Glarean Magazin

Die historische Aufnahme: Rostropowitsch – Cello-Suiten von J.S. Bach

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Verliebt in Musik

Michael Magercord

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«Prager Frühling» ist alle Jahre, und verliebt sind im Mai an der Moldau so manche, aber nicht in jedem Jahr hinterlässt das größte mitteleuropäische Festival der klassischen Musik derart schöne musikalische Spuren des Frühlingsgefühls wie diese Einspielung aller sechs Cello-Suiten von Bach durch den damals frisch verliebten Musiker Mstislaw L. Rostropowitsch.
Tief ins Archiv des Tschechischen Rundfunks musste gegriffen werden, um die Aufnahmen der beiden Aufführungen vom 26. und 27. Mai des Jahres 1955 herauszufischen, die sich nun auf dieser Doppel-CD befinden. Der damals 24-jährige russische Cellist hatte sich zuvor bereits auf dem Konservatorium in Moskau nicht zuletzt durch seine Interpretation dieser Cello-Suiten einen Namen gemacht. Viele Cellisten trauen sich eigentlich erst auf der Höhe ihrer Spielkunst an Bachs Meisterwerke. Lange Zeit galten sie gar als unspielbar, erst als Robert Schumann eine Klavierbegleitung hinzufügte und die Cellosätze dafür etwas vereinfachte, wurden sie wieder öfter gespielt. Der Cellist Pablo Casal war es, der sie schließlich Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts als erster komplett und solo aufführte.

Einst als unspielbar eingestuft: Bach-Autograph der 6. Cello-Suite

Heute wiederum hat eigentlich jeder Cellist von Rang die Suiten aufgeführt oder gar eingespielt, Mstislaw Rostropowitsch sogar mehrfach. Legendär ist sein spontanes Konzert im November 1989 vor der politisch zwar schon gefallenen, aber noch bestehenden Berliner Mauer nahe des Checkpoint Charlie, und ebenso jene als DVD erhältliche Einspielung in der Basilika Sankt Madeleine der burgundischen Abtei Vézelay 1991. Und immer wieder hat der 2007 verstorbene Musiker dabei seine zuvor gemachte Einspielung als fehlerhaft kritisiert.
Davon wird auch diese nun vorliegende Aufnahme aus den jungen Jahren wohl nicht ausgespart geblieben sein, wenngleich nicht überliefert ist, was genau ihm daran nicht gefallen hat. Da lässt sich also wunderbar spekulieren, denn vielleicht könnte es die jugendliche Art des Herangehens an die Stücke gewesen sein, die sein Missfallen in den reifen Jahren gefunden haben mag. Und vielleicht war ja die etwas ungestüme Ausführung eben seiner Verliebtheit geschuldet, die ihn in den Tagen in Prag überkam. Dort hatte er nämlich die russische Sängerin Galina Wischnewskaja, die ebenfalls auf dem «Prager Frühling» konzertierte, kennengelernt. Es muss heftig gefunkt haben, denn nur vier Tage nach der Rückkehr nach Moskau verehelichten sich beide miteinander. Es heißt, Rostropowitsch hätte nicht einmal die Gelegenheit gehabt, seine zukünftige Frau vor der Ehe singen gehört zu haben.

Diese bereits über 55 Jahre zurückliegende Aufführung der Cello-Suiten von Johann Sebastian Bach durch Mstislaw Rostropowitsch taugen ihrer ungewöhnlich gestümen, aber nie ungestümen Ausführung wegen sowohl als Referenzaufnahme als auch zum Hörgenuss für den Liebhaber einzigartiger Musik.

