Mario Andreotti: «Die Struktur der modernen Literatur»
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Moderne Literatur entschlüsselt
Dr. Franziska Metzger
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Wie lässt sich literarische Modernität festmachen, und wie lässt sie sich erklären? Welches sind die Strukturmerkmale moderner Literatur? Über was für Konzepte lassen sich diese verankern, und wie werden Texte dadurch interpretierbar? Wo zeigen sich Transformationen in den Strukturmerkmalen moderner Literatur des 20. Jahrhunderts?
Dies sind Fragen, welche der Schweizer Germanist Mario Andreotti in seinem Werk «Die Struktur der modernen Literatur» auf systematische Weise reflektiert und über eine Reihe miteinander verschränkter theoretischer Sichtachsen – mit Blick auf Figuren- und Wirklichkeitsgestaltung, auf das Erzählen und damit auf Sprache, auf die Erfassung von Momenten der Verfremdung – angeht, um ein Instrumentarium für eine systematische Tiefenanalyse (moderner) Literatur zu präsentieren.
Bei der vierten Auflage von Mario Andreottis Band zur Struktur der modernen Literatur handelt es sich um die vollständig überarbeitete und in Analyse und Textbeispielen bis in die unmittelbare Gegenwartsliteratur weitergeführte Ausgabe des 1983 erstmals erschienenen Standardwerkes. Der Schwerpunkt des Buches liegt auf der modernen Erzählprosa und Lyrik. Zur Struktur des modernen Dramas hat Mario Andreotti einen eigenen Band mit dem Titel «Traditionelles und modernes Drama» verfasst, der 1996 beim Haupt Verlag erschienen ist und der für einen vergleichenden Zugang auf die traditionelle und moderne Literatur mit Blick auf Begrifflichkeiten, Analyseraster, Fragen von Kontinuität und Diskontinuität sowie für textbasierte Detailanalysen mit grossem Gewinn beigezogen werden kann.
Mario Andreottis auf einem semiotischen Ansatz basierendes Werk besticht zum einen durch die klare Erläuterung komplexer Begrifflichkeiten und Kategorien und von deren Verhältnis zu einander, welche einer tiefenstrukturellen Analyse von Literatur zugrunde gelegt werden können. Zum anderen überzeugt es durch die präzise und bis ins Detail reflektierte Anwendung der theoretischen Grundlagen auf eine Vielzahl konkreter Textbeispiele.
Dem von Mario Andreotti vertretenen Ansatz liegen verschiedene Dekonstruktionen zugrunde. So ist dem Autor der Hinweis auf die Grenzen der Gattungsbegriffe wichtig. Diese zeigen sich in Bezug auf die moderne Literatur in potenzierter Weise. Die entsprechende Komplexität und die Verschränkungsbeziehungen verschiedener Genres kommen in mehreren schematischen Darstellungen gut zum Ausdruck (S. 148-149). Aufgelöst wird weiter besonders der Inhalt-Form-Gegensatz – Andreottis Analyseraster sind allesamt Ausdruck davon. Dies geschieht über den Blick auf Gestaltungselemente – Erzähler, lyrisches Ich etc. – eines literarischen Textes als nicht nur etwas Formales sondern, darüber hinaus, als Konkretisierung von Inhalten (siehe S. 21). In diesem Anliegen spiegelt sich die Frage nach dem Wie – wissenschaftstheoretisch gesprochen eine zentrale Frage eines konstruktivistischen Ansatzes –, wie sie sich besonders in der Perspektive auf Strukturelemente literarischer Texte konkretisiert. Mario Andreotti versteht Struktur dabei als «ein System textinterner Beziehungen» (S. 22); der Strukturbegriff verbindet Form und Inhalt. Figuren- und Wirklichkeitsgestaltung, Sprache und Wirkungsabsicht stehen im Fokus einer solchen Strukturanalyse (S. 47).
Schauen wir auf einige Sichtachsen und Konzepte. Den strukturellen Wandel der modernen Epik fasst Mario Andreotti mit Blick auf die Erzähler- und Figurengestaltung, die narrative Struktur sowie die Darstellungsform in sechs Strukturmerkmalen: in der «Auflösung der festen Erzählposition», in der «Absage an das traditionelle, individualistische Entwicklungsprinzip» und damit im Shift von einer als fest konzipierten hin zu einer entpersönlichten Figur, in der Preisgabe eines «mimetischen Kunstprinzips», der «Auflösung des reinen Erzählberichts», der «Entpersönlichung der erzählten Figur», vor allem des Helden, sowie im «Abbau der traditionellen Symbolik».
