Glarean Magazin

Michael Kleeberg: «Das amerikanische Hospital»

Posted in Buch-Rezension, Günter Nawe, Literatur, Michael Kleeberg, Rezensionen by Walter Eigenmann on 17. September 2010

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Von geschundenen Seelen

Günter Nawe

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Er stand auf der Longlist der Vorschläge zum Deutschen Buchpreis 2010, hat es aber leider nicht in die Shortlist der sechs vermeintlich besten Romane dieses Jahres geschafft. Das ist zu bedauern. Denn Michael Kleeberg gehört zweifelsfrei zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Gegenwart – und der neue Roman «Das amerikanische Hospital» zu den wichtigsten und schönsten Neuerscheinungen.

Kleeberg, bereits vielfach preisgekrönt, hat sich vor allem mit Titeln wie «Der König von Korsika» und «Karlmann» einen Namen gemacht. Außerdem ist er als hervorragender Übersetzer bekannt. Zum Beispiel von Marcel Prousts «Combray» und «Eine Liebe Swanns» – beide allerdings eher brillante «Nachdichtungen».
Jetzt also «Das amerikanische Hospital», ein Buch, in dem Kleeberg sehr eindringlich Zeitgeschichte und Privatgeschichte miteinander verbindet, tief in die Seelen seiner Protagonisten eintaucht, sozusagen mit dem literarischen Seziermesser die verschiedenen Schichten offenlegt.

Michael Kleeberg bei Recherchen mit UNO-Soldaten im Südlibanon (Litani-Fluß / Juli 2008)

Paris 1991. In der Empfangshalle eines amerikanischen Hospitals treffen sich Hélène und David. Sie, französische Mittelschicht, möchte sich per In-vitro-Fertilisation einen langgehegten Kinderwunsch erfüllen. Er, amerikanischer Soldat, ist wegen seiner Traumata und Panik-Attacken, die er aus dem ersten Irak-Krieg davongetragen hat, in psychiatrischer Behandlung.
Sensibel und sehr eindringlich schildert Michael Kleeberg die Ännäherung dieser beiden Menschen. Er erzählt von den Erfolgen und Misserfolgen ihrer «Behandlungen». Die kontrapunktische Anlage des Buches ermöglicht es dem Leser, sich von verschiedenen Seiten her dem Thema Kleebergs zu nähern: Der Fragwürdigkeit technischer, politischer und bürokratischer Faktoren auf das Leben des Individuums im 20. Jahrhundert.

Hélène unterzieht sich immer wieder der technisch-nüchternen Prozedur, die die Reproduktionsmedizin bietet, um sich den Kinderwunsch zu erfüllen. Und jedesmal erfolgt auf die Hoffnung die Enttäuschung. «A bloody mess» – ein tragisches Erlebnis folgt auf das nächste. Die seelischen Folgen sind unübersehbar.
David, Literatur- und Lyrikfan und Soldat, leidet an den seelischen Beschädigungen, die seine Teilnahme am ersten Irak-Krieg hervorgerufen haben. Posttraumatische Belastungsstörungen nennt man das. Einfacher gesagt: Es sind die Bilder, die sich ihm eingebrannt haben – von den Ibissen, die eine Öllache mit einem See verwechseln und elendiglich zu Grunde gehen. Oder von den Kindern, die in Basra von einer Bombe zerfetzt werden. «A bloody mess» auch hier und für ihn.

Ein fesselnder Roman, der den Leser im wahrsten Sinne des Wortes mitnimmt; atmosphärisch dicht und sprachlich brillant. Große Literatur, die eindringlich von Individuen erzählt, die Zeitgeschichte nicht nur erleben, sondern an sich selbst erfahren.

Sie möchte neues Leben schaffen; er in ein neues Leben zurückfinden. Auf dieser Ebene finden sie sich, kommen sie sich näher. Kleeberg, brillanter Erzähler, der er ist, schildert auf sehr präzise Weise diese Erlebnisse und Vorkommnisse. Vor allem aber sind es Hélène und David, die sich nach und nach davon erzählen: Von ihrem Leben, von der Literatur, die sie beide kennen und lieben, und von sich selbst und ihren geschundenen Seelen – und auf diese Weise eine Therapie absolvieren, die erfolgreicher ist als jene der Ärzte des amerikanischen Hospitals. Eine «Objektivierung» des Erzählten erfolgt quasi durch eine dritte Person in diesem «Zweipersonenstück», durch den eigentlichen Erzähler, der am Ende so etwas wie ein Resumee zieht, wenn er von den Briefen erzählt, die sich Hélène und David geschrieben haben – und von der Trennung Hélènes von ihrem Mann.

Die ausgezeichneten Dialoge zwischen Hélène und David, in denen sich ihr Innenleben darstellt, korrespondieren mit der Außenwelt, den Bildern, die Kleeberg von den Spaziergängen der beiden durch Paris, durch den Hospitalpark, über den Père Lachaise zeichnet. Auch diese Bilder heilen. Und wenn sich am Ende beide zwar näher gekommen sind, sich aber dann doch trennen, so geschieht das irgendwie versöhnt – mit ihrem Schicksal, mit sich selbst und ein wenig auch wieder mit der Welt. ■

Michael Kleeberg: Das amerikanische Hospital, 232 Seiten, Deutsche Verlags-Anstalt, ISBN 978-3-421-04390-0

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