Zwei Kurzprosa-Texte von Martin Kirchhoff
.
Strandleben
Martin Kirchhoff
.
Langsam lasse ich mich auf dem braunen Steinblock nieder und warte ab. Endlich rattert der grüne Zug über die Brücke, dann scheint er sich im Grün des Dammes aufzulösen, bevor er verschwindet. Eine schwarze Wolke, die der Wind über das Land meerwärts treibt, verschluckt die Sonne. Noch schaue ich dem Zug nach, mein Blick gleitet suchend über die Grasfläche, die der Wind mit seinen salzigen Fingern durchkämmt. Tief Luft einziehend springe ich auf, strecke meinen Körper, trete dann vor an den Rand. Angekommen, zögere ich. Sand rieselt abwärts zum Strand, der sich dem Meer zuwellt, bis die Wasserwellen ihn verschlucken. Endlich springe ich lachend hinab.
Über dem Meer gleitende Möwen ziehen meine Aufmerksamkeit auf einen grauen Stein im Wasser, auf dem ein Kormoran beide Flügel spreizt. Jesus auf einer Insel vor einer Insel, kommt mir in den Sinn. Up, up, ruft ein Mann seinem Schäferhund nach, der Sand aufwirbelnd davonrennt, vorbei an zwei Frauen, die in ihrem Gespräch vertieft unbeirrt weitergehen. Regen prasselt nieder, die Luft riecht schwer, leichter Dampf steigt vom Sand empor. Noch auf dem Stein, mit angelegten Schwingen, erweckt der wieder zum Vogel gewordene Kormoran keine Sinnbilder in mir. So bleibe ich hängen auf einem Punkt eines weiten Strandes. Ich genieße die Regentropfen. Grenzstreifen zwischen Land und Atlantik. Zwei Welten einer Welt. Eine junge Frau nähert sich. Sie bückt sich, nimmt eine Muschel auf, gleich die nächste. Die schwarzen Wolken ziehen weiter zum Meer hinaus. Im hohen Bogen wirft die Frau eine der Muscheln von sich, den Wellen zu. Am Horizont ist ein Schiff sichtbar. Es scheint sich nicht zu bewegen, steht kurz im Kontrast zur Frau, die mit schräg geneigtem Haupt meerwärts strebt. Plötzlich bückt sie sich erneut und nimmt die nächste Muschel auf, während die Wellen ihre Füße umspülen. Mit hohem Satz hüpft sie rückwärts in die abziehenden Wellen. Rasch streicht sie sich mit der linken Hand über ihre Stirn. Das Schiff klebt noch am Horizont, weit im Norden erheben sich die Berge. Zwischen ihnen und mir ist ein roter Leuchtturm. Der rennende Schäferhund schiebt sich in mein Gesichtsfeld, vor dem Leuchtturm, eine Frau wirft Muscheln hoch, die sie auffängt, schnell und schneller, zwei Frauen reden aufeinander ein, die Berge schieben sich ins Meer.
Hier werde ich bleiben. Auf dieser Stelle werde ich das Meer erwarten. Der Kormoran ist verschwunden; irgendwo über dem Meer unterwegs, das sich nähert, mir zuwellt, das kommt. Möwen kreischen im Gleitflug, die Berge schwimmen zum Schiff, das sie erwartet. Kommkomm, verstehe ich die Möwen, strecke meine Arme aus und bleibe stehen. Kommkomm, denke ich, wartend, erwartend, kommkomm, singt die Muscheljongleurin in der Ferne, neben dem Leuchtturm, der mit seinen scharf gebündelten Lichtstrahlen dem Wasser des Boyne den Weg zum Meer weist. Hinter mir verschwimmt die Sonne im Westen im Atlantik. Dazwischen das Inselland. Stärker rieche ich den Tang, das Parfüm des Meeres, näher züngeln die Wellen heran, nehmen das Grenzland auf. Ob ich über das Wasser gehen kann, weiß ich nicht. Bald werden die Wellen bei mir und ich nicht mehr allein sein.
