Glarean Magazin

Lothar Becker: «Hitler in der U-Bahn» (Satire)

Posted in Kurzprosa, Literatur, Lothar Becker, Neue deutsche Literatur, Neue Prosa, Satire by Walter Eigenmann on 2. August 2015

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Hitler in der U-Bahn

Lothar Becker

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Elmar hatte sie schon die ganze Zeit über beobachtet, und jetzt kamen sie auf ihn zu: Es waren zwei, und sie waren kahlgeschoren und trugen Lederjacken und schwere Stiefel. Das Blech des U-Bahn-Waggons dröhnte unter ihren Schritten. Elmar lief es eiskalt über den Rücken. Er war Ende dreissig, ziemlich klein, litt unter Verstopfung und kam nicht bei Frauen an. Seine Physiognomie hinterliess einen mehr oder weniger dümmlichen Eindruck, und weil er das wusste, machte er sich keine Illusionen, dass er etwa aussehen könnte wie jemand, den diese Typen nicht zusammenschlagen würden. Elmar war auf alles gefasst.
Er sah, wie sich die beiden vor ihm aufbauten, und wie die Leute auf den benachbarten Plätzen intensiv aus dem Abteilfenster zu blicken begannen. Dann schloss er die Augen.
Als er sie kurz darauf wieder öffnete, befanden sich die beiden Kahlköpfe vor ihm in einem irritierenden Zustand. Mit halbgeöffneten Mündern und Glatzen, die in der Neonbeleuchtung rosig glänzten, starrten sie ihn völlig fassungslos an. Einer von ihnen kratzte sich verlegen am Hintern. Dann brüllten sie fast gleichzeitig los: «Kalle! He, Kalle! Mach mal hin, eh!» Kalle stürzte mit mehreren Begleitern durch die Abteiltür. Sie alle waren Skins. Und Kalle gab mit den Zentnern, die er auf die Waage brachte, einen erstklassigen Boss ab.
«Wat is los? N’ Kaffer klatschen oder wat?»
«Blödsinn. Da! Guck dir den mal an, eh!»
Kalle schob sein Gesicht bis auf ein paar Zentimeter an das von Elmar ran. «lck faul ab, eh!Det is Adolf!»
Elmar rutschte in sich zusammen. Was für ne Scheisse, dachte er, was ist das nur für eine Scheisse! Er hatte nicht den geringsten Schimmer, was die von ihm wollten.
Kalle holte ein Photo aus der Innentasche seiner Lederjacke. «Hier, kieck mal!»
Elmar begriff die Welt nicht mehr. Der Mann auf dem Bild war er. Nur dass der da ein schmales Bärtchen auf der Oberlippe trug. Aber sonst…
Kalle hatte jetzt Haltung angenommen und strahlte: «Det is der Führer!»
Elmar verstand noch immer nichts. Einer der anderen Skins berührte ihn beinahe sanft an der Schulter. «Keene Angst, Hitler. Wir tun dir nichts.» Kalle steckte das Photo wieder ein. «Keener tut dir wat, Hitler. Wir mögen dir.» Elmar versuchte zu lächeln. Es misslang ihm.
Sämtliche Fahrgäste hatten das Abteil inzwischen verlassen. Jetzt gab es hier nur noch ihn und ein gutes Dutzend übergeschnappter Skins, die ihn bestaunten. Was immer sich hier abspielte, soviel stand fest: lebend würde er hier nicht mehr rauskommen. Wenn er auch nur daran dachte, drehte sich ihm der Magen um. Die Skins schienen davon nichts zu bemerken.
Kalle holte eine Packung Zigaretten hervor. «He, Hitler, sach mal, rauchst du eigentlich?» Elmar schüttelte den Kopf und Kalle drehte sich zu den anderen um. «Eh, ihr Scheisser, wie war det – hat Hitler eigentlich geraucht?»
«Nee, det stimmt schon so. Hitler hat nich geraucht.»
Kalle strahlte schon wieder.
«Sach ick doch. Det is wie echt, eh!» Er steckte sich selber eine an und blickte triumphierend in die Runde. Es war ein grosser Tag für jeden von ihnen.