Soll man also sagen, in dieser Ausführung der Bachschen Meisterwerke steckt noch nicht die tiefe reife Liebe, dafür aber eine umso stürmische Verliebtheit? Es handelt sich jedenfalls um eine der kürzesten also auch schnellsten Einspielungen der Cello-Suiten, die dabei trotzdem nichts an Präzision zu wünschen übrig lassen. Einzig der schwersten, nämlich der fünften Suite meint man anzumerken, dass der später so souveräne Cellist noch nicht ganz auf der Höhe seines Könnens angelangt war. Diese Suite erfordert eine besondere Spieltechnik auf den heutigen 4-saitigen Instrumenten, waren doch zu Bachs Zeiten Cellos noch meist 5-saitig. Es mag die Hemmnis vor den technischen Schwierigkeiten sein, die dazu führt, dass diese Suite in dieser Aufnahme um etliches länger dauert, als in den Aufnahmen des reiferen Instrumentalisten oder auch jenen anderer Cellisten. Doch schon in der anschließenden, lange Zeit als völlig unspielbar geltenden sechsten Suite kann man wieder dieselbe Spielfreude der vier vorherigen vernehmen.
Diese Aufnahmen können wohl getrost in die Reihe der Referenzaufnahmen der Cello-Suiten von Bach aufgenommen werden, und zugleich sind sie ein Hörgenuss für Liebhaber großartiger Musik. Und dass hier alles noch Mono abgespielt wird, dürfte bei einem Einzelinstrument wahrlich kein sonderlichen Nachteil darstellen. Nicht einmal der miteingespielte Applaus am Ende der jeweiligen Suiten stört das Hören, denn er zeigt noch eine weitere angenehme Seite jener Zeit: Damals schien das Publikum erwachsen und von reifer Liebe zur Musik beseelt, jedenfalls applaudiert es reichlich, aber nicht mit dem unreifen Überschwang, wie man ihn in den Konzertsälen heutzutage allzu oft ertragen muss, und der am Schluss eines Werkes kaum mehr Raum lässt für eine kurze nachdrückliche innere Rückschau auf das zuvor Gehörte und die würde vielleicht eine wirklich gereifte Liebe zur Musik erst ermöglichen… ▀

Johann Sebastian Bach: Cello Suites BWV 1007-1012, Mstislaw Rostropowitsch (Live-Aufnahme 1955, Rudolfinum Prag), Doppel-CD, Supraphon 2011

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Johann Sebastian Bach: «Markus-Passion»

Posted in CD-Rezension, Jan Bechtel, Johann Sebastian Bach, Musik, Musik-Rezensionen, Rezensionen by Walter Eigenmann on 24. August 2010

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Großartige Einspielung eines unbekannten Bachs

Jan Bechtel

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Johann Sebastian Bachs Markus-Passion (BWV 247) zählt zu den eher unbekannteren Werken des großen Barock-Genies. Behandelt wird das Leiden und Sterben Christi, so wie es das Markus-Evangelium erzählt. Das Werk erklang erstmals am 23. März 1731, einem Karfreitag. Die Markus-Passion steht im Schatten der beiden großen Passionen nach Matthäus und Johannes, die zu den bekanntesten und auch meistgespielten Werken des Komponisten zählen.
Bachs originale Partitur des Werks ist verschollen. Der vorliegenden Aufnahme liegt eine Neufassung der Rekonstruktion Diethard Hellmanns durch Andreas Glöckner aus dem Jahr 2001 zugrunde, erschienen im Stuttgarter Carus-Verlag. Des weiteren wurde eine Sammlung 4-stimmiger Choräle herangezogen, die von dem Bach-Schüler Johann Ludwig Dietel stammt. Dieser hatte seine Sammlung wohl für Bach persönlich 1735 anfertigen lassen. Dietel verwendete dabei hauptsächlich Originalquellen aus Bachs Privatbibliothek, worunter sich auch das Partitur-Autograph der Markus-Passion befunden haben dürfte. Dietels Abschrift gilt somit als die einzige erhaltene Sekundärquelle des Werks. Die restlichen Choräle konnten aus Choralsammlungen wiedergewonnen werden, die der Bach-Sohn Carl Philip Emmanuel in den Jahren 1784-1787 edierte. Allerdings sind die Choräle in diesen Sammlungen in leicht veränderter Form abgedruckt (häufig transponiert und in anderer Leseart).

Der junge Bach (Gemälde von J. E. Rentsch, 1715)

Obwohl man in den letzten Jahren einige Erkenntnisse über diese Passionsmusik Johann Sebastian Bachs gewinnen konnte, so liegt doch auch noch einiges im Dunkel der Musikgeschichte. Auch der vorliegenden Einspielung kann es aufgrund des derzeitig immer noch lückenhaften Standes der entspr. Bach-Forschung nicht gelingen, ein wirkliches Abbild der von Bach erdachten Passionsmusik zu sein. Die Einspielung ist aber dennoch eine beeindruckende Darstellung einer mutmaßlichen «Originalfassung». In der Zusammenstellung der einzelnen Nummern wirkt sie schlüssig, und man kann die Leidensgeschichte nachvollziehen, so wie sie der Text des zugrunde liegenden Evangeliums schildert.
Die musikalische Grundhaltung dieser Passion ist – naturgemäß – eher schlicht gehalten, wobei aber durchaus immer wieder eine gewisse Bestimmtheit und Feierlichkeit mitschwingt. Bach zeigt sich hier nicht weniger inspiriert als in seinen anderen Passionsmusiken. Lediglich die Laufzeit der Markuspassion ist deutlich kürzer als die der berühmten Werke nach Johannes und Matthäus, die ja mehrere Stunden lang sind. Jedenfalls ist die Markus-Passion ein zu Unrecht bisher eher vernachlässigtes Werk Bachs, da sie viele große Momente hat und durchaus an die großen Werke aus Bachs Feder anknüpfen kann. Sie teilt ein wenig das Schicksal mit anderen Passionsmusiken, etwa der Brockes-Passion Händels, die – trotz ihrer großartigen Erhabenheit, längst nicht die Popularität genießt, die ihrer würdig wäre.

