Thomas Stabenow: «Die Klavierstücke»
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Hochkarätige Werke, feines Musizieren
Klaus Nemelka
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Ein Landespreis für Musik ist eine feine Sache, steht durch ihn doch sozusagen von höchster Stelle fest, wer die Besten in einer musikalischen Kategorie eines Bundeslandes sind. Über die Grenzen des «Ländle» hinaus kann der Jazzpreis Baden-Württemberg auch als eine Art Orientierung darüber verstanden werden, wer so die Jazz-Größen in Deutschland sind. Wenn also Rainer Böhm, der baden-württembergische Jazz-Preisträger des Jahres 2010, mit Thomas Stabenow, dem baden-württembergischen Jazz-Preisträger von 1986, gemeinsame Sache macht, kann daraus sehr feine Musik entspringen.
Somit war Pianist Rainer Böhm, der die Werke des Jazz-Musikers Thomas Stabenow «vertonen» sollte, für die Umsetzung des «Klavierstücke»-Projektes die erste Wahl. Bei einer Tour der beiden Preisträger mit Ingrid Jensen und Jürgen Seefelder konnten Böhm und Stabenow in München auch noch Jason Seizer, dessen «Pirouet Studio» und den dort zur Verfügung stehenden «Steinway»-Flügel für das Projekt gewinnen.
Der Kontrabassist, Komponist, Produzent und Hochschullehrer Thomas Stabenow ist u.a. mit Johnny Griffin, Charlie Rouse, Clifford Jordan, Albert Mangelsdorff, Mel Lewis, Jimmy Cobb aufgetreten, hat als «sideman» auf über 150 LPs und CDs mitgewirkt, sowie 3 LPs und 26 CDs auf seinem eigenem Label «Bassic-Sound» aufgenommen. Als Mitglied der «Peter Herbolzheimer Rhythm Combination & Brass» war Thomas Stabenow zudem mit Stan Getz, Chaka Khan, Dianne Reeves, Eartha Kitt und Al Jarreau auf der Bühne.
Rainer Böhm hat unter anderem beim «Jazz Hoeilaart International Belgium» und beim internationalen Jazzwettbewerb in Getxo (Spanien) den Preis für den besten Solisten gewonnen, seine CDs wurden mehrfach mit dem Vierteljahrespreis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet.
Bei den «Klavierstücken» handelt es sich um Werke, die sich bei Thomas Stabenow über einen längeren Zeitraum angesammelt hatten. Die Umsetzung dieser musikalischen Ideen – neben dem «Tagesgeschäft» der Auftritte und der Lehrtätigkeit an der Musikhochschule Mannheim – sah Stabenow als eminent wichtig an. Ein Vorgehen übrigens, welches er, wie er betont, vom dem österreichischen Pianisten Fritz Pauer gelernt hatte: Eine musikalische Idee zum Abschluss zu bringen, koste es, was es wolle, um Platz für neue Ideen zu schaffen.
Dass er diese Ideen Rainer Böhm anvertraut und nicht selbst eingespielt hat, hielt Stabenow für ratsam, da er, um sein internationales Niveau als Kontrabassist zu halten, das Klavierspielen vernachlässigen musste, er aber für seine Stücke höchstes Niveau (zurecht) für durchaus angemessen hält.

Die rundum gelungene CD bietet für den Jazz-Kenner 16 Piano-Titel von Thomas Stabenow, hervorragend «vertont» durch den Pianisten Rainer Böhm. Schade, dass die Gesamt-Spieldauer mit nur 37 Minuten etwas gar mager ausfiel. Aber davon abgesehen eine qualitativ hochstehende Einspielung – genau richtig als Geschenk unter den Weihnachtsbaum des Jazzpiano-Freundes!
Dass das Repertoire von Thomas Stabenows Werken nicht nur exzellent umgesetzt, sondern auch äußerst vielfältig ist, wird schon beim ersten Durchhören der CD klar: Bereits der erste Track «Bass erstaunt» bietet die Möglichkeit, mit einem Bass-Ostinato über eine phrygische Skala zu improvisieren. Wer da schon staunt, will weiterhören: Der Titel «Mon Ami», entsprungen aus einer Co-Komposition mit seiner Tochter, ist ein leichter Valse-Musette und erinnert durch seine Akkordfolge an «Autumn Leaves». «Amagansett» und «Via Petrarca» wiederum zeigen eine schöne Nähe zum Bach‘schen Wohltemperierten Klavier. «Pirx» ist ein eleganter Jazz-Waltz, der unter anderem auch auf Johannes Enders CD «Homeground» verewigt wurde.