Nur ein paar waren nicht ganz so beeindruckt. «Wenn det Hitler is, Kalle, wieso trägt er denn Turnschuhe?»
Kalle zog die Stirn in Falten und begann, Elmars Füsse anzustarren. «Hör mal, Hitler, eenes musst du uns versprechen: zieh bloss keene Turnschuhe mehr an, wa? Und denn lasse dir so nen kleenen Bart stehen,eh!»
Elmar nickte. Der Alptraum nahm kein Ende. Wieso bloss machten die ihn nicht fertig? Die U-Bahn raste durch die Stadt. Sie war zur Falle geworden für ihn. Zur Mausefalle für Hitler.
Die Skins konnten offensichtlich nicht genug von ihm kriegen. An irgendeiner Station bekamen sie schliesslich Durst und stiegen aus. Kalle war schon an der Tür, als er sich noch einmal umdrehte: «Wir kommen jetzt jeden Tag, wa! Und wenn du morgen keene Stiefel trägst, verjesse ick mir, Hitler!»
Elmar arbeitete am anderen Ende der Stadt. Er hatte keine Wahl, was das U-Bahn-Fahren anbelangte. Voller Panik liess er sich ein rechteckigesBärtchen auf der Oberlippe stehen und begann, in Militärstiefeln herumzulaufen.
Die Skins patrouillierten jeden Tag in der U-Bahn, und Elmar kam noch immer verdammt gut bei ihnen an. Eines Tages passten sie ihn schon am Fabriktor ab. Kalle nahm ihn am Arm.
«He, Hitler! Komm her, Hitler! Wir haben wat für dich!»
Sie liefen eine ganze Weile. Dann waren sie da. E s war eines dieser Abbruchhäuser,und das ganze Haus war voller Skins. Es waren beängstigend viele. Kalle schob Elmar an ihnen vorbei in eines der Zimmer im Erdgeschoss. Bis auf ein Mädchen war niemand darin. «Pass auf», sagte Kalle, «det is Eva. Eva Braun.» Dann ging er raus und schloss die Tür hinter
sich.
Elmar fand, dass dieses Mädchen einige Nummern zu gross war für ihn, und er verstand nicht, weswegen sie ihn auf diese eindeutige Art und Weise anlächelte. Eva begann, sich an ihrem Strumpfhalter zu schaffen zu machen.
«Na, mein Kleener, wie hätten wirs denn jern?»
«So wie der Führer nehme ich an…»
«Det hätte mir och jewundert!» Eva fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. «Na, denn zieh dir mal aus, wa?»
Elmar stieg aus seinen Stiefeln, aus dem Rest seiner Kleidung. Dann stellte er sich auf das Bett und riss den rechten Arm in die Höhe. Eva hatte einige Mühe, ihre Sache gut zu machen.
Als Elmar das Zimmer wieder verliess, waren die Skins in Bewegung gekommen. Einer von ihnen stiess Elmar raus auf die Strasse: «Freu dir, Hitler, heute jibts Krieg!»
Einige Blocks weiter bewegten sich zwischen fünfzig und hundert aufgebrachte Linke auf sie zu. Keine Frage, weswegen sie hier waren. Die Skins lauerten hinter der Tür und soffen sich Mut an. Dann kamen sie raus. Elmar befand sich plötzlich inmitten einer Unmenge rotierender Fäuste und Stiefel. Er stellte fest, dass er vor Angst schlotterte. Ganz egal, in was er auch reingezogen wurde, er zog immer den Kürzeren. Im Grunde war es dasselbe wie damals in der U-Bahn, nur dass er diesmal eine reelle Chance besass, sich zu verdrücken.
Elmar versuchte, unbemerkt in die nächstbeste Seitenstrasse abzudriften.
Plötzlich stand Kalle vor ihm: «He, Hitler!Wo willst du hin, du feige Sau?» Er war mörderisch in Fahrt.
Elmar begriff, dass es nicht nötig war, zu antworten. Dann spürte er den ersten Schlag. Elmar schrie los. Und Kalle schlug, schlug, schlug.
Elmar wurde übel, als er das Blut im Mundwinkel schmeckte. Aber dennoch: zum ersten Mal seit Wochen begann er die Welt wieder zu verstehen. ■