Die Verschiebung von festem Ich und kohärenter Gesamtsicht der Wirklichkeit hin zu Dissoziation in Einzelbilder sieht der Autor im diskontinuierlichen Erzählen, wie es sich in der Textmontage manifestiert und auch in der modernen Lyrik ihr Pendant hat, in der Auflösung des festen, persönlichen Erzählers, wie sie in erlebter Rede und innerem Monolog ebenso wie in der Entpersönlichung des lyrischen Ich zum Ausdruck kommt sowie in einer gestischen Figurengestaltung bis hin zur Gestusmontage. Auf der Ebene der Sprache erachtet er den Transfer von Mimesis hin zur Sichtbarmachung der Fiktionalität sowie den Transfer von einer auf das Symbolische konzentrierten Sprache auf eine paradigmatisch-syntagmatisch konzipierte Sprache als entscheidend. Dies kommt besonders in der Verlagerung des Akzents vom Erzählten auf das Erzählen selber und in einer Auflösung der festen Sprache im modernen Gedicht zum Ausdruck.
Sehr gut gelingt es dem Autor in Bezug auf die Erzählprosa wie in Bezug auf die Lyrik, die Strukturmerkmale moderner im Verhältnis zu traditioneller Literatur zu verankern und plausibel zu erklären, wobei er immer wieder auch auf Kontinuitäten verweist. Zugleich schafft er es die innere Ausdifferenzierung dessen, was global als «moderne» Literatur bezeichnet werden kann, in Klassische Moderne, Neue Subjektivität, Postmoderne sowie Zweite Moderne theoretisch zu fundieren (siehe die Zusammenführung im Schema auf S. 94). So zeigt er etwa in Bezug auf die Lyrik der «Zweiten Moderne» (seit den 1990er Jahren) schön auf, wie eine Abkehr von der Formtradition der Postmoderne eine Tendenzwende hervorbrachte, in welcher «Subjekt- und Sprachkritik, Experiment und Hermetismus» (S. 304), wie sie für die Lyrik der späten 1950er und 1960er Jahre kennzeichnend waren, wieder zurück gekehrt seien. Durch die Verschränkung einer diachronen und einer auf die Parallelität verschiedener Genres gerichteten synchronen Betrachtungsebene erstellt Mario Andreotti ein theoretisch komplexes und zugleich historisch differenzierendes Modell, auf dessen Grundlage eine semiotische Analyse literarischer Texte vorgenommen werden kann. Sehr gut kommt damit die Vielschichtigkeit einer entsprechenden Tiefenanalyse zum Ausdruck.
Zur Veranschaulichung des Blicks auf Kontinuitäten und Diskontinuitäten seien zwei diachron-transversale Beispiele herausgegriffen, die politische Lyrik und die experimentelle Literatur. Moderne politische Lyrik bezeichnet Mario Andreotti als «spezifisch gestisch» (S. 337), was er an Brechts dialektischer Lyrik ebenso wie an ideologiekritischen Gedichten (etwa am Beispiel Erich Frieds), an der Agitations- und Protestlyrik seit Mitte der 1960er Jahre, an der parodistischen bis hin zur Subkultur- und Avantgardelyrik der sich durch Performativität und Oralität auszeichnenden Genres Pop, Social Beat, Rap und Slam Poetry aufzeigt. Als entscheidendes Charakteristikum experimenteller Literatur sieht der Autor den Grundgestus des Zeigens. Nicht mehr der Bezug auf eine aussersprachliche Wirklichkeit, sondern die Sprache selbst als eigenständige Realität steht im Zentrum. Dies demonstriert er an Beispielen, die vom dadaistischen Montagegedicht bis zur Textcollage und konkreten Poesie reichen, in welcher das Sprachzeichen «auf seine materiale Funktion» (384) reduziert wird.