Überhaupt findet man die einzelnen Tunes vielfach auch in Versionen hochkarätiger Kollegen von Stabenow: So wurde der «Hit» dieser CD, «Chutney», unter anderem von Wolfgang Haffners «International Jazz Quintet», von «Trombonefire» oder dem Bundesjugendjazzorchester (noch unter der Leitung des inzwischen leider verstorbenen Peter Herbolzheimer) interpretiert.
«Plaun a plaun», rätoromanisch für cool oder «gemächlich», erinnert im Thema an Katschaturian, bevor das Stück sich im Improvisationsteil dann als grooviger Moll-Blues entpuppt. Die Namensidee zum Stück «Plusquamparfait» kombiniert die grammatikalische Form, dass ein Geschehen zeitlich vor einem anderen vergangenen Geschehen eingeordnet wird, mit einer leckeren französischen Nachspeise…
Die rundum gelungene CD bietet für den Musikkenner schließlich noch ein Extra-Schmankerl: Die Noten zur CD gibt’s als kostenlosen Download auf der Website von Thomas Stabenow. ■
Thomas Stabenow: Die Klavierstücke, Rainer Böhm (Piano), Audio-CD, 37 Min, Bassic Sound.
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Geb. 1970, früher Journalist bei verschiedenen österreichischen und deutschen Medien, lebt als PR-Manager und Jazz-Freund in Wien/A
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Noten-Leseprobe
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David Gorton: «Trajectories»
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«Neue Musik» in alten Bahnen
Michael Magercord
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Die Neue Musik gibt es nun schon so lange, dass man durchaus von alter und neuester Neuer Musik sprechen kann. Doch wo verläuft die Grenze zwischen Neuer und Neuester Musik? Wie in allen Künsten sind die Schnittlinien zwischen alt und neu fließend, es lassen sich jedoch Trends und Tendenzen heraushören, die einen kommenden Umschwung andeuten. Und in jüngster Zeit scheinen vor allem die jüngeren Komponisten wieder eine erleichterte Hörbarkeit ihrer Werke anzustreben, oder anders gesagt: Es entkrampft sich einiges in der Szene der Neuen Musik.
Doch es gibt daneben natürlich noch die Exponenten der «guten alten» Neuen Musik, jene nämlich, die sich dem Experiment und der Herausforderung von Hörern und Musikern verschrieben haben, und die sich die kompositorische Freiheit nehmen, sich gänzlich dem Zwang der künstlerischen Innovation zu ergeben.
Ein Zeugnis dieser fast drei Jahrzehnte lang die Szenen bestimmenden Kompositionen legt noch einmal die CD «Trajectories» (Youtube-Video) ab – zu deutsch «Flugbahnen» -, auf der Werke der Kammermusik des britischen Komponisten David Gorton (geb. 1978) versammelt sind. Die erst jetzt veröffentlichten Aufnahmen stammen aus den Jahren 2005 und 2006, haben also nach den Maßstäben des Genres einige Zeit auf dem Buckel. Es sind Beispiele einer hochinnovativen Musik, in der alles ausprobiert wird, was klassische Musikinstrumente hergeben.

«Sphärischer Klangbrei mit Hilfe von Drittelston-Stimmung»: Partitur-Auszug von David Gortons Streichquartett «Trajectories»
Was also ist das bestimmende Element dieses ältlichen Neuen? Es ist das Detail. Jedes einzelne Werk ist eine Reihung von Kleinstkompositionen, Note für Note sind gleich wichtig. Und manches Mal werden durch eine Anhäufung von Details gerade die Details zum Verschwinden gebracht: David Gorton nutzt dazu so genannte Mikrostimmungen, läßt also die Stimmung der Instumente um einen Drittelton verschieben, woraus oftmals lediglich ein sphärischer Klangbrei wird, etwas, das man heutzutage «Soundscape» nennt. Will man als Hörer in diesen Tonlandschaften nicht völlig orientierungslos umherwandeln, ist Konzentration gefordert, um sich selbst eine hierachische Abfolge zu erstellen, die daraus schließlich ein gesamtes Stück entstehen lässt.