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Lothar Becker

Lothar Becker - Glarean MagazinGeb. 1959 in Limbach-Oberfrohna/D, zahlreiche Lyrik- und Prosa-Publikationen in Büchern und Zeitschriften, Veröffentlichungen von Musical- und Theater-Stücken, lebt als Jugend-Sozialpädagoge in Lembach/D

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Kurzprosa von SAID

Posted in Kurzprosa, Literatur, Neue deutsche Literatur, Neue Prosa, SAID by Walter Eigenmann on 8. Juli 2015

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ida kommt nicht mehr

S A I D

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«den ort bestimmst du, ich komme dorthin – wenn auch mit ein wenig verspätung.»
so lautete idas mail vor dem ersten rendezvous.
er wartete gerne auf sie.
von dem trottoir gegenüber kam eine frau in einem minirock auf ihn zu.
«sie hat einen entschlossenen ausdruck», dachte er.
sie setzte sich neben ihn und zeigte viel von ihren beinen.
«ida kommt nicht, ich heiße arlette.»
er bekam kein wort heraus.
«sie hat mich geschickt für dich.»
«sie hat was?»
«ida meint, ich würde gut zu dir passen.»
mit 175 cm war ida größer als er; arlette war klein, um die hüften ein wenig plump.
inmitten seiner überlegungen meldete sich die neue:
«wir können in einen park gehen und uns auf eine bank setzen.»
dort auf der bank legte sie die beine übereinander, wippte mit dem fuß und wartete.
er griff in ihre bluse, sie verwehrte ihm nichts und folgte seiner hand.
hernach suchte er nach einer phrase und sprach von ida.
«die liaison mit ihr hat mit scheuen blicken begonnen und ein paar flüchtigen worten.»
«höre ich schon einen vorwurf?» fragte sie.
«selbst ihre stimmen sind so verschieden: ida hoch und schrill, arlett warm und dunkel», dachte er und suchte nach einem ausgang für die situation.
nach der dusche lief arlette nackt in seiner wohnung herum.
«ein beinah gedrungenes mädchen», sinnierte er.
sie kämmte und schminkte sich mit wenigen bewegungen, schlüpfte in den minirock und ging mit ihm hinaus.
«du ziehst die blicke der männer an.»
«ich genieße es, daß sich alle an mir sättigen», schmunzelte sie, «mit ihren blicken.»
«ida hätte so einen satz nie ausgesprochen.»
«menschen, die nicht lügen können, taugen nicht für eine liebesbeziehung», flötete sie und hängte sich bei ihm ein.
«was mache ich mit diesem tierchen?» überlegte er.
nachts schlief jeder in seinem bett.
die tage teilten sie sich, die nachmittage nackt.
sie legten sich hin, ohne sich auszuziehen, sie drückten die handflächen gegeneinander. er sprach von ida. arlette kannte das schon, ließ das eine weile geschehen und schlenkerte sich dann die schuhe von den füßen. sie liebte es, genommen zu werden, unter dem tageslicht.
er betrachtete die gegend um ihre augen und verriet sich:
«wir müssen klare spielregeln festlegen.»
«die eindeutigkeit ist nur eine form von sauberkeit», und sie wühlte in seinem haar.
«spielregel bedeuten pufferzonen, und die sind nötig.»
«du meinst leerräume», schnaubte sie.
er hob die schulter.
«vor allem müssen wir dein gedächtnis trainieren», arlette ließ sich zeit, bevor sie hinzufügte: «damit du ida vergißt.»
sie erwartete keine antwort, aber es kam eine.
«warum sollte ich sie vergessen?»
«um näher zu kommen.»
«weißt du, wie lange ich mit ida war?»
«ich weiß es», sie küßte sein ohr: «drei jahre, acht monate und sechs tage.»
«das weißt du?»
«ich weiß noch mehr», und ihre stimme wurde dünn.
«zum beispiel?»
arlette wollte ihn nicht verlieren und begann zu erzählen, bis kein geheimnis mehr in ihrer erinnerung geblieben war.
er sagte nichts und starrte sie an.
«was hältst du von masken?»
«nichts», antwortete er.
«aber es gibt nacktheiten, die danach schreien», sie wurde rot im gesicht, als hätte sie etwas schamloses gesagt.
«es ist schlimm, wenn einem die gabe des schweigens fehlt», war seine erwiderung.
«meine geheimnisse fallen aus mir heraus, wenn sie gereift sind», sagte sie und schluckte.
er schwieg.
«wäre ich in der dunkelheit geblieben», dachte sie und kehrte zur demut zurück:
«in mir gibt es nichts, was endgültig wäre.»
«ob die ausstrahlungen deiner unruhe für meine wirklichkeit brauchbar sind?»
sie begann sich anzuziehen.
«der mensch kann nicht bestehen, wenn er geöffnet vor den blicken eines anderen daliegt», und er machte eine vage geste. ■

