Glarean Magazin

John Boyne: «Das Haus zur besonderen Verwendung»

Posted in Buch-Rezension, Günter Nawe, John Boyne, Literatur, Rezensionen by Walter Eigenmann on 31. August 2010

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Bauernsohn und Zarentochter

Günter Nawe

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Es war sicher nicht die Absicht von John Boyne, den vielen Legenden um Tod und/oder Überleben der Großfürstin Zarewna Anastasia von Russland (Anastasia Nikolajewna Romanowa), der jüngsten Tochter des letzten russischen Zarenpaares, eine weitere hinzuzufügen. Der englische Schriftsteller, Autor des international gerühmten Romans «Der Junge im gestreiften Pyjama» hat allerdings die Zarentochter zu einer der Hauptfiguren seines neuen Buches gemacht. Er hat kein Sachbuch darüber geschrieben, sondern Literatur. Und das in Form, wenn man so will, eines Liebesromans?  Nein, auch das nicht, sondern eher die Biografie einer Liebe und einer Ehe in unruhigen Zeiten und unter schwierigen Bedingungen. Auf keinen Fall – und das freut –  keine neue Legende.

John Boyne

Die Geschichte  spielt vor dem Hintergrund der Geschehnisse in Russland in den Jahren 1915 bis 1918. Der sechzehnjährige Bauernsohn Georgi aus dem gottverlassenen Nest Kaschin verhindert ein Attentat auf ein Mitglied der Zarenfamilie. Dabei setzt er das Leben seines Freundes aufs Spiel. Das Gefühl der Schuld wird ihn für den Rest seines Lebens begleiten. Als Dank jedoch wird Georgi an den Zarenhof nach Sankt Petersburg gerufen und Leibwächter des Zarewitsch. Hier lernt er auch die Zarentochter Anastasia kennen und lieben. Eine Liebe auf den ersten Blick – von beiden Seiten.

Liebesgeschichte inmitten Kriegswirren: Eisensteins Film-Sequenz «Sturm auf das Winter-Palais des Zaren»

Ein Bauernsohn und die Zarentochter? Kann das etwas werden? Manchmal am Rande des Rührselig-Trivialen erzählt John Boyne souverän diese Geschichte einer unmöglichen Liebe. Fiktion und Realität ergänzen einander. So vermittelt der Autor interessante Einblicke in das Leben am Hofe. Die politischen Verhältnisse um den ersten Weltkrieg herum, um die Oktoberrevolution und die Absetzung des Zaren und die Ermordung der ganzen Familie durch die Bolschewiki werden allerdings nur angedeutet.
Sie aber sollen auch nicht im Mittelpunkt der Erzählung stehen. Geschickt konstruiert und aus wechselnden Zeitperspektiven wird ein anderes Geschehen erzählt. Mit der Absetzung des Zaren ist auch der Kontakt der beiden Liebenden unterbrochen. Die Zarenfamilie wird nach Jekaterinburg verschleppt – in das berühmte «Haus zur besonderen Verwendung», ins Ipatjew-Haus. Hier wird Georgi Zeuge der Ermordung der Zarenfamilie. Nur Anastasia wird in einer dramatischen Aktion gerettet – von Georgi.

John Boynes «Das Haus zur besonderen Verwendung» ist die Romanbiografie einer Liebe und Ehe in unruhigen Zeiten und unter schwierigen Bedingungen. Viel Fiktion und wenig historische Fakten – doch John Boyne ist es gelungen, einen spannenden und fantasievollen Roman zu schreiben. Einfach gute Unterhaltung.

Mit der Flucht von Georgi und Soja – so nennt sich die Zarentochter jetzt – über Paris nach London beginnt sozusagen ein neues Leben. Sie heiraten, müssen mit den Unzulänglichkeiten des Exils fertigwerden, bekommen Kinder. Krankheit und Verlust der Tochter müssen verarbeitet werden, berufliche und finanzielle Schwierigkeiten sind zu überwinden  Im Mittelpunkt und über allem aber steht die große Liebe, die durch nichts beeinträchtigt werden kann.  Bis Soja 1981 stirbt. Ihr Geheimnis nimmt sie mit ins Grab.

Mit der Benennung genauer Jahreszahlen, auch für den fiktiven Bereich der Erzählung, will John Boyne historische Authentizität vermitteln. Das jedoch ist ein wenig Etikettenschwindel. Den Leser aber wird dies letztlich nicht interessieren. Hat er doch einen routiniert geschriebenen, spannenden und sehr fantasievollen Roman, von Fritz Schneider bestens übersetzt, vor sich, der ihn mit Sicherheit von der ersten bis zur letzten Seite in Atem halten, ja am Ende sogar etwas rühren wird. Die Liebesgeschichte vom Bauersohn und der Zarentochter: ein Stoff, aus dem Träume entstehen. ■

John Boyne, Das Haus zur besonderen Verwendung, Roman, 560 Seiten, Arche Verlag, ISBN 978-3-71602-642-7

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