Neue Musik an der «Grenze des Spielbaren»: Der englische Komponist David Gorton
Der deutsche Komponist Bernd Franke hatte einmal bei einer Veranstaltung im Prager Goethe-Institut die Frage: «Wozu braucht man Neue Musik?» beantwortet mit der Gegenfrage: «Wozu braucht man Musik?» Laut Booklet der CD von David Gorton soll dessen Musik an der Grenze des Spielbaren (Hörbeispiel) gehen, hinter der sich dann ein neuer Horizont auftue. Doch stellt sich die Frage, was dahinter liegen mag: das Unspielbare, das Unhörbare, die sinnfreie Innovation also? Diese Grenze allerdings hat auch die Musik von David Gorton (Video-Hörbeispiel aus «Erinnerungsspiel») nicht überschritten, und der für den Hörer vielleicht größte Gewinn liegt darin, dass diese CD auf musikalische Weise die Möglichkeit gibt, etwas zu erfahren von der Moderne und ihrer Fähigkeit, die Konzentration und Innovation auf etwas zu verlegen, was im Grunde keine Sinnfrage zuläßt: auf Elemente, Atome, Quanten – kurz: auf Details.

«Trajetories» von David Gorton ist eine Abfolge von sehr ähnlichen Stücken der sogenannten Neuen Musik, die sich aber in den bereits alten Bahnen dieses Genres bewegt: Absolute Innovation und konzentrationsfordernde Detailfreude. Das alles gereicht – auch dank der ausführenden Musiker – zumindest phasenweise durchaus zum «Hörgenuss».
Aber es ist eben doch Musik auf dieser CD, und es sind eben doch noch Musiker, die mit herkömmlichen Instrumenten für Hörbarkeit sorgen. Ein wunderbarer Einfall ist auch die Gegenüberstellung ein und desselben Stückes, der Sonate für Cello-Solo, in zwei Varianten: einer Studioaufnahme und einem Live-Mitschnitt. Es offenbaren sich gewaltige Abweichungen der zeitlichen Betonung unterschiedlicher Passagen. Und es zeigt sich die Überlegenheit der spontanen Fassung, der gegenwärtigen Konzentration und Unwiederholbarkeit der Live-Darbietung. Auch im weichen Geigenspiel von Peter Sheppard Skaerved im Titelstück, dem Streichquartett «Trajectories», wird deutlich, dass selbst derartige Musik eben doch Musik ist. Überhaupt sind es die Ausführenden, denen wohl zu danken ist, dass die Reihung von Bruchstücken als Stücke hörbar werden. Und der Dank kommt dabei sicher nicht nur vom Hörer, sondern vom Komponisten – sollte er jedenfalls. ■
David Gorton, Trajectories: Sonate für Cello solo (Studioaufnahme), Streichquartett Trajectories, Sonate für Cello solo (Live-Mitschnitt) – Neil Heyde (Cello), Peter Sheppard Skaerved (Violine), Roderick Chadwick (Klavier), Kreutzer Quartett, Label Divine Art / Metier
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Eugen Stefan Paschek: «Toulouse-Bordeaux mit TGV»
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«Toulouse-Bordeaux mit TGV»
Für Harmonieorchester
von Eugen Stefan Paschek
(Erst-Veröffentlichung)
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Titel-Seite – Leseprobe:
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Copyright Eugen Stefan Paschek, Marl/D – August 2009 – Erst-Veröffentlichung
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Eugen Stefan Paschek
Geb. 1937 in in Schwientochlowitz/Oberschlesien, Musikstudium an der Musikhochschule Kattowitz, Arbeit mit dem RTV-Rundfunk-Unterhaltungsorchester Kattowitz als Musiker und Komponist, 1980-1996 Kompositions-Mitglied des polnischen ZAKR, seit 1987 Deutscher Staatsangehöriger, lebt in Marl/D
Alle Rechte vorbehalten
[Aufführungen erwünscht; E-Mail an: eugen-paschek(ät)freenet.de ]
Partitur-Gratis-Download (49 Seiten A4, pdf-Format / ZIP – 72 MB
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Marcel Haag: «Enthüllung» (Erstveröffentlichung)
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Enthüllung
Polarbleich beranken die fasrigen Wolken
die Ränder des Morgens
Es tosen schwarze Tannen
in der Bise her und hin:
ein Zauberturm
Und der Ruf der Kirchenglocken
flutet durch den Mauerwald
wie ein oranges Lied
Wie könnt es anders sein?
Die Tauben fahren durch die Luft
zerfetzt ihr Flug zu Einzelheit
Die Sonne bäumt sich ganz diffus
aus ihrem Horst und sprengt
das laue Tuch des Raumes in die Weite
denn es log die Gleichheit allen Seins
im Dunkel
Aber ach
wie scharf ist bei Tag
ein Berg von einem Haus
und ein Saurier von einer Maus
getrennt
Marcel Haag, 1996
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Vertonung «Enthüllung»
für Bariton, Fagott, Violine, Kontrabass und DrumSet
Copyright 2009 by Marcel Haag / Alle Rechte beim Autor
Download Partitur (pdf)
Download Audio-Datei (mp3)
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Marcel Haag
Geb. 1969 in Arbon am Bodensee, Ausbildung zum Primarlehrer in Kreuzlingen, autodidaktische Weiterbildung zum Lyriker, Musiker, Maler und Fotograf, zwischenzeitlich Journalist bei der Basler Zeitung und beim «Nebelspalter», lebt in Basel
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Interview mit dem Komponisten Fabian Müller
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Neue Musik?