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S A I D (Pseudonym)

Literatur-Kurzprosa-SAID-Glarean-Magazin-2015Geb. 1947 in Teheran geboren, 1965 Übersiedlung als Student in die BRD, 1979 Rückkehr in den Iran, jedoch bald darauf und seither aus politischen Gründen wieder im deutschen Exil lebend; zahlreiche Lyrik- und Prosa-Publikationen in Büchern und Zeitschriften, Träger verschiedener internationaler Literatur- und Kultur-Preise; 2000 bis 2002 Präsident des PEN-Zentrums Deutschland; lebt in München

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Zwei Kurzprosa-Texte von Martin Kirchhoff

Posted in Kurzprosa, Literatur, Martin Kirchhoff, Neue deutsche Literatur, Neue Prosa by Walter Eigenmann on 20. Februar 2015

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Strandleben

Martin Kirchhoff

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Langsam lasse ich mich auf dem braunen Steinblock nieder und warte ab. Endlich rattert der grüne Zug über die Brücke, dann scheint er sich im Grün des Dammes aufzulösen, bevor er verschwindet. Eine schwarze Wolke, die der Wind über das Land meerwärts treibt, verschluckt die Sonne. Noch schaue ich dem Zug nach, mein Blick gleitet suchend über die Grasfläche, die der Wind mit seinen salzigen Fingern durchkämmt. Tief Luft einziehend springe ich auf, strecke meinen Körper, trete dann vor an den Rand. Angekommen, zögere ich. Sand rieselt abwärts zum Strand, der sich dem Meer zuwellt, bis die Wasserwellen ihn verschlucken. Endlich springe ich lachend hinab.
Über dem Meer gleitende Möwen ziehen meine Aufmerksamkeit auf einen grauen Stein im Wasser, auf dem ein Kormoran beide Flügel spreizt. Jesus auf einer Insel vor einer Insel, kommt mir in den Sinn. Up, up, ruft ein Mann seinem Schäferhund nach, der Sand aufwirbelnd davonrennt, vorbei an zwei Frauen, die in ihrem Gespräch vertieft unbeirrt weitergehen. Regen prasselt nieder, die Luft riecht schwer, leichter Dampf steigt vom Sand empor. Noch auf dem Stein, mit angelegten Schwingen, erweckt der wieder zum Vogel gewordene Kormoran keine Sinnbilder in mir. So bleibe ich hängen auf einem Punkt eines weiten Strandes. Ich genieße die Regentropfen. Grenzstreifen zwischen Land und Atlantik. Zwei Welten einer Welt. Eine junge Frau nähert sich. Sie bückt sich, nimmt eine Muschel auf, gleich die nächste. Die schwarzen Wolken ziehen weiter zum Meer hinaus. Im hohen Bogen wirft die Frau eine der Muscheln von sich, den Wellen zu. Am Horizont ist ein Schiff sichtbar. Es scheint sich nicht zu bewegen, steht kurz im Kontrast zur Frau, die mit schräg