte Schauspieler sind dort aufgetreten. Dieser Tage werden die Festspiele wie jedes Jahr mit der ersten Vorstellung des «Jedermann» eröffnet, erneut ist die Produktion von Christian Stückl zu sehen und Peter Simonischek ist in der Titelrolle in den letzten Jahren schon zu einer Salzburger Institution geworden.
Das Label Arthaus Musik hat vor kurzem nun einen Live-Mitschnitt der Aufführung aus dem Jahr 2000 veröffentlicht. Die Inszenierung stammte da von Gernot Friedel, Ulrich Tukur spielte den Jedermann. Die übrigen Rollen waren u.a. mit Otto Sander als Tod und Dörte Lyssewski als Buhlschaft besetzt.
Die Geschichte vom Jedermann, das «Spiel vom Sterben des reichen Mannes», wie es im Untertitel heißt, lebt in dieser Produktion vor allem durch die außergewöhnliche Präsenz von Ulrich Tukur, der die Rolle ganz verinnerlicht hat. Otto Sander ist in den kurzen Auftritten des Todes mit seiner markanten, rauchigen Stimme mehr als furchteinflößend. Nicht weniger eindrucksvoll ist Thomas Thieme als güldener Mammon. Dörte Lyssewski ist eine leichtlebige Buhlschaft, die ihren Jedermann wahrlich zu becircen weiß. Johannes Krisch als Jedermanns guter Gesell mahnt im Lauf des Spiels immer eindringlicher an Jedermanns Gewissen – bis er sich von ihm verabschiedet. Christine Ostermayer als Jedermanns Mutter ist sorgenvoll-mahnend um ihren Sohn bedacht. Das übrige Ensemble trägt nicht minder zur insgesamt überzeugenden schauspielerischen Seite dieser Produktion bei.
Ob die musikalischen Einlagen von Werner Preisegott Pirchner in dieser Form eine wirkliche Ergänzung zu den mittelalterlich-historischen, im besten Sinne traditionellen Kostümen – vor allem für die allegorischen Figuren – von Imre Vincze darstellen, ist sicher Geschmackssache. Abgesehen davon ist die Regie von Gernot Friedel aber angenehm unaufdringlich und zurückgenommen, ganz auf die Personen konzentriert. Die Personenregie wäre sicherlich durch sorgfältigere Kameraführung auch auf einer DVD markanter hervorzuheben. Fraglich ist, ob die gelegentlichen Einblendungen von Szenen hinter der Bühne, etwa während des musikalischen Vorspanns und nach dem Auftritt des Mammon, wirklich sein müssen, lenken sie doch unnötig vom Bühnengeschehen ab.
Die Menüführung auf dieser DVD ist klar und übersichtlich, als Bonus gibt es drei Trailer aus anderen Salzburger Produktionen: «Jedermann» von 1970, die Uraufführung von Thomas Bernhards «Der Ignorant und der Wahnsinnige» von 1972 und Franz Grillparzers «Die Jüdin von Toledo» aus dem Jahr 1990.
Salzburger Festspiele 2000 (Tukur / Lyssewski /Ostermeyer / Fritz Muliar / Sander u.v.a.): Hoffmannsthal, Jedermann, Arthaus-Musik, ASIN 3941311182
.
.
.
Gedicht des Tages
Ballade des äußeren Lebens
Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen,
die von nichts wissen, wachsen auf und sterben,
und alle Menschen gehen ihre Wege.
Und süße Früchte werden aus den herben
und fallen nachts wie tote Vögel nieder
und liegen wenig Tage und verderben.
Und immer weht der Wind, und immer wieder
vernehmen wir und reden viele Worte
und spüren Lust und Müdigkeit der Glieder.
Und Straßen laufen durch das Gras, und Orte
sind da und dort, voll Fackeln, Bäumen, Teichen,
und drohende, und totenhaft verdorrte…
Wozu sind diese aufgebaut? Und gleichen
einander nie? Und sind unzählig viele?
Was wechselt Lachen, Weinen und Erbleichen?
Was frommt das alles uns und diese Spiele,
die wir doch groß und ewig einsam sind
und wandernd nimmer suchen irgend Ziele?
Was frommt’s, dergleichen viel gesehen haben?
Und dennoch sagt der viel, der «Abend» sagt,
ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt
wie schwerer Honig aus den hohlen Waben.
Hugo von Hofmannsthal (1874-1929)
leave a comment