Der Zürcher Fabian Müller, studierter Konzert-Cellist, passionierter CH-Volksmusik-Forscher und früher vieljähriger Begleiter der Tessiner Sängerin «La Lupa», zählt mittlerweile zu den erfolgreichreichsten und vielseitigsten Schweizer Komponisten der jüngeren Generation. Da er sich, wie er sich selbst charakterisiert, «nie irgendwelchen Schulen oder Glaubens-Sätzen verpflichtet fühlt», und «intellektuell entworfene Konzepte, denen die Musik folgen soll», nicht sein Ausgangspunkt beim Komponieren sind, schlieβt sein bisheriges Oeuvre modernistische Elemente ebenso ein wie traditionelle. Seine Werke «schöpfen ganz aus der intuitiven Freiheit» (Müller).
Im Frühjahr 2001 nahm David Zinman zusammen mit dem Philharmonia Orchestra London eine CD mit Werken von Fabian Müller auf. Eine Produktion, die sich für das weitere Schaffen des jungen Zürcher Komponisten als sehr fruchtbar erweisen sollte.
Die Kunsthistorikerin, Autorin und Kulturjournalistin Margaret Jardas führte vor einiger Zeit mit Fabian Müller ein Gespräch, das wir hier (mit freundlicher Genehmigung des Komponisten) auszugsweise wiedergeben.
Margaret Jardas: Ihre Werke knüpfen irgendwie an die Klangwelt des Impressionismus an. Bei neuer Musik erwarte ich eigentlich ganz andere Klänge. Komponisten, die sich auf die eine oder andere Art von der Avantgarde abgewendet haben, schreiben mehr oder weniger tonale Musik. Ist das nicht ein Schritt zurück? Darf man da überhaupt von neuer Musik sprechen?
Fabian Müller: Was genau heiβt «neu»? Man muss sich heutzutage genau überlegen, was dieses Wort bedeutet, was denn überhaupt «neu» sein kann. Inhaltlich hat sich über die Jahrhunderte nicht viel geändert. Es geht immer noch um Liebe, Schmerz und Tod, um die Palette von Gefühlen und Erfahrungen, die in der Kunst allgemein und speziell eben auch in der Musik zum Ausdruck kommen. Deshalb ist die Frage nach Neuem vor allem die Frage nach neuen Ausdrucksmitteln. Das ist eine Frage des Stils, und im Hinblick auf den Stil gab es natürlich eine beachtliche Entwicklung in den vergangenen Jahrhunderten. Ich verstehe die Entwicklungen der Musikgeschichte als ständige Erweiterung der klanglichen Möglichkeiten.
Was herkömmliche Instrumente unseres Orchesters betrifft, muss man sagen, dass diese Entwicklung inzwischen abgeschlossen ist. Auf der Geige gibt es keinen relevanten neuen Klang zu entdecken, der nicht bereits vor Jahrzehnten verwendet wurde. Ein Komponist, der heute meint, seine Musik sei neu, weil sein Stück für Geige solo auf den «normalen» Geigenklang verzichtet und aus lauter Spezialeffekten besteht, der ist entweder naiv oder macht sich etwas vor. Es gibt keinen Klang auf diesen Instrumenten, der nicht bereits in den 50er- und 60er-Jahren ausgelotet wurde. Wer also für diese Instrumente komponiert, schreibt hinsichtlich der «Materialfrage» nicht eigentlich «neue» Musik.
Man muss sich deshalb ernsthaft fragen, wessen Musik denn heute «neu» ist: Diejenige, welche die Erwartungshaltung der Avantgarde-Kreise erfüllt, oder jene, die diese – wie auch immer – durchbricht und etwas anderes versucht.
«Ich glaube, der Einsatz des Geräusches zur Herstellung wird zunehmen, bis wir zu einer Musik gelangen, die mit Hilfe elektronischer Instrumente produziert wird, die uns sämtliche Klänge, die das Gehör wahrnehmen kann, zur Verfügung stellen wird. – Bis ich sterbe, wird es Geräusche geben. Und diese werden meinen Tod überdauern. Man braucht keine Angst um die Zukunft der Musik zu haben.»