geneigtem Haupt meerwärts strebt. Plötzlich bückt sie sich erneut und nimmt die nächste Muschel auf, während die Wellen ihre Füße umspülen. Mit hohem Satz hüpft sie rückwärts in die abziehenden Wellen. Rasch streicht sie sich mit der linken Hand über ihre Stirn. Das Schiff klebt noch am Horizont, weit im Norden erheben sich die Berge. Zwischen ihnen und mir ist ein roter Leuchtturm. Der rennende Schäferhund schiebt sich in mein Gesichtsfeld, vor dem Leuchtturm, eine Frau wirft Muscheln hoch, die sie auffängt, schnell und schneller, zwei Frauen reden aufeinander ein, die Berge schieben sich ins Meer.
Hier werde ich bleiben. Auf dieser Stelle werde ich das Meer erwarten. Der Kormoran ist verschwunden; irgendwo über dem Meer unterwegs, das sich nähert, mir zuwellt, das kommt. Möwen kreischen im Gleitflug, die Berge schwimmen zum Schiff, das sie erwartet. Kommkomm, verstehe ich die Möwen, strecke meine Arme aus und bleibe stehen. Kommkomm, denke ich, wartend, erwartend, kommkomm, singt die Muscheljongleurin in der Ferne, neben dem Leuchtturm, der mit seinen scharf gebündelten Lichtstrahlen dem Wasser des Boyne den Weg zum Meer weist. Hinter mir verschwimmt die Sonne im Westen im Atlantik. Dazwischen das Inselland. Stärker rieche ich den Tang, das Parfüm des Meeres, näher züngeln die Wellen heran, nehmen das Grenzland auf. Ob ich über das Wasser gehen kann, weiß ich nicht. Bald werden die Wellen bei mir und ich nicht mehr allein sein.
Das Sonnenlicht bricht durch die dunklen, aufgebauschten Wolken, der Wind spielt in meinem Haar. Kein Kormoran sitzt auf dem Stein und ich gehe ein wenig enttäuscht weiter. Zwei Frauen wandeln schweigend dem Leuchtturm zu. Meine Augen folgen ihnen, bis sie unerwartet an einem Stein im Wasser hängen bleiben, der gestern nicht dort war, auf dem mit gespreizten Flügeln ein Kormoran steht. Die Berge sind, wo sie waren und hingehören. Das Schiff machte zwei Frachtern Platz. Dann entdecke ich auf dem Stein hinter dem Kormoran eine Muschel. Vielleicht kommt sie wieder vorbei, denke ich, kommkomm, Muschelfrau und betrachte den Kormoran, der sich auf den Stein setzte, als warte er. Kommkomm, flüstern die Wellen, kommkomm, denke ich und weiß, ich werde warten.
Nachts spüre ich die Wellen, die mich umspielen. Aus dem Nichts der Dunkelheit erscheint leise singend die Muschelfrau. Sie streckt sich, lässt sich dann auf mir nieder. Kommkomm, scheint sie zu singen, ich bin da, ein gelbbrauner, mit ein paar weißen Adern durchzogener Stein. ■

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Eigentlich könnten wir glücklich sein…