In den verschiedenen Tabellen, etwa den Synopsen mit den Epochenbegriffen und ihren literarischen Tendenzen, verbindet Mario Andreotti seinen semiotischen Ansatz immer wieder mit einer kontextualistischen breiteren kultur- und wissenschaftsgeschichtlichen Sichtweise und damit mit einer für andere Ansätze anschlussfähigen Sprache eines Zugangs auf Literatur, der im weiteren Sinne als konstruktivistisch bezeichnet werden kann, indem er auf Wirklichkeitskonstruktionen, Konstruktionen des Selbst und des anderen sowie Selbstreflexion blickt. Dies ist gerade für Wissenschaftstheoretiker und -historiker von Interesse. So wäre Andreottis Buch etwa für eine interdisziplinäre Herangehensweise an Themen von gesellschaftlicher Modernisierung, gesteigerter Selbstreflexion und deren Spiegelung in den Wissenschaften um die Jahrhundertwende von 1900 inspirierend. Hierzu gehört auch der wiederholte Blick auf die literaturtheoretische Selbstreflexion einer entsprechenden Zeit, welche den Ansatz unterstützt, der moderne Texte immer auch als Auseinandersetzung mit traditionellen literarischen Texten liest.

Dadaistische Lautpoesie in der modernen «Slam Poetry»: Anfang von «Nittigritti» von Wehwalt Koslovsky (2002)
Etwas stärker hätte die Wechselseitigkeit der Beziehung zwischen Philosophie, Religion, Psychologie, Naturwissenschaften, Technik und Wirtschaft sowie der Kunst, d.h. Musik und Malerei auf der einen und Literatur auf der anderen Seite betont werden können (S. 99-138). Was in Mario Andreottis Werk im kulturgeschichtlichen Zusammenhang wie auch in Bezug auf die strukturelle Ebene offen bleibt und für eine weiterführende Diskussion von Interesse wäre, ist eine stärkere Einbettung der deutschen «Moderne» im europäischen literarischen Kontext, sowohl hinsichtlich der zeitlichen Entwicklung als auch in Bezug auf die zentralen Charakteristika und Ausdrucksweisen moderner Literatur. Wie sind diesbezügliche Differenzen und Akzentverschiebungen vor dem Hintergrund historisch-politischer Kontexte zu verstehen? Auch die räumliche Ebene schiene in dieser Hinsicht interessant zu sein: Welche Rolle spielten Metropolen wie Wien, Berlin, Paris für die «Klassische» Moderne? Inwiefern liesse sich bezüglich der auf die «Klassische Moderne» folgenden Perioden allenfalls von einer Dezentralisierung sprechen? Auch die Schweiz wurde ja besonders in den 1960er und 1970er Jahren zu einem wichtigen Ort literarischer Moderne.
Mario Andreottis profunde Kenntnis der deutschen Literatur bis in die diversen Genres der letzten Jahrzehnte – von Pop über Rap hin zu Slam Poetry – liegt der reflektierten, paradigmatischen, Auswahl an proportional zu den theoretisch-konzeptionellen Passagen geschickt verteilten Beispielen zu Grunde, an welchen der Autor seine tiefenanalytisch-semiotische Herangehensweise veranschaulicht und illustrativ Transformationen von der traditionellen zur modernen, aber auch innerhalb der modernen Literatur aufzuzeigen vermag. Gerade in diesen Beispielen zeigt sich, was eine auf den Text bezogene Strukturanalyse leisten kann. Dabei ist zudem positiv hervorzuheben, dass dem Leser keine allzu homogenen, andere Möglichkeiten ausschliessenden Interpretationen vorgelegt werden, sondern vielmehr eine systematische Fokussierung auf zentrale Ebenen im (modernen) Text und auf deren begrifflich-stringente Verarbeitung, auf deren Grundlage auch unterschiedliche Interpretationen fundiert und plausibilisiert werden können. Für Studierende sehr hilfreich sind die aus Textbeispielen bestehenden Aufgaben am Ende jedes Teils des Buches. Gut führen zudem zahlreiche grafische Darstellungen die Konzepte und ihre Beziehungen untereinander zusammen, so dass sich ein plastisches, einprägsames und klares Analyseraster ergibt. Zusammen mit dem über 100-seitigen Glossar mit literaturwissenschaftlichen, linguistischen und philosophischen Begriffen bieten diese Grafiken didaktisch geschickt präsentierte Stützen. Für Literaturwissenschafter, die mit dem semiotischen Zugang vertraut sind, wird der Band dadurch auch zu einem durchdachten Nachschlagewerk. ■
Mario Andreotti, Die Struktur der modernen Literatur – Neue Wege in der Textinterpretation: Erzählprosa und Lyrik (Mit einem Glossar zu literarischen, linguistischen und philosophischen Grundbegriffen), UTB Bd. 1127 (4. vollständig neu bearbeitete und aktualisierte Auflage), Haupt Verlag, 488 Seiten, ISBN 978-3-8252-1127-1
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Geb. 1974 in St. Gallen, Historikerin und Anglistin, Lektorin am Seminar für Zeitgeschichte der Universität Fribourg, Dissertation «Religion, Geschichte, Nation. Katholische Geschichtsschreibung in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert – Kommunikations-Theoretische Perspektiven» (2010), Forschungstätigkeit und Publikationen zu Themen der Religions- und Kulturgeschichte, Historiographiegeschichte, Geschichtstheorie und Methodologie.