Bei der Aufnahme-Arbeit in der Frauenkirche Dresden

Zu den Interpreten, beginnend beim Erzähler: Dieser wird von Dominique Horwitz gegeben, der sich einen Namen als Schauspieler gemacht hat und den Text mit einer derartigen Hingabe und Bestimmtheit deutet, dass eine geradezu unheimliche Präsenz erzeugt wird. Es wird deutlich, schön akzentuiert gelesen, der Text wirkt bei ihm spannend, und seine die flexible Art Horwitz’, auf den Text einzugehen, und wie er während des Lesens verschiedene Stimmschattierungen für den Vortag des Textes einsetzt, ist schlichtweg beeindruckend.
Das Orchester der vorliegenden Einspielung ist die Kölner Akademie, die unter der Leitung von Michael Alexander Willens musiziert. Dabei bieten Dirigent und Musiker eine Interpretation voller Herzblut an. Die Tempi sind durchdacht gewählt, Monotonie kann zu keinem Zeitpunkt aufkommen. Mit viel Liebe zum Detail werden die einzelnen Stimmen sauber heraus gearbeitet, unbesehen ob Tuttipassagen oder solistische Momente. Die Kölner Akademie, eines der zahlreichen Originalklangensembles, die sich nach Aufkommen dieses Interpretationsansatzes gegründet haben, realisiert den Willen des Dirigenten souverän, ihr Klang ist sehr angenehm, ja vermittelt Wärme und verleiht dieser Passionsmusik die Würde, die ihr gebührt.

Der Chor der vorliegenden Einspielung ist das mittlerweile weltberühmte Ensemble «Amarcord», das aus ehemaligen Mitgliedern des Leipziger Thomanerchores besteht und 1992 gegründet wurde. Das zum Einsatz kommende Vokalquartett setzt sich aus Wolfram und Martin Lattke (Tenor) sowie Daniel Knauft und Holger Krause (Bass). Diese rein männliche Besetzung wird durch Sängerinnen ergänzt, die für diese Einspielung einen Gastauftritt bestritten; namentlich sind dies die Sopranistinnen Anja Zügner und Dorothea Wagner sowie die Altistinnen Clare Watkinson und Silvia Janak.
Allesamt haben sie bereits Erfahrung im Bereich der «Alten Musik» sammeln können. Die sängerische Leistung bei den Chorälen ebenso wie bei den Arien ist durchweg als hervorragend zu bezeichnen; Die Choräle werden wundervoll ausgesungen und durchgestaltet und wirken dabei sehr frisch und lebendig. Die Tempi sind eher gemäßigt, was den Chorälen eine ebenso nachdenkliche wie feierliche Note verleiht. Auch die Arien der Passion werden sehr eindringlich und ausdrucksstark gestaltet, wobei die Verständlichkeit des Gesanges ein großes Plus dieser Aufnahme ist.

Der Carus-Verlag realisiert hier eine großartige Einspielung der Bachschen Markus-Passion durch die Kölner Akademie und das berühmte Amarcord-Vokalensemble. Hervorzuheben sind ein feierliches, würdevolles Musizieren mit eher mäßigen Tempi sowie eine außerordentlich hohe Textverständlichkeit.

Unter dem Strich resultierte hier wirklich eine großartige Einspielung der Markus-Passion, die als Co-Produktion des Carus-Verlags mit der Stiftung Frauenkirche Dresden realisiert wurde, und die ich persönlich für die zurzeit beste Einspielung des Werks aus jüngerer Zeit halte. Ein instruktives CD-Booklet, das zahlreiche Erläuterungen zum Rekonstruktionsversuch wie zu den einzelnen Interpreten enthält, rundet den hervorragenden Gesamteindruck ab. ■

Johann Sebastian Bach, Markus-Passion BWV 247, Kölner Akademie (Michael Alexander Willens), Ensemble Amarcord, Anja Zügner / Dorothea Wagner (Sopran), Clare Watkinson / Silvia Janak (Alt), Dominique Horwitz, CD Carus-Verlag (Aufnahme in der Dresdner Frauenkirche)