Martin Kirchhoff

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Wieder in der S-Bahn unterwegs zur Arbeit. Tägliche Tretmühle. Zweygarth betrachtet Sonja, die mal wieder ihm gegenüber sitzt. Ihr Kiefer bewegt sich monoton, wie immer nach einem Streit. Diesmal war es die Marmelade, die ihre Gemüter erhitzte. Sonja starrt durchs Fenster auf die fliehende Landschaft.
Die Bahn hält, Menschen drängen sich herein, müde Welten, griesgrämige Gesichter. Zweygarths Augen springen hin und her, auf vager Suche nach einer anderen, schöneren Welt. «Eigentlich», denkt er, «könnten wir glücklich sein», und schüttelt den Kopf. Plötzlich wendet sich Sonjas Gesicht ihm zu, aus dem kurz und bündig ihre Zunge schnellt, bevor sie sich wieder abwendet. Verärgert zwar, bleibt Zweygarth ruhig und lässt seine Zunge im Mund.
«Waren wir damals glücklich», fragt er sich, «vor fünf Jahren?» Langsam zieht er die linke Schulter hoch und schneidet eine dumme Fratze.
«So ein Blödsinn», skandiert irgendwo im Waggon einer. «Hartz wie viel auch immer, steigende Preise», labert die Stimme weiter. «Massenverblödung von oben», quiekt eine Frau auf, «jawohl!»
Zweygarth lächelt hämisch vor sich hin, Sonjas Kopf ruckt, ihre Augenbrauen springen hoch, zugleich schießt erneut ihre Zunge Zweygarth zu, dessen Lächeln auf den Lippen erstarrt.
«Immerhin fünf Jahre durchgehalten», resümieren Zweygarths Gedanken. «Darüber könnten wir glücklich sein.»
«Ha», manifestiert eine Frauenstimme, «wir haben Hitler geschafft, das Wirtschaftswunder – die Wiedervereinigung schaffen wir auch noch!» Gemurmel schwillt an. Zweygarths Gedanken springen über in die Abteilung des Amtes, in der er seit vielen Jahren werkelt. «Blöde Beamte, blöder Trott», denkt er, «aber wäre ich nicht dort, wäre ich wohl gehartzt. Also bin ich übers Unglück glücklich. Könnte schlimmer sein. Lieber aus einem Blechnapf essen als vom Boden fressen!»
«Wir können alles außer glücklich sein», trompetet eine jugendliche Stimme hinter ihm. Gelächter kommt auf. Zweygarth beugt sich Sonja mit aufgesetztem Lächelgesicht zu, räuspert sich, raunt ihr dann dunkel zu: «Eigentlich könnten wir glücklich sein…» ■

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Martin KirchhoffMartin Kirchhoff

Geb. 1954 in Leonberg/D, zahlreiche Lyrik- und Prosa-Publikationen in Büchern, Zeitschriften und Anthologien, verschiedene Literaturpreise, lebt als Zeitungskorrektor in Leonberg

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Weitere Texte von Martin Kirchhoff im Glarean Magazin

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Drei Gedichte von Susanne Rasser

Posted in Glarean Magazin, Literatur, Neue deutsche Literatur, Neue Lyrik, Susanne Rasser by Walter Eigenmann on 7. November 2014

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Richtungsweisend

Atem schöpfen, die Schultern
ausrichten. Den Kopf, den Blick
nicht senken.

Die schlechten Karten
wie Trümpfe auf den Tisch
legen. Abstoßen.

Aufstehen. Die Sohlen vom Boden
lösen, den Schritt
abfedern. Und dann,

immer den eigenen Füßen
nach, sie zeigen unverwandt
nach vorn.

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Erstes Abendmahl

Nimm dir ein Herz,
gern auch meins,
fasse Fuß

im Mut.
Gib dem Zweifel
keinen Brösel

von dem Brot,
das ich buk,
das du nun

für uns brichst.

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Bankrotterklärung, abgerissen

Kein Haus. Kein Baum. Kein Kind.
Keinem Staat und auch der Kirche nicht.
Null Dienstbarkeitsgefühl. Kaum Machtgelüste.
Zig Träume in den Sand der Welt gesetzt.

Mal da, mal dort, mal schwer vermittelbar.
Gelebt: geliebt. Gelacht. Genossen.
Manch‘ Scherbe in den Fuß getreten,
somit aus dem Weg geräumt.

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Susanne Rasser - Glarean MagazinSusanne Rasser

Geb. 1965, lebt als Autorin von Lyrik, Erzählungen und Drehbüchern in Rauris/A

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Satire von Dorit Böhme

Posted in Dorit Böhme, Glarean Magazin, Literatur, Neue deutsche Literatur, Neue Prosa, Satire by Walter Eigenmann on 18. Juli 2012

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Von den Freuden des Schreckens