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Drei Leseproben
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Essay von Mario Andreotti
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Ist Dichten lernbar?
Über Sinn und Unsinn von Schreibseminarien
Prof. Dr. Mario Andreotti
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In den letzten Jahrzehnten sind sie im deutschen Sprachraum, zunächst in Deutschland und dann auch in Österreich und in der Schweiz, wie Pilze aus dem Boden geschossen: Die verschiedenen, keineswegs immer billigen Schreibwerkstätten, Seminarien, Literaturkurse und Fernlehrinstitute für angehende Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Dazu kamen und kommen eine steigende Zahl von Büchern und Zeitschriften, die dem Leser mehr oder weniger deutlich suggerieren, sie enthielten «todsichere» Rezepte für ein gutes Schreiben. Das reicht dann von relativ neutralen Titeln, wie etwa dem «Verlegerbrief», über Titel, die wie «Grundlagen und Technik der Schreibkunst» schon handfester tönen, bis zu solchen, die unverhohlen versprechen, der Leser werde durch die Lektüre der betreffenden Publikation «garantiert schreiben lernen». Dieses zunehmende Angebot an Schreibhilfen, allen voran an Schreibwerkstätten und «Kursen für kreatives Schreiben», lässt einmal mehr die Frage aufkommen, ob sich denn das Dichten überhaupt lernen lasse. Es handelt sich um eine Frage, die fast so alt wie die Dichtung selber ist, und die im Verlaufe der Literaturgeschichte ganz unterschiedlich beantwortet wurde.
Ist Dichten also lernbar?

«Poetischer Trichter – Die Teutsche Dicht- und Reimkunst, ohne Behuf der lateinischen Sprache, in VI Stunden einzugießen» (Georg Philipp Harsdörffer, 17.Jh.)
Hätte man diese Frage einem Literaten etwa des 17.Jahrhunderts, also der Barockzeit gestellt, so hätte er sehr wahrscheinlich leicht verwundert zur Antwort gegeben, natürlich sei das Dichten lernbar, und dies genau so exakt wie beispielsweise das Malen oder das Musizieren. Wozu habe man denn die Poetik, wenn nicht dazu, dem Poeten die Regeln für sein literarisches Handwerk zu liefern. Man war damals nämlich der Überzeugung, ein Autor schreibe nur dann gut, wenn er bestimmte, durch literarische Autoritäten vorgegebene Regeln strikte beachte. So hatte beispielsweise ein Dramatiker, ob es ihm gefiel oder nicht, die berühmte Regel der drei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung, die angeblich auf die Poetik des Aristoteles zurückging, zu befolgen. Tat er dies nicht, so war er literarisch, und nur allzu oft auch gesellschaftlich, geächtet. In der Literaturwissenschaft spricht man deshalb von einer normativen Poetik, von einer Poetik also, die glaubte, die Schriftstellerei sei ein Handwerk wie jedes andere, das man nach bestimmten Regeln zu betreiben habe. Ein extremes Beispiel für diese normative Auffassung der Poetik ist der vielzitierte Nürnberger Trichter von Philipp Harsdörffer, der als «Anweisung, die Teutsche Dicht- und Reimkunst in sechs Stunden einzugiessen» gedacht war. Noch heute erinnern gewisse Lehrbücher der Dichtung, die sich mit ihren handfesten Schreibezepten fast wie Kochbücher geben, an diesen Nürnberger Trichter.
