Heute vor … Jahren
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Karl Kraus: «Die letzten Tage der Menschheit»
Am 13. Dezember 1918 veröffentlicht der österreichische Schriftsteller sowie Zeit- und Sprach-Kritiker Karl Kraus in seiner Zeitschrift «Die Fackel» (Bild: 1.Umschlag-Seite der Urausgabe vom April 1899) den ersten Teil seines dramatischen Hauptwerkes «Die letzten Tage der Menschheit».
Das Stück montiert dokumentarische Einzelszenen zu einer Apokalypse des (eben beendeten) Ersten Weltkrieges. Allerdings ist es keineswegs ein Sammelsurium von Kampf-Schilderungen. Die wirklichen Schrecken des Krieges manifestieren sich nach Kraus im Verhalten jener Menschen, die in ihrer Ignoranz den Ernst und die Tragik des Krieges nicht wahrhaben wollen, sondern sich fernab vom eigentlichen Kriegsschauplatz an ihm bereichern und ihn mit falschen Phrasen beschönigen: Journalisten, Händler, hohe Militärs, die sich fern vom Schlachtfeld im Ruhm ihres militärischen Ranges baden. Kraus entlarvt die Phraseologie und die Worthülsen («Der Krieg ist ausgebrochen»), und er zeigt, wer vom Krieg profitiert. (we/07)
Das Lied von der Presse
Im Anfang war die Presse
und dann erschien die Welt.
Im eigenen Interesse
hat sie sich uns gesellt.
Nach unserer Vorbereitung
sieht Gott, daß es gelingt,
und so die Welt zur Zeitung
er bringt […]
Sie lesen, was erschienen,
sie denken, was man meint.
Noch mehr lässt sich verdienen,
wenn etwas nicht erscheint.Karl Kraus
Gedicht des Tages
Jugend
Da schon die Blätter falb,
will ich nicht säumen,
innen und außerhalb
Frühling zu träumen.
Eh mich umfaßt die Qual
dunkler Gewalten –
o holdes Dazumal,
lasse dich halten.
Wie es von mildem Weh
weht durch die Zeiten!
Will, wenn ich schulwärts geh’,
gern mich begleiten.
Hab’ vor dem Ziele bang,
nie mich erdreistet.
Wenn es mir auch gelang,
war’s doch geleistet.
Länger davor verweilt,
wird es mir lieber –
ach, wie die Zeit enteilt,
ich habe Fieber.
Wie es mich trieb mit Hast
zu Hindernissen,
drückte es wie Zentnerlast
gutes Gewissen
Nicht ohne Lust ich litt
vieles Versäumnis,
nie ohne Furcht ich schritt
in das Geheimnis.
Glück was es und Beruf,
Glück zu entbehren;
was mir Verehrung schuf,
scheu zu verehren.
Mut aber und Gewalt
vor der Gemeinde,
Sturm ohne Aufenthalt
faßte die Feinde.
Herz, wie du wieder bangst
im weitern Raume,
weckte dich Kinderangst
aus deinem Traume.
Pocht es von altersher,
öffn’ ich die Sinne,
daß es wie damals wär’,
wo ich beginne.
In trüber Leidenschaft
voller Gefahren
ahn’ ich den Gartenduft
aus frühen Jahren.
Ruf’ ich’s, so ist es da,
daß ich es hege.
Grün, wie ich’s nie mehr sah,
wuchs mir am Wege.
Liegt mir die Zeit im Ohr,
um mich zu täuschen,
dringt doch ein Kinderchor
aus den Geräuschen.
Heuer geht’s früh aufs Land,
auf blasser Wange
fühle ich deine Hand.
Fort bist du lange.
Fern als ein Leierklang
klingt’s in das Leben,
will’s einem Leid entlang
spielen und schweben.
Ja dort in Weidlingau,
in jenem Alter,
war mir der Himmel blau,
rot war der Falter.
Bin schon im Herrenbad,
Schwimmeisterstimme,
welch eine Wundertat,
daß ich schon schwimme!
Dan in der Bildung Frohn,
bessrer Berater,
spielt mir den Lebenston
Sommertheater.
Da ward mir frei und froh
vor bunter Szene.
Liebte Madam Angot,
schöne Helene.
Blaubarts Boulotte und,
nicht zu vergessen,
Gerolstein, Trapezunt,
alle Prinzessen.
Und bis zum letzten Lohn
schwebender Wonne
tanzte und schlug den Ton
Gilette von Narbonne.
Leben kein Sündenplatz,
Kunst keine Sühne.
Schwerlosen Wissens Schatz
bot mir die Bühne.
Gern den gebührlichen
Dank will bewahren
jenen figürlichen
Achtziger Jahren!
Was ich vereine,
dort schien’s gefunden,
und ihrem Scheine
Wesen entbunden.
Wer bliebe ungrührt
von ihren Künsten?
Doch keine Brücke führt
zu euren Dünsten!
Kunst war nicht Nebenbei,
konnte noch gelten,
rief als ein Wolterschrei
tieferen Welten.
Was nun in Dunkelheit
leide und sehne,
weiht jenem bessern Leid
Sonnenthals Träne.
Jünger bin ich als jung,
leb’ ich im Alten.
Welche Erneuerung!
Welches Erhalten.
Zieht in der Zeiten Kluft –
ich wohne besser,
bau’ ich mir in die Luft
brüchige Schlösser!
Blick’ ich nur aus von dort
in eure Fenster,
ruft euch mein Zauberwort:
seid ihr Gespenster!
Neuer ist meine Art,
freier ich wohne.
Es brach die Gegenwart
ein Epigone!
Rückwärts mein Zeitvertreib!
Jugend erst werde!
Länger als ihr verbleib’
ich auf der Erde!
Und weil die Blätter falb,
soll es mich laben,
innen und außerhalb
Frühling zu haben.
Karl Kraus (1874-1936)
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