Dorit Böhme

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Frage: Womit verschafft man einer Dorfgemeinschaft den größtmöglichen Lustgewinn? Antwort: Mit einem Erlebnis, das die eigene Familie betrifft und der Vorstellungskraft der anderen einen Schubs gibt, um sie zu ungeahnten Höhenflügen aufsteigen zu lassen.
Dies rühmliche Werk der Nächstenliebe tat ich unlängst – ohne Rücksicht auf eigene Verluste. –
Meine Phantasie schwebte in der sechsten Dimension. Ich hämmerte in meine Schreibmaschine – Geniales und Blödes (ersteres verschwindet leider immer im Papierkorb). Da kam der Sohn von der nachmittäglichen Schule nach Hause und unterbrach meine Schaffenskraft mit dem Begehren, ich solle seine Aufgaben kontrollieren – eine Herausforderung an die Anpassungsfähigkeit des Geistes!
Nach einer weiteren Stunde begann ich unruhig zu werden: da fehlte doch etwas? Richtig: wo blieb die Unterbrechung durch meine Tochter? Ein Blick auf ihren Stundenplan bestätigte meinen mütterlichen Instinkt. Sie hätte schon vor sechzig Minuten – trödelt sie noch: vor dreißig Minuten – im fürsorglichen Elternhause eintreffen müssen. Nur: sie war nicht da, wie ein Kontrollgang durch alle Räume (einschließlich Kohlenkeller) zeigte.
Angeregt durch vielseitige Medienwahrheiten versuchte ich das Problem einzukreisen: Mord, Kidnapping, Vergew… – oder spielte sie seelenruhig bei einer Schulkameradin?
Anrufe würden zu lange dauern und wurden von mir aus Kostengründen – 1500 Einwohner – auch abgelehnt. Ich wählte den schnellsten Weg, stürzte auf die Straße und fragte das Nachbarskind, ob es meine Tochter nach der Schule noch irgendwo gesehen habe.
«Jessica ist von der Schule nicht heimgekommen!», brüllte die Kleine den mit fragenden Blicken zufällig herumstehenden Frauen entgegen.
Wie eine Feuersbrunst breitete sich die Nachricht aus, schneller, als ich die Straße hinunterlaufen konnte, um im Schulhaus bei der Lehrerin nachzufragen. Ergebnislos.
Während ich wie ein aufgescheuchtes Huhn hinter jedem Strauch und neben jedem Haus nach verscharrten Beinen forschte, sahen mich die spalierstehenden Mitmenschen kämpferisch und mitleidig an. Offensichtlich durchzuckten die gleichen Gedanken ihre Köpfe.
In mir bäumte sich mein Mutterlöwenherz auf und suchte bereits die passende Rache für den Übeltäter. Kopf ab, vierteilen, in kochendem Wasser brühen, zu Hackfleisch machen – und dies nicht nur sinnbildlich gemeint.
Was konnte ich noch tun? Jeder Lehrer, Hauswart, Jogger und Handelsreisende war inzwischen über die schrecklichste aller Wahrheiten informiert. Polizei alarmieren – oder erst mein angetrautes Prachtstück? Aber das war diese Woche irgendwo auf einer Geschäftstour und – beinahe selbstverständlich – nicht zu erreichen…
Nachdem mein Gehirn alle Eventualitäten und Möglichkeiten erschöpfend abgehandelt hatte, klärte sich meine Verwirrung zu der Erleuchtung, dass heute Dienstag war – und Jessica jeden Dienstag, direkt nach der Schule, zu ihrer Ballet-Doppelstunde ging. –
Völlig ermattet, aber zufrieden so wehrhaft für das Wohl meines Kindes eingetreten zu sein, ließ ich mich auf den Schreibtischstuhl nieder und beantwortete alle tausend Anrufe der besorgten Dorfbewohner. Ihnen hatte ich ein markerschütterndes Erlebnis geliefert, welches den Grundstock für manches zukünftige Gespräch bilden konnte.
Ich hätte ihnen keinen größeren Dienst erweisen können! ■

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Dorit Böhme

Geb 1954 in Berlin-Köpenick; Ausbildung zur Zahnarztgehilfin; Prosa – und Reportagen-Veröffentlichungen in Zeitschriften; Lebt als Massage- und Hypnose-Therapeutin in Widnau/CH

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Kurzprosa von Oliver Gassner

Posted in Glarean Magazin, Literatur, Neue deutsche Literatur, Neue Lyrik, Oliver Gassner by Walter Eigenmann on 29. Juni 2012

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Freudiana I & II

Oliver Gassner

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FREUDIANA I

Er holt mit der machete aus und schlägt in die grünen pflanzenleiber.
So bahnt er sich seinen weg.
Mit leisem zischen gibt die luft ihm raum.

