Glarean Magazin

Das Zitat der Woche

Posted in Essays & Aufsätze, Karl R. Popper, Philosophie, Zitat der Woche by Walter Eigenmann on 2. Februar 2009

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Vom Essentiellen

Karl. R. Popper

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Obwohl ich nicht glaube, daß wir jemals durch unsere allgemeinen Gesetze ein letztes Wesen der Welt beschreiben können, so bezweifle ich doch nicht, daß wir danach streben, immer tiefer in die Welt oder, wie wir sagen können, in immer wesentlichere Eigenschaften der Welt einzudringen.
Jedesmal, wenn wir dazu fortschreiten, irgendein vermutetes Gesetz oder eine Theorie durch eine neue vermutete Theorie von höherem Grad der Universalität zu erklären, entdecken wir Neues über die Welt, indem wir versuchen, tiefer in ihre Geheimnisse einzudringen. Und jedesmal, wenn es uns gelingt, eine Theorie dieser Art zu falsifizieren, machen wir eine neue wichtige Entdeckung. Denn diese Falsifizierungen sind höchst wichtig. Sie lehren uns das Unerwartete; und sie lehren uns wieder, daß unsere Theorien, obwohl sie von uns selbst aufgestellt wurden, obwohl sie unsere eigene Erfindung sind, dennoch echte Aussagen über die Welt sind; denn sie können mit etwas zusammenstoßen, sie können an etwas scheitern, das wir nicht selbst erfunden haben.

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Karl R. Popper (1902-1994)

Unser «modifizierter Essentialismus» ist, wie ich glaube, nützlich, wenn wir die Frage nach der logischen Form der Naturgesetze erheben. Er deutet an, daß unsere Gesetze, oder unsere Theorien, universell sein müssen, das heißt, daß sie Aussagen über die Welt machen müssen – über alle räumlich-zeitlichen Gebiete der Welt. Er deutet darüber hinaus an, daß unsere Theorien Aussagen über strukturelle oder relationale Eigenschaften der Welt machen und daß die durch eine erklärende Theorie beschriebenen strukturellen Eigenschaften, in irgendeinem Sinn, tiefer sind als diejenigen, die erklärt werden sollen. Ich glaube, daß das Wort «tiefer» dem Versuch einer erschöpfenden logischen Analyse Widerstand leistet; es ist jedoch ein Führer zu unseren Intuitionen. (Das ist so in der Mathematik: Alle ihre Lehrsätze sind logisch äquivalent, da sie in der Gegenwart der Axiome voneinander ableitbar sind, und doch besteht ein großer Unterschied in ihrer »Tiefe«, der sich kaum logisch analysieren läßt.) Die «Tiefe» einer erfahrungswissenschaftlichen Theorie scheint in sehr enger Beziehung zu ihrer Einfachheit und damit zu ihrem Gehalt zu stehen. (Dies unterscheidet sich völlig von der Tiefe eines mathematischen Lehrsatzes, dessen Gehalt immer gleich Null ist.) Zwei Bestandteile scheinen erforderlich zu sein: ein reicher Gehalt und eine gewisse intuitive Einheitlichkeit oder Geschlossenheit (oder ein «organischer Charakter») des beschriebenen Sachverhalts. Es ist gerade dieser letzte Bestandteil, der so schwer zu analysieren ist und den die Essentialisten zu beschreiben versuchen, wenn sie von wesentlichen Eigenschaften sprechen, im Gegensatz zu einer bloßen Anhäufung von zufälligen Eigenschaften.
Ich glaube nicht, daß wir viel mehr tun können, als hier auf eine intuitive Idee zu verweisen. Und ich glaube nicht, daß wir viel mehr tun müssen. Denn im Falle irgendeiner vorgeschlagenen besonderen Theorie ist es ihr Gehalt, das heißt ihre Prüfbarkeit, die über das Interesse an ihr entscheidet, so wie es der Ausfall der tatsächlichen Prüfungen ist, der über ihr Schicksal entscheidet. Vom methodologischen Gesichtspunkt aus sind ihre Tiefe, ihr Zusammenhang und ihre Schönheit nichts als Hinweise und Anregungen für unsere Intuition und unser Vorstellungsvermögen.

Aus Karl R. Popper, Theorie und Realität, in: H. Albert (Hrsg.), Ausgewählte Aufsätze zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften, J.C.B. Mohr/Siebeck 1972

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