Glarean Magazin

Das Zitat der Woche

Posted in Jürgen Habermas, Philosophie, Zitat der Woche by Walter Eigenmann on 23. Juni 2009

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Über die Verfallsgeschichte von Kunst, Religion und Philosophie

Jürgen Habermas

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Die Konstellation der bürgerlichen Kultur im Zeitalter ihrer klassischen Entfaltung war, wenn eine grobe Andeutung gestattet ist, gekennzeichnet durch die Auflösung traditionalistischer Weltbilder, also einmal durch den Rückzug der Religion in den Bezirk privatisierter Glaubensmächte, sodann durch das Bündnis einer empiristischen und einer rationalistischen Philosophie mit der neuen Physik, und schließlich durch eine autonom gewordene Kunst, die komplementäre Auffangstellungen für die Opfer der bürgerlichen Rationalisierung einnimmt.
Die Kunst ist das Reservat für eine – sei es auch nur virtuelle – Befriedigung jener Bedürfnisse, die im materiellen Lebensprozeß der bürgerlichen Gesellschaft gleichsam illegal werden: ich meine das Bedürfnis nach einem mimetischen Umgang mit Natur, der äußeren ebenso wie der des eigenen Leibes; das Bedürfnis nach solidarischem Zusammenleben, überhaupt nach dem Glück einer kommunikativen Erfahrung, die den Imperativen der Zweckrationalität enthoben ist und der Phantasie ebenso Spielraum läßt wie der Spontaneität des Verhaltens. Diese Konstellation der bürgerlichen Kultur war keineswegs stabil; sie währte, wie der Liberalismus selber, sozusagen nur einen Moment und verfiel dann der Dialektik der Aufklärung (oder vielmehr dem Kapitalismus als deren unwiderstehlichem Vehikel). Schon Hegel verkündet in seinen «Vorlesungen über die Ästhetik» den Verlust der Aura der Kunst. Indem er Kunst und Religion als beschränkte Formen des absoluten Wissens, welche die Philosophie als das freie Denken des absoluten Geistes durchdringt, begreift, setzt er die Dialektik einer «Aufhebung» in Gang, die alsbald die Grenzen der Hegelschen Logik überschreitet. Hegels Schüler vollziehen eine profane Kritik erst der Religion und dann der Philosophie, um schließlich die Aufhebung der Philosophie und deren Verwirklichung in der Aufhebung der politischen Gewalt terminieren zu lassen: das ist die Geburtsstunde der Marxschen Ideologiekritik. Was in der Hegelschen Konstruktion noch verschleiert war, tritt nun hervor: die Sonderstellung, die die Kunst unter den Gestalten des absoluten Geistes insofern einnimmt, als sie nicht, wie die subjektivierte Religion und eine szientifizierte Philosophie, Aufgaben für das ökonomische und das politische System übernimmt, sondern residuale Bedürfnisse, die im »System der Bedürfnisse«, eben der bürgerlichen Gesellschaft, nicht befriedigt werden können, auffängt. Deshalb blieb die Sphäre der Kunst von Ideologiekritik eigentümlich verschont – bis in unser Jahrhundert. Als auch sie schließlich der Ideologiekritik verfiel, stand die ironische Aufhebung von Religion und Philosophie bereits vor Augen.

Juergen Habermas

Jürgen Habermas

Die Religion ist heute nicht einmal mehr Privatsache; aber im Atheismus der Massen sind auch die utopischen Gehalte der Überlieferung untergegangen. Die Philosophie ist ihres metaphysischen Anspruchs entkleidet, aber im herrschenden Szientismus sind auch die Konstruktionen zerfallen, vor denen eine schlechte Realität sich rechtfertigen mußte. Inzwischen steht gar eine «Aufhebung» der Wissenschaft vor der Tür, die zwar den Schein der Autonomie zerstört, aber weniger um diskursiver Steuerung als vielmehr einer Funktionalisierung des Wissenschaftssystems für naturwüchsige Interessen zu weichen (siehe W.Pohrt: Wissenschaftspolitik. In diesem Zusammenhang steht auch Adornos Kritik einer falschen Aufhebung der Kunst, welche zwar die Aura zerstört, aber mit der herrschaftlichen Organisation des Kunstwerks zugleich dessen Wahrheitsanspruch liquidiert.)
Die Enttäuschung an der falschen Aufhebung, sei es der Religion, der Philosophie oder der Kunst, kann eine Reaktion des Innehaltens, wenn nicht des Zögerns derart hervorrufen, daß man eher gegen das Praktischwerden des absoluten Geistes überhaupt mißtrauisch wird als seiner Liquidierung zustimmt. Damit verbindet sich eine Option für die esoterische Rettung der wahren Momente.

Aus Jürgen Habermas: Die Aktualität Walter Benjamins (1972), Essay, in: Politik, Kunst, Religion, Reclam Verlag 1978

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