Das knacken des schlags das feuchte geräusch wenn die klinge sich
wieder vom stengelfleisch löst klingen wie gebete in seinen
gottesohren.

Als er die augen öffnet klebt an der machete blut.

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FREUDIANA II

Das erste was man an ihm bemerkt ist die rechte hand im schwarzen
handschuh zur faust geballt. Im sessel sitzend hat er den ellenbogen
auf die lehne das kinn seitlich in die lederfaust gestützt. Scheinbar
teilnahmslos die lider halb geschlossen formen die lippen lautlos worte
einer vergessenen sprache, die ergrauten haare wollen nicht recht zur
jugendlich muskulösen Statur des fremden passen. Nur in den
hellgrauen augen des schmalen gesichts finden sich spuren von
schrecken schmerz leid. Er wird warten. Bis der junge mann zu ihm tritt
und ihn nach seinem leiden fragt. Und antworten. Unsterblichkeit.

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Oliver Gassner

Geb. 1964 in Hegau/BRD, langjähriger Mitherausgeber der eingestellten Literaturzeitschrift ‘Wandler’, verschiedene Veröffentlichungen in deutschsprachigen Literaturzeitschriften, schreibt nach Ausflügen in Copy Art und experimentelle und digitale Literatur und nach einer Kreativpause wieder Gedichte.

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Drei Poesien von Magdalena Jagelke

Posted in Glarean Magazin, Literatur, Magdalena Jagelke, Neue deutsche Literatur, Neue Lyrik by Walter Eigenmann on 14. Oktober 2011

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Zu lieben

Ich stand am Fenster ich warf Blumen. Traf eine Blume dort unten jemanden, ein Wunsch, ich flüsterte Herz antworte.

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Mär

es ist stets dieselbe Mär das fromme wildgewordene Volk treibt ihn durch das Dorf und es greift ihn das Volk schubst ihn in ein Feuer er jedoch fleht das fromme Volk an: ich will leben! lasst mich leben! das fromme Volk ist unbarmherzig es antwortet nein Bestie stirb! an dieser Stelle der stets selben Mär wird er wach und er schreit

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Herz

Das Herz ist umschlossen von Pöbeleien.
Es schimpft, lässt die Landschaft welken.
Es grölt schmerzt, ich spuck’s in die Aussicht.
Es folgt dem Zug. Ich bin auf der Flucht.

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 Magdalena Jagelke

Geb. 1974 in Polen, 1986 Auswanderung nach Norddeutschland, Studium der Anglistik, Publikationen in Buch-Anthologien und Literaturzeitschriften, lebt seit 2002 in Köln

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Lyrik von Johanna Klara Kuppe

Posted in Glarean Magazin, Johanna Klara Kuppe, Literatur, Neue deutsche Literatur, Neue Lyrik by Walter Eigenmann on 13. Februar 2011

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Seiltänzerin

die blüten im

korb blühen

nicht zartrosa das

kleid den kopf

gesenkt auf dem

seil schweben die

augen abschied angst

in den füßen

gestern sie weiß es

noch blühte das

all

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vielleicht hans

hans im glück heißen

alles schwere ab

geben gehen laufen

tauschen alles gegen

luft wind wiesen

unbekümmert

viele augenblicke hans

hans im glück

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Wien

blendet gold

weiß ratlos dein

herz schunkelt im

wiener wald

rote teppiche treppen

hinauf prickelt

sekt im rücken im

kino flimmert

weiter rosa blick

über die taiga

deine hand sucht

mein bein und höher

hinauf blaut der

himmel

stand by me winken

die statuen mit

fallenden blättern

stand by me

singst du ich lache

frost atmet im park

von schönbrunn

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Johanna Klara Kuppe

Geb. 1948 in Wuppertal/D, Erzieherin, Musikalienhändlerin, Veröffentlichungen in verschiedenen Anthologien, lebt in Waiblingen/D

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