Das Sonnenlicht bricht durch die dunklen, aufgebauschten Wolken, der Wind spielt in meinem Haar. Kein Kormoran sitzt auf dem Stein und ich gehe ein wenig enttäuscht weiter. Zwei Frauen wandeln schweigend dem Leuchtturm zu. Meine Augen folgen ihnen, bis sie unerwartet an einem Stein im Wasser hängen bleiben, der gestern nicht dort war, auf dem mit gespreizten Flügeln ein Kormoran steht. Die Berge sind, wo sie waren und hingehören. Das Schiff machte zwei Frachtern Platz. Dann entdecke ich auf dem Stein hinter dem Kormoran eine Muschel. Vielleicht kommt sie wieder vorbei, denke ich, kommkomm, Muschelfrau und betrachte den Kormoran, der sich auf den Stein setzte, als warte er. Kommkomm, flüstern die Wellen, kommkomm, denke ich und weiß, ich werde warten.
Nachts spüre ich die Wellen, die mich umspielen. Aus dem Nichts der Dunkelheit erscheint leise singend die Muschelfrau. Sie streckt sich, lässt sich dann auf mir nieder. Kommkomm, scheint sie zu singen, ich bin da, ein gelbbrauner, mit ein paar weißen Adern durchzogener Stein. ■
.
.
.
Eigentlich könnten wir glücklich sein…
Martin Kirchhoff
.
Wieder in der S-Bahn unterwegs zur Arbeit. Tägliche Tretmühle. Zweygarth betrachtet Sonja, die mal wieder ihm gegenüber sitzt. Ihr Kiefer bewegt sich monoton, wie immer nach einem Streit. Diesmal war es die Marmelade, die ihre Gemüter erhitzte. Sonja starrt durchs Fenster auf die fliehende Landschaft.
Die Bahn hält, Menschen drängen sich herein, müde Welten, griesgrämige Gesichter. Zweygarths Augen springen hin und her, auf vager Suche nach einer anderen, schöneren Welt. «Eigentlich», denkt er, «könnten wir glücklich sein», und schüttelt den Kopf. Plötzlich wendet sich Sonjas Gesicht ihm zu, aus dem kurz und bündig ihre Zunge schnellt, bevor sie sich wieder abwendet. Verärgert zwar, bleibt Zweygarth ruhig und lässt seine Zunge im Mund.
«Waren wir damals glücklich», fragt er sich, «vor fünf Jahren?» Langsam zieht er die linke Schulter hoch und schneidet eine dumme Fratze.
«So ein Blödsinn», skandiert irgendwo im Waggon einer. «Hartz wie viel auch immer, steigende Preise», labert die Stimme weiter. «Massenverblödung von oben», quiekt eine Frau auf, «jawohl!»
Zweygarth lächelt hämisch vor sich hin, Sonjas Kopf ruckt, ihre Augenbrauen springen hoch, zugleich schießt erneut ihre Zunge Zweygarth zu, dessen Lächeln auf den Lippen erstarrt.
«Immerhin fünf Jahre durchgehalten», resümieren Zweygarths Gedanken. «Darüber könnten wir glücklich sein.»
«Ha», manifestiert eine Frauenstimme, «wir haben Hitler geschafft, das Wirtschaftswunder – die Wiedervereinigung schaffen wir auch noch!» Gemurmel schwillt an. Zweygarths Gedanken springen über in die Abteilung des Amtes, in der er seit vielen Jahren werkelt. «Blöde Beamte, blöder Trott», denkt er, «aber wäre ich nicht dort, wäre ich wohl gehartzt. Also bin ich übers Unglück glücklich. Könnte schlimmer sein. Lieber aus einem Blechnapf essen als vom Boden fressen!»
«Wir können alles außer glücklich sein», trompetet eine jugendliche Stimme hinter ihm. Gelächter kommt auf. Zweygarth beugt sich Sonja mit aufgesetztem Lächelgesicht zu, räuspert sich, raunt ihr dann dunkel zu: «Eigentlich könnten wir glücklich sein…» ■
.