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Hörproben

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Monteverdi Choir: «Eternal Fire – Bach-Choruses»

Posted in CD-Rezension, Johann Sebastian Bach, Musik, Musik-Rezensionen, Rezensionen, Walter Eigenmann by Walter Eigenmann on 16. Juli 2010

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Bachs Kantaten-Kosmos chormusikalisch ausgelotet

Walter Eigenmann

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Über das in der europäischen Musikgeschichte schier singuläre Phänomen der Bach-Kantate sind in den letzten 250 Jahren bekanntlich ganze Bibliotheken geschrieben worden. Denn das anfänglich monatliche, dann wöchentliche, zu guter Letzt weit über 200 Werke umfassende und das gesamte sonntägliche Kirchenjahr mehrfach umspannende geistliche Kantaten-Komponieren des Johann Sebastian Bach zu Arnstadt (ab 1703), Weimar (ab 1708), Köthen (ab 1717) oder Leipzig (ab 1723) fokussiert einzigartig das philosophische Panorama, das theologische Spektrum, die musikstilistische Vielfalt, die emotionale Spannweite und die kompositionstechnische Meisterschaft dieses größten der Barock-Genies. Und im Zentrum eben dieses Kosmos’, als der eigentliche Träger der kompositorischen – weltlichen wie geistlichen – «Botschaften» aufgrund einer Vielzahl von Texten unterschiedlichster Quellen, aber auch als die vielleicht konzentrierteste Manifestierung des Bachschen Schaffens überhaupt, steht der Chor.

Einer der besten Konzert-Chöre der Welt: Sir John E. Gardiners Monteverdi-Choir

Umso verwunderlicher denn, dass die aktuelle, im Internet recherchierbare riesige Bach-Diskografie meines momentanen Wissens kaum CD-Titel enthält, die das Kantaten-Chorschaffen Bachs dezidiert in den Mittelpunkt hebt; neben einer mittlerweile unübersehbaren Fülle von Einzel- (sprich «Highlights»-) oder aber Gesamtaufnahmen existieren kaum Produktionen mit rein chorischen Kantaten-Auskoppelungen (geschweige denn mit thematisch begründeten Exzerpten).
Doch zumindest auf dem Gebiete der Geistlichen Kantate wird das nun, und zwar erfreulicherweise prominent und deshalb hoffentlich publikumswirksam, geändert durch ein Recording des berühmten Monteverdi-Chores und der («historisch» musizierenden) English Baroque Solists unter John Eliot Gardiner mit dem Titel «Eternal Fire – Bach: Great Cantata Choruses».

Dirigent Gardiner bei einer seiner «Pilgrimage»-Proben (Bild-Klick = 6-teilige Video-Reportage auf Youtube)

Musikalische Basis dieser CD-Produktion ist die legendäre «Bach Cantata Pilgrimage». Im Bach-Jubiläumsjahr 2000 initiierte damals Dirigent Gardiner mit seinem Monteverdi-Chor ein bisher noch nicht gesehenes, rund 13 Millionen Euro schweres Mammut-Konzertprojekt: ein ganzes Jahr lang führte der wandernde Musiker-Tross jede Woche in wechselnden Städten Europas und in Übersee sämtliche geistlichen Bach-Kantaten auf, beginnend am 23. Dezember 1999 in der Weimarer Herder Kirche und endend an Silvester 2000 in der New Yorker St. Bartholomew’s Church.
Diese einzigartige Tournee (natürlich u.a. zu den verschiedenen orginalen Wirkungsstätten Bachs) warf damals spektakuläre Wellen in der gesamten Musik-Presse, führte zu gleichbleibend hochkarätigen Konzerten, ließ die beteiligten Musiker verschiedene internationale Preise einheimsen – und resultierte nicht weniger als 27 (teils doppelseitige) CD-Produktionen im eigens dafür gegründeten Label «Soli Deo Gloria / SDG».