Dichten als subjektives Geschäft
Gegen Ende des 18.Jahrhunderts, literaturgeschichtlich mit dem Beginn des Sturm und Drang, wandelt sich das Bild: Die überkommene Vorstellung, die Dichtung habe einem bestimmten Regelkanon zu gehorchen, wird zunehmend durch die Ansicht abgelöst, sie habe möglichst originell, möglichst schöpferisch zu sein. «Kreativität» und «Originalität» -man denke etwa an die für die Stürmer und Dränger typische Wortschöpfung des «Originalgenies»- werden zu den beiden Leitbegriffen, welche die Dichtung der folgenden zwei Jahrhunderte weithin bestimmen sollten. Womit dieser Wandel in der Auffassung von Kunst zusammenhängt, ist einigermaβen offensichtlich: Wo der abendländische Mensch, wie dies seit der Aufklärung der Fall ist, seine Individualität, aber auch seine Autonomie den «Dingen» gegenüber «entdeckt», da hat dies Rückwirkungen auf das Selbstverständnis der Autoren. Sie fühlen sich nun nicht mehr als jene, die literarische Texte nach einer bestimmten, vorgeformten «Regelpoetik» machen, sondern als Menschen, die sich von ihrer schöpferischen Intuition, von einer Art Inspiration – die Nähe zur alten, religiös fundierten Vorstellung des «poeta vates» ist offenkundig – leiten lassen. Noch ein Friedrich Dürrenmatt huldigte dieser gleichsam irrationalen Auffassung von Dichtung und vom Autor, wenn er im Hinblick auf seine Stücke immer wieder den «poetischen Einfall» betonte.
Der eben skizzierte Wandel im Dichtungsverständnis ist nun äuβerst folgenreich: Hatte vorher die Ansicht bestanden, Dichten sei lehr- und lernbar, so trat seit dem Sturm und Drang mehr und mehr die Meinung zutage, sie sei ein derart subjektives Geschäft, dass sich dafür kaum auch nur einigermaßen verbindliche Normen aufstellen lieβen. Damit war es auch mit der Vorstellung von der Lernbarkeit des literarischen Handwerks gründlich vorbei. Dies erklärt weitgehend, warum es im deutschen Sprachraum Schulen für Architekten, Bildhauer, Maler und Musiker, kaum aber solche für Schriftsteller gibt. In den USA und beispielsweise auch in Russland ist das bekanntlich ganz anders: Da existieren an den Universitäten neben den literaturwissenschaftlichen eigene Schriftstellerfakultäten, in denen angehende Autoren, angeleitet durch Praktiker ihres Faches, das Formwissen um alle dichterischen Gattungen im eigentlichen Sinne lernen. Bei uns aber hält man so etwas für eine Sünde wider den Heiligen Geist der Dichtung, warnt man in einer oftmals geradezu grotesk wirkenden Scheu vor Meistersinger-Dürre und Nürnberger Trichter.
Dichten doch lernbar?
Freilich hat sich in den letzten Jahren auch im deutschen Sprachraum ein gewisser Sinneswandel vollzogen: Neben Literaturhäusern, die regelmäßig Autorenkurse anbieten, sind vor allem in Deutschland und Österreich eigentliche Schreibschulen und Literaturinstitute, wie beispielsweise die «schule für dichtung» in Wien, die «Schreibschule Köln» und das Deutsche Literaturinstitut in Leipzig, entstanden. Autorenaus- und weiterbildung, Begriffe, die noch vor einigen Jahrzehnten völlig verpönt waren, sind plötzlich in. Selbst der Schweizerische Schriftstellerverband, der Verband der Autorinnen und Autoren der Schweiz, wie er neuerdings heißt, befasst sich inzwischen ernsthaft mit dem Gedanken, seinen Mitgliedern Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten in Form einer eigentlichen Schreibschule anzubieten.

«Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten – ein Gedicht wird gemacht» (Gottfried Benn, Probleme der Lyrik, München 1959)
Diese jüngste Entwicklung hin zum Versuch, den Beruf des Schriftstellers zu professionalisieren, hängt unter anderem zweifellos mit dem veränderten Dichtungsverständnis der Moderne zusammen, wonach Poesie, anders als etwa in Klassik und Romantik, weniger Inspiration als vielmehr Machen bedeutet. Gottfried Benns berühmter Satz «Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten – ein Gedicht wird gemacht» gilt nicht nur für die moderne Lyrik, sondern für die moderne Literatur, schon ihres betonten Kunstcharakters wegen, überhaupt. Das blieb nicht ohne Rückwirkung auf das Selbstverständnis der Autoren: Verstand sich der Autor seit dem ausgehenden 18.Jahrhundert als selbstmächtiger Schöpfer eines autonomen Werkes, bei dem Inspiration und Kreativität die zentrale Rolle spielten, so versteht er sich heute zunehmend als bloßer Arrangeur, der in harter Schreibtischarbeit Texte produziert, mit literarischen Formen und Techniken ‚experimentiert’. Daraus erklären sich die auffallend vielen intertextuellen Bezüge, wie sie gerade für moderne und postmoderne Werke typisch sind. Dies wiederum setzt voraus, dass sich die Schriftsteller unserer Tage gewisse Formen und Techniken lernend aneignen. Zu all dem hat sich bei der Mehrheit unter ihnen die Einsicht durchgesetzt, mit Begabung allein lasse sich heute den vielfältigen Kommunikationsanforderungen einer komplexen Gesellschaft nicht mehr ausreichend entsprechen. Stellen wir damit nochmals die unausweichliche Frage, die Gretchenfrage sozusagen, nach der Lehr- und Lernbarkeit des Dichtens und geben wir darauf, um jedes Missverständnis auszuschlieβen, gleich eine klare Antwort: Kein vernünftiger Autor, aber auch kein Literaturwissenschaftler glaubt heute im Ernst, dass Dichten ein bloβes, lernbares Handwerk sei. Allerdings finden sich, trotz dieser an sich unbestrittenen Erfahrung, noch und noch Schreibkurse und entsprechende Lehrmittel, die den Benützern weismachen wollen, jeder könne ein guter Schriftsteller werden, wenn er nur die richtige, vom betreffenden Institut oder Lehrmittel propagierte Methode verwende.
Was leisten Schreibseminarien wirklich?
Fragen wir zunächst nochmals, was sie nicht leisten. Alfred Döblin, einer unserer gröβten Epiker des 20.Jahrhunderts, hat auf diese Frage indirekt eine geradezu klassische Antwort gegeben, als er im Jahre 1926 in einem Essay schrieb: «Die guten Dichter haben ihre Intuitionen; die machen alle Anleihen überflüssig, und den schlechten ist so oder so nicht zu helfen.» Was Döblin damals in einem allgemeinen Sinne meinte, gilt gerade für Schreibseminarien in besonderem Maβe: sie vermögen – dies sei in aller Deutlichkeit gesagt – keine Begabungen, keine Genies zu züchten. Wer schriftstellerisch nun einmal untalentiert ist, den machen auch Kurse und Lehrmittel mit all ihren oftmals lautstark propagierten «technischen Kniffen» nicht zum Erfolgsautor. Wäre dem nicht so, dann müsste jeder Germanist ex officio ein guter Dichter sein, nur weil er während seines Studiums alle möglichen Formen literarischen Gestaltens zu lernen hat.
So lieβe sich denn am grundsätzlichen Sinn von Schreibseminarien zweifeln. Doch dann hätte man mich gründlich missverstanden. Schreibseminarien erfüllen durchaus ihren Zweck, wenn es darum geht, den Teilnehmern bestimmte handwerkliche Techniken des Schreibens zu vermitteln. Literarisch begabt zu sein, braucht nämlich noch lange nicht zu heißen, die verschiedenen literarischen Kunstmittel auch schon zu beherrschen. Das gilt schon für traditionelle Schreibweisen, deren Techniken, in der Lyrik etwa die einzelnen metrischen Formen, im Roman die unterschiedlichen Erzählhaltungen, sich der Autor, will er erfolgreich schreiben, bewusst werden muss. Das gilt vor allem aber in Bezug auf spezifisch moderne Kunstmittel, wie beispielsweise neue erzählerische Verfahren, die sich ohne ein gezieltes Lernen und Üben – dazu haben sich von Döblin über Brecht bis hin zu Günter Grass alle bedeutenden modernen Autoren immer wieder bekannt – kaum aneignen lassen. Und das gilt nicht weniger für Fragen, die sich rund um das Schreiben ergeben, auf solche der Schreibpsychologie, aber auch auf Fragen der Literaturkritik und des Verlagsvertrages. Man staunt diesbezüglich immer wieder, wie hilflos auch gestandene Autorinnen und Autoren wirken, wenn sie etwa mit verlags- oder mit urheberrechtlichen Problemen konfrontiert werden. Hier können Schreibseminarien zweifellos eine Art «Hilfestellung» leisten, vorausgesetzt freilich, dass ihre Leiterinnen und Leiter in den entsprechenden Bereichen ausgebildet sind. Damit allerdings hapert es noch weit herum: auf dem Gebiet der Schreibausbildung tummeln sich heute allzu viele, die über die notwendigen fachlichen Voraussetzungen nur in Ansätzen oder gar nicht verfügen. Das gilt häufig gerade auch für praktizierende Autorinnen und Autoren, wenn sie als Leiter von Schreibseminarien auftreten und dann, weil sie selber die verschiedenen Möglichkeiten literarischen Gestaltens nicht ausreichend kennen, ihre eigene Schreibweise zum einzigen Gradmesser literarischer Qualität machen.