__________________
Geb. 1954 in Leonberg/D, zahlreiche Lyrik- und Prosa-Publikationen in Büchern, Zeitschriften und Anthologien, verschiedene Literaturpreise, lebt als Zeitungskorrektor in Leonberg
.
Weitere Texte von Martin Kirchhoff im Glarean Magazin
.
.
.
Lyrik von Martin Kirchhoff
.
.
Klaipeda. Rundgang
Stimmenvoll, die Klänge,
sagen, werden getragen
ins Gehör, die Fragen
Worte, Sprache, die Klänge
hier, fremd mir,
Sprache, kräftiger Stier
Tauche ein, die Klänge
schweben, Träume erleben,
Worte, tiefe Orte
Stimmenvoll, die Kultur
hören, Sprache kann betören,
Klänge, gleich Chören
Tauche ein, Sprache fremd,
bester Wein, den niemand kennt;
schöner Klang, heimisch hier
Gesänge, fremd und in mir
.
.
.
Bahnhof der Lufttrinker
Halb erblindet unter der Brücke
Bahnareal, Schienen, Gräser
S-Bahnen humpeln eisern dahin
Bettler, Mensch, Arbeitsloser
rattert der Zug, rattert die Zeit, rattert die Luft
es steigen Menschen in die Vergangenheit der Leere
es geht was kommt, alle wissen was keiner weiß
rattert das Leben, rattert der Traum, rattert das Sein
Halb sehend unter der Brücke
Ruinen, Flächen, Schotter
Gestalten stolpern glaubend umher
Lieder, Morgenrot, Hoffnung
vergeht was ist, vergeht was glaubt, vergeht was vergangen ist
es kommen die Toten in die Zukunft der Gegenwart
es kommt was geht, alle wissen was keiner sagt
vergeht der Tod, vergeht das Nichts, vergeht der Schein
Schräge Vögel im Bahnhof der Lufttrinker
.
.
.
Ankunft
Wellen, die Boten,
sie becircen meine Seele,
die Möwen rufen
sie zaubern mir Flügel
Ein grünes Boot legt an
Wind, der Flüsterer,
er nimmt meine Seele,
die Gedanken schweben
sie zaubern mir Farben
Ein grünes Boot legt ab
Seele, der Sucher,
nimmt an die Wellen,
die Gedanken zaubern
sie rufen die Möwen
Eine Seele kommt an
Seele wird Welle
Welle wird Bote
Bote wird Möwe
Sie rufen mich
Angekommen im Meer
.
.
.
.
__________________________
.
Geb. 1954 in Leonberg/D, zahlreiche Lyrik- und Prosa-Publikationen in Büchern, Zeitschriften und Anthologien, verschiedene Literaturpreise, lebt als Zeitungskorrektor in Leonberg
.
.
Lyrik von Martin Kirchhoff
.
.
Die Veranda war überflüssig
Holzhaus im Hügeltal
Qualm manchmal
Weißrauch vom Kamin
wie schnell, dann schwarz
Käutzchenrufe einer Nacht
sonnenblumenhell
schon und verflogen
Dann ging die Veranda
Bei den Sternen
sah ich sie nicht
.
.
Halbleergetrunken der Wein
rote Pfütze auf dem Parkett
Scherben zerborstener Römer
wie Diamanten im Lichtschein
Tinte geschrieben auf der Wand
Linien, Silben zum Wort
Atemluft, die dünngeworden
auf dem Boden liegt und stirbt
.
.
Engel
von der Grauwand
springe nicht gen Himmel
Rosen blühen zum Westen
am Portal
in jeder Wüste
ein rotes Blatt
für dich
Engel der Mauer
Rosenöl und Regentropfen
benetzen dein Gesicht
fürchte dich nicht
springe
in die Herzen
Engel der Zeit!
.
.
.
____________________
Geb. 1954 in Leonberg/D, 1984 erste Text-Veröffentlichungen, seither zahlreiche Lyrik- und Prosa-Publikationen in Büchern und Anthologien, verschiedene Literaturpreise, lebt als Zeitungskorrektor in Leonberg
.
.
.
.
leave a comment