Chor-Behandlung auf einsam hohem Niveau: Autographisches Fragment der Kantate «Weinen, Klagen, Sorgen Zagen» (BWV 12)

«Eternal Fire» ist nun quasi ein Chor-Konzentrat dieser «Pilgrimage» mit 14 bekannten (zumeist aber weniger bekannten) geistlichen Kantaten-Chören vorwiegend aus der (biographisch sehr schwierigen) Leipziger Zeit Bachs stammend. Sie dokumentieren sowohl in musikalischer wie textlich-exegetischer Hinsicht eine Bachsche Chorbehandlung auf einsam hohem Niveau, mit einem völlig einzigartigen Reichtum an schöpferischen Stellungnahmen bzw. deren kompositorischen Umsetzungen durch Bach. (Über die Position gerade dieser 14 gewählten Chöre innerhalb des Bachschen Kantaten-Werkes orientiert den CD-Hörer übrigens ein sehr kompetent verfasster Booklet-Text des englischen Musikwissenschaftlers J. Freeman-Attwood). Jedenfalls lassen nur schon diese «Great Cantata Choruses» auf «Eternal Fire» die Begeisterung des Dirigenten und Bach-Forschers Gardiner nachvollziehen, der in einem Interview meinte: «Außer Bach gäbe es keinen Komponisten, mit dem ich mich ein ganzes Jahr beschäftigen könnte. Bach ist so vielfältig, so fantasievoll – sein Schatten ist lang. Er inspirierte Musiker von Mozart über Mendelssohn bis Strawinsky oder Jazzer wie Jacques Loussier. Er ist universal, deswegen glaube ich: Bach ist der Komponist der Zukunft».

«Deutlicher Unterricht vom Gottes=Dienst in Leipzig»: Der Leipziger «Kirchenstaat» von 1710 (links die Nicolai-Kirche)

Eine regelrechte Potenzierung dieser (gerade bei Gardiner intellektuell wohlbegründeten) Bach-Schwärmerei des berühmten Dirigenten ist dann erwartungsgemäß im Musizieren seines Monteverdi-Chores und der Instrumentalisten dokumentiert. Natürlich konzertiert ein weltweit wohl einzigartiges Chorensemble wie der «Monteverdi» auch auf dieser CD sowohl rhythmisch wie intonationstechnisch makellos, registerklanglich hervorragend balanciert, mit präzisester Artikulation und übrigens einer – für vorwiegend englischsprachige Sänger keineswegs selbstverständlichen – klaren deutschsprachlichen Diktion. Und selbstverständlich singt dieses Ensemble mit einem strahlend-reinen Fortissimo oder einem tragend-runden Pianissimo im Verbund mit einer buchstäblich alle Chor-Register ziehenden Expressivität der kompositorisch intendierten Wortdeutungen. Der Chorgesang dieser vielfach preisgekrönten Formation – unterstützt durch ein sehr agiles, entweder sensibel grundierendes oder dann instrumentalsolistisch brillant agierendes Orchester – ist einfach beeindruckend, und das Urteil von «Le Monde» ist keineswegs übertrieben: «If there were a Nobel Prize for choirs, the Monteverdi Choir should be its laureate».

Bachs Aufführungs- und Besetzungs-Kalender zu Weihnachten / Neujahr 1723/24 (Quelle: Wolff/Koopman, Die Welt der Bach-Kantaten / Bd.3)

Doch im Musizieren dieses Terzettes Gardiner-«Monteverdi»-«BaroqueSolists» ist, jenseits aller technischen Perfektion, noch eine weitere Dimension spürbar, die man – vielleicht euphorisch – als Bach-Weisheit bezeichnen kann. In zahlreichen Après-Concert-Statements von an der «Pilgrimage» beteiligten Choristen und Instrumentalisten klingt es ähnlich an wie in jenem des Trompeters Michael Harrison, der nach diesem Bach-Pilgerjahr bekannte (Zitat): «Vor meiner Teilnahme an der Cantata Pilgrimage konnte ich mit den Kantaten nicht so richtig ‘warm’ werden: sie erschienen mir immer etwas undurchdringlich und unnahbar. Doch mit der Zeit entstand eine zunehmende Vertrautheit mit der musikalischen und spirituellen Sprache der Werke, es fühlte sich an wie eine ‘Magic-Eye-Erfahrung’ für Ohren. In dem Maße, wie diese Stücke begannen, Besitz von mir zu ergreifen, wuchs auch meine Aufnahmefähigkeit für die von ihnen transportierte einzigartige Botschaft. Mein Damaskuserlebnis hatte ich wohl zur Mitte des Projekts während des Konzerts in Iona am 28. Juli, dem zweihundertundfünfzigsten Todestags Bachs. Während der Aufführung von Kantate 131 (‘Aus der Tiefen’) bemerkte ich, wie Tränen auf meiner Konzertkleidung landeten. Es war mein persönliches Epiphanias, ich hatte den Code dieser wunderbaren Musik geknackt.»