Schreibseminarien als Orte der Begegnung
Neben der Funktion der «Hilfestellung» – mehr kann und darf es nicht sein – erfüllen Schreibseminarien selbstverständlich noch weitere Funktionen, die mit Blick auf die besondere schriftstellerische Situation nicht unterschätzt werden dürfen. Da besteht für die Autorinnen und Autoren zunächst einmal die Möglichkeit, ihr poetisches Talent, im Vergleich mit andern Teilnehmern, relativ objektiv einzuschätzen. Man erlebt immer wieder, dass Autoren nach dem Besuch eines Schreibseminars feststellen, dass sie ihre Begabung überschätzt haben, und dann konsequenterweise einen andern Weg als den der Schriftstellerei einschlagen. Aber man erlebt zum Glück auch das Gegenteil: die Tatsache nämlich, dass Autorinnen und Autoren durch «Hilfestellungen», ja durch gezielte Schreibtipps, ihre schriftstellerische Begabung erst richtig entdecken. Und schlieβlich darf der psychohygienische Wert von Schreibseminarien nicht vergessen werden, wenn man bedenkt, wie sehr Schreibende als klassische ‚Einzelkämpfer’ mit ihren Texten häufig nicht nur bis zu deren Fertigstellung allein, sich selbst überlassen sind. Schreibseminarien geben ihnen da für einmal die Möglichkeit, während ein paar Tagen aus ihrer schriftstellerischen «Einsamkeit» auszubrechen und mit Gleichgesinnten – dies im wahrsten Sinne des Wortes – über ihre vielfältigen Probleme, die sie mit ihren Texten, aber auch mit Verlegern, Lektoren und Kritikern haben, zu diskutieren. Allein der Umstand erfahren zu dürfen, dass diese Probleme von andern angehört und ernst genommen werden, ja, dass andere Autorinnen und Autoren mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben, dass man mit seinen Texten zudem eine gewisse Öffentlichkeit erreicht, auch wenn es vorerst nur die eines Seminars ist, tut dann oftmals gut. Schreibseminarien – ja oder nein? Geht man von einem überkommenen, latent elitären Autorenverständnis aus (wer möchte nicht gerne zu den Auserwählten, den Begnadeten gehören!), so wird man die Frage ohne zu zögern mit «nein» beantworten. Ist man aber bereit einzugestehen, dass auch die Schriftstellerei ein Moment des Handwerklichen und damit des Lernbaren hat, dass sich beispielsweise eine ganze Reihe von Schreibtechniken rational aneignen lassen, dann wird man gerade heute, inmitten einer Welt des Wandels und spezialisierter Berufe, den Schreibseminarien eine gewisse Berechtigung kaum absprechen können. ■
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Mario Andreotti Geb. 1947, Studium der Germanistik und Geschichte in Zürich, 1975 Promotion über Jeremias Gotthelf, Prof. Dr. phil., 1977 Diplom des höheren Lehramtes, danach Lehrtätigkeit am Gymnasium und als Lehrbeauftragter für Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität St. Gallen und an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg, langjähriger Referent in der Fortbildung für die Mittelschul-Lehrkräfte und Leiter von Schriftstellerseminarien, Verfasser mehrerer Publikationen und zahlreicher Beiträge zur modernen Dichtung, lebt in Eggersriet/CH
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