Und genau so, mit diesem schwer beschreibbaren Untergrund des Wissens um die geistigen (und keineswegs nur geistlichen) Fundamente dieser Kantaten, «kommt» das Musizieren des Chores «rüber». Das könnte man umfangreich en détail untermauern: Das prunkhafte-vollstimmige Frohlocken zusammen mit einem blechüberstrahlten Orchestertutti im eröffnenden «O ewiges Feuer…»; das abgründig-sekundschrittige Klagen im Kontrast zum hoffnungsvoll-daktylischen Drängen beim «Ihr werdet weinen…»; die wundervoll ausgesungene Kontrapunktik im lutherischen «Eine feste Burg…»; Bachs unnachahmliche, vom Chor äußerst dicht-beklemmend intonierte Chor-Dramatik im «Nimm von uns, Herr…»; dann wieder die anfängliche rhythmische und harmonische Simplizität im «Brich dem Hungrigen dein Brot» mit seiner sprunghaften, dem Wort genau angepassten, stetigen Komplizierung der Geflechte; das berühmte «Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen» mit einem unglaublich intensiv «mitfühlenden» Chorgesang, wie man ihn nur selten beim BWV 12 in solcher Ausdruckspräsenz hört; darauf folgend die filigran durchgehörte, mit virtuoser Leichtigkeit erreichte Transparenz der polyphon auftrumpfenden Chöre «Es ist ein trotzig und verzagt Ding» und «Es erhub sich ein Streit» – doch genug der Stichworte zu diesen 14 an interpretatorischen Glanzlichtern überreichen Wiedergaben.

«Eternal Fire» mit Gardiners «Monteverdi»-Sängerschaft hat Referenz-Charakter in Sachen Bach-Chöre, trotz hervorragender Einspielungen anderer Ensembles. Diesen Aufnahmen merkt man die buchstäblich jahrelange Beschäftigung aller Interpreten mit der Materie Bach in jedem Takt an – eine schlicht begeisternde CD, und die würdevolle Apotheose einer einzigartigen «Pilgerreise».

Kurzum: «Eternal Fire» mit Gardiners «Monteverdi»-Sängerschaft hat Referenz-Charakter in Sachen Bach-Chöre, trotz hervorragender Einspielungen anderer Ensembles. Diesen Aufnahmen merkt man die buchstäblich jahrelange Beschäftigung aller Interpreten mit der Materie Bach in jedem Takt an – eine schlicht begeisternde CD, und die würdevolle Apotheose einer einzigartigen «Pilgerreise». ■

Monteverdi Choir, English Baroque Solists, Sir John E. Gardiner: Eternal Fire – Johann Sebastian Bach, Great Cantata Choruses, Audio-CD, Label «Soli Deo Gloria» 177

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Hörproben

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Johann Sebastian Bach: «Brandenburgische Konzerte»

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Kühl-distanzierte Makellosigkeit

Christian Schütte

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Kaum mehr zu überblicken ist die Fülle der Einspielungen der Brandenburgischen Konzerte Johann Sebastian Bachs. Riccardo Chailly hat sich mit seinem Leipziger Gewandhausorchester eine Reihe von Neueinspielungen prominenter Werke Bachs vorgenommen, eine Matthäus-Passion ist bereits veröffentlicht, ein Weihnachtsoratorium folgt.
Dass gerade dieses Orchester den wohl bedeutendsten Komponisten in der Geschichte seiner Stadt immer wieder besonders in den Fokus der künstlerischen Arbeit nimmt, scheint wie selbstverständlich. Dennoch müssen die Musiker und ihr Dirigent sich in einem schier endlos gesättigten Markt an Einspielungen behaupten.

Titelblatt der «Six Concerts Avec plusieurs Instruments» mit Widmung an den Brandenburgischen Markgrafen

Die Gruppe von sechs Konzerten BWV 1046-1051 ist ein Werkkorpus von Kompositionen unterschiedlichster Besetzung und Stilistik. Bach stellte die Sammlung 1721 zusammen und widmete sie dem Markgrafen Christian Ludwig von Brandenburg-Schwedt. Die Entstehungszeit der einzelnen Werke geht mit hoher Wahrscheinlichkeit schon auf Bachs Jahre in Weimar und Köthen zurück. Der heute wie selbstverständlich gebrauchte Titel «Brandenburgische Konzerte» stammt keinesfalls von Bach selbst, vielmehr führte der Bach-Biograph Philipp Spitta den Begriff in seiner Biographie, entstanden in den Jahren 1873 bis 1879, ein. Der Originaltitel lautet  «Six Concerts Avec plusieurs Instruments». Dieser Originaltitel verrät ein entscheidendes Merkmal: die von Konzert zu Konzert wechselnden Besetzungen jeweils unterschiedlicher solistischer Instrumente. Das Gewandhausorchester kommt also nicht durchgängig als geschlossener Klangkörper zum Einsatz. Die Besetzung ist ohne weiteres auf ein Kammerensemble reduzierbar, weswegen Aufführungen oftmals auch ganz ohne Dirigent auskommen.

Gilt als das älteste bürgerliche Konzertorchester im deutschen Raum: Das Gewandhausorchester Leipzig

Insgesamt ist hier eine Aufnahme von höchstem Niveau gelungen. Angefangen bei einer makellosen Tonqualität, zeigen sich vor allem die Musiker des Gewandhausorchesters den Anforderungen spieltechnisch und stilistisch bestens gewachsen. Die Aufnahme zeigt vor allem eins: Riccardo Chailly und seine Musiker streben nicht nach einem möglichst «barocken» Klang, eilen nicht einem Klangideal hinterher, das die Gepflogenheiten der Entstehungszeit der Werke möglichst treffsicher zu imitieren versucht. Das brauchen so versierte Künstler wie die Mitglieder des Gewandhausorchesters offensichtlich auch nicht, um zu einer überzeugenden klanglichen Umsetzung der sechs Konzerte zu kommen.

Die Einspielung wirkt streckenweise doch recht kühl und glatt, mitunter etwas blutleer – es gibt emotionalere Dirigate. Doch musiziert wird technisch in makelloser Perfektion –  insgesamt eine Aufnahme von hohem Niveau.

Einzelne Momente als besonders gelungen oder kritisierbar aus dieser Aufnahme herauszupicken ist müßig, zu hören ist durchweg ein angemessenes Ergebnis. Doch bei aller archaischen Strenge, die Bach bereits in seine Partituren gelegt hat, wirkt die Einspielung streckenweise doch recht kühl und glatt. Die technische Perfektion vermag das einerseits auszugleichen, andererseits klingt Bach hier mitunter so blutleer, dass sofort Gedanken an im Detail vielleicht weniger ausgefeilte, aber doch emotionalere, packender Interpretationen wach werden lässt.

Der letzte Eindruck bleibt also etwas zwiespältig. Es spricht nichts gegen die Aufnahme und sie sei jedem, der sich erstmals mit den Brandenburgischen Konzerten befassen will, durchaus empfohlen. Wer die Stücke gut kennt, wünscht sich an der einen oder anderen Stelle sicher etwas mehr Inspiration, und ihnen sei ans Herz gelegt, die Aufnahmen der anderen prominenten Werke Bachs, die Chailly mit dem Gewandhausorchester bereits bei Decca veröffentlicht hat oder das plant, daraufhin ganz besonders sorgfältig zu hören. ■

Johann Sebastian Bach, Brandenburgische Konzerte, Gewandhausorchester Leipzig, Riccardo Chailly, Decca Classics

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Hörproben

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Musik für Viola mit Nils Mönkemeyer

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Hochklassig musiziertes Bratschen-Album

Christian Schütte

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Nils Moenkemeyer_Sony_Bratsche_CDImmer wieder neu aufgehende Stars und Sternchen sind am Himmel der internationalen Geigenszene beinahe schon zum täglichen Geschäft geworden. Bei Bratschern sieht das ganz anders aus, was zum einen eher pragmatisch daran liegt, dass es einfach nicht so viel Sololiteratur für dieses Instrument gibt. Zum anderen wird sich die Bratsche wohl niemals in ihrem Prestige und Ansehen aus dem Schatten der Geige befreien können. Ein junger Musiker, der diesen Weg seit einiger Zeit erfolgreich beschreitet, ist Nils Mönkemeyer. Gerade hat der 31-jährige bei Sony sein neues Album, begleitet von den Dresdner Kapellsolisten unter der Leitung von Helmut Branny, herausgebracht.

Das Programm lädt nur schon beim Lesen zum Hinhören ein. Zwei Viola-Konzerte heute nahezu in Vergessenheit geratener Komponisten bilden den Rahmen, das G-Dur-Konzert von Antonio Rosetti und das D-Dur-Konzert von Franz Anton Hoffmeister. Dazwischen hat Mönkemeyer eigene Bearbeitungen für sein Instrument von Arien und Chorsätzen aus verschiedenen Kantaten Johann Sebastian Bachs eingespielt.

Hoffmeister_Viola Konzert

Von Haydn und Mozart geprägt: Franz Anton Hoffmeisters Bratschen-Konzert (Beginn des Solo-Parts)

Franz Anton Hoffmeister lebte zur gleichen Zeit (1754 bis 1812); geboren in Rottenburg am Neckar, zog es ihn später nach Wien. Dort betätigte er sich nicht nur als Komponist, sondern auch als Musikverleger und gab als solcher Werke Mozarts und Haydns, die er beide persönlich kannte, heraus. Stilistisch ist er noch hörbarer als Rosetti von den beiden großen Vorbildern seiner Zeit geprägt. In Ermangelung entsprechender Werke in dieser Epoche ist das D-Dur-Konzert zum Pflichtstück für Vorspiele um Viola-Stellen in Berufsorchestern geworden und hat somit den Status eines Standardwerkes bekommen. Durchaus zurecht, bietet es dem Solisten vielfältige Möglichkeiten, die Viola in einer großen Bandbreite an Facetten zu zeigen – sowohl als virtuoses, dynamisches Instrument wie auch als lyrisch-kantables. Mönkemeyer lässt sich auch diese Gelegenheit nicht entgehen und stellt sein großes Können eindrucksvoll unter Beweis. Sehr transparent und präsent begleiten ihn die Dresdner Kapellsolisten unter Helmut Branny, der großen Wert darauf legt, auch in der Begleitung einzelne Instrumentalstimmen klar herauszustellen und keinen typischen Orchesterklang zu erzeugen.
Gleiches gilt auch für die Bearbeitungen der Bach-Kantaten. Die Auswahl der Stücke wirft allerdings Fragen auf. Der Eingangschor aus BWV 207a «Auf, schmetternde Töne der muntern Trompeten» ist ein durchaus imposantes Stück, im Orchester von Trompeten begleitet. Diese Üppigkeit und Brillianz des Originals – es ist ein Huldigungschor an den Sächsischen Kurfürsten – geht in der Bearbeitung leider weitestgehend verloren, die Trompeten fehlen ganz und auch ist es schwierig, mit nur einer Bratsche einen vierstimmigen Chor zu ersetzen. Da sind filigrane Stücke wie die Bass-Arie «Ich habe genug» aus BWV 82 wesentlich besser geeignet.
Ein durchwegs hochklassig musiziertes Album ist hier entstanden, was nicht nur Bratschen-Liebhabern gefallen wird. Und es macht neugierig auf die weitere Karriere von Nils Mönkemeyer. ■

Nils Mönkemeyer, Bratsche: Weichet nur, betrübte Schatten – Musik von Rosetti, Bach und Hoffmeister; Dresdner Kapellsolisten, Helmut Branny; Sony Music 2009, 66 Min.

Inhalt

– Antonio Rosetti: Konzert G-Dur für Viola und Orchester, Allegro–Grazioso-Rondo;
– Johann Sebastian Bach: Kantaten – Auf, schmetternde Töne der muntern Trompeten (BWV 207a), Weichet nur, betrübte Schatten (BWV 202), Augustus’ Namenstages Schimmer (BWV 207a), Wir eilen mit schwachen, doch emsigen Schritten (BWV 78), Schleicht, spielende Wellen, und murmelt gelinde (BWV 206), Ich habe genug (BWV 82)
– Franz Anton Hoffmeister: Konzert D-Dur für Viola und Orchester Allegro – Adagio – Rondo

Hörproben

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Zimmermann spielt Bach

Posted in CD-Rezension, Johann Sebastian Bach, Musik, Musik für Violine, Rezensionen by Walter Eigenmann on 21. November 2007

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Die Violin-Sonaten von J.S. Bach

zimmermann-violinsonaten-bach.jpgDer Geiger Frank Peter Zimmermann, Träger zahlreicher renommierter Preise, hat gemeinsam mit dem italienischen Pianisten Enrico Pace die sechs Violin-Sonaten von Johann Sebastian Bach eingespielt. Die beiden Solisten begannen vor zehn Jahren eine langfristig angelegte musikalische Partnerschaft, woraus diverse Konzert-Aktivitäten von internationaler Reputation resultierten.
Der Norddeutsche Rundfunk über diese neue Bach-Aufnahme: «…mit wunderbar rhythmischem Drive, mit feinsinnigem Esprit, mit klug-analytischem Zugriff. Bei aller Intellektualität steht das lustvolle Spiel im Vordergrund. […] Seinen Geigenton gestaltet Zimmermann mit unglaublicher Phantasie, mit Verve und tänzerischem Puls, mit vollen warmen Tönen, aber auch ganz zurück genommen, fast fahl. In der Schönheit des Spiels vermitteln sich Schmerz und weltverlorene Melancholie.»(gm) ■

F.P.Zimmermann&E.Pace: J.S.Bach, Violinsonaten, Doppel-CD, Sony BMG, ASIN B000RO8T7K

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