John Cage, Komponist von «433»
Dabei ist es sicher nicht interessant, Stile aus der Vergangenheit zu kopieren. Ich glaube viel mehr, dass die jüngere Generation sich einfach die Freiheit herausnimmt zu schreiben, was sie will, und eine meiner Meinung nach gesunde Rücksichtslosigkeit an den Tag legt gegenüber den Avantgarde-Kreisen, die genau zu wissen scheinen, wie es gegenwärtig klingen muss. Wenn man Leute aus diesen Kreisen etwas genauer ausfragt, was sie denn bei neuer Musik für Hörerwartungen haben, stellt sich heraus, dass es sich um stilistische und klangliche Elemente handelt, die keineswegs neu sind und vor 40 Jahren noch Provokation waren, heute aber längst der Vergangenheit angehören.
Ich gehöre auf keinen Fall zu denen, die die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte für einen Irrweg halten. Es gibt viele Komponisten und Komponistinnen dieser Zeit, die groβartige Musik geschrieben haben oder immer noch schreiben und die ich sehr schätze. Das 20. Jahrhundert hat der Kunstmusik eine ungeheure Befreiung gebracht. Diese Freiheit unverkrampft und undogmatisch zu nützen, und alles bisher musikalisch Entdeckte zu einer persönlichen Synthese zu bringen, das ist meiner Meinung nach die momentane Herausforderung für Komponierende.
MJ: Sie glauben also an eine Zukunft der Kunstmusik. Was kann denn Ihrer Meinung nach noch «neu» sein?
FM: Wer heute noch nach neuen Klängen sucht, muss diese ehrlicherweise in der Elektronik suchen oder nach neuen akustischen Instrumenten-Erfindungen Ausschau halten.
Als offizielles Geburtsdatum der elektronischen Musik gilt der 26. Mai 1953. Auf dem vom Nordwest-Deutschen Rundfunk organisierten Kölner «Neuen Musikfest» 1953 wurden vier erste Stücke von Robert Beyer und Herbert Eimert (Bild) vorgestellt. Werner Meyer-Eppler zur Definition: «Musik ist nicht schon dann ‘elektronisch’ zu nennen, wenn sie sich elektronischer Hilfsmittel bedient, da es hierzu keineswegs genügt, die bereits vorhandene Tonwelt oder gar eine bestehende Musik ins Elektro-Akustische zu übertragen.»
Im gleichen Jahr stellte Karlheinz Stockhausen seine «Studie I» fertig, die nur aus Sinustönen zusammengesetzt war und als das erste realisierte Stück auch den theoretischen Intentionen der elektronischen Musik entsprach.
Mit einem Orchester in klanglicher Hinsicht «neue» Musik zu schreiben ist kaum möglich. Aber vergessen wir nicht: Klangmaterialien und musikalische Formen sind die – man könnte sagen – «materielle» Seite der Musik. Durch alles was in den letzten 600 Jahren musikalisch entdeckt und entwickelt wurde, hat der heutige Musikschaffende eine noch nie dagewesene Palette von Möglichkeiten. Die Frage ist: Hat er auch die Freiheit sie zu benützen? Und da gehen die Meinungen sehr auseinander.
Viele Anhänger der avantgardistischen Ästhetik halten ausschlieβlich das Verwenden der letzten Entwicklungen oder zumindest derjenigen der Nachkriegsavantgarde für legitim und hoffen auf eine Weiterentwicklung. Das Verwenden von beispielsweise tonalen Bezügen gilt in gewissen Kreisen geradezu als Verrat. Dieses Denken sollte man meiner Meinung nach nun am Beginn eines neuen Jahrhunderts hinter sich lassen, weil es – bei aller plausiblen Begründung – ganz einfach unfrei und dogmatisch ist. Eine schlechte Voraussetzung, um zu wirklich «neuen» Resultaten zu kommen.
Es kann heute nicht mehr um «tonal» oder «atonal» gehen. Meiner Meinung nach ist es heute eine Befreiung und auch eine Chance, wenn man sich vom Denken, die Musikgeschichte als geradliniges Kontinuum zu betrachten löst, wo Epoche auf Epoche folgt, entweder als Weiterentwicklung des Vorhandenen oder als Reaktion darauf. Es ist ja eine unbesteitbare Realität, dass im heutigen Konzertangebot sämtliche Epochen in einer noch nie dagewesenen Weise gleichzeitig präsent sind, und dementsprechend auch in unserem Bewusstsein. Man sollte versuchen, die Musikgeschichte als ständige Erweiterung der klanglichen Möglichkeiten zu sehen.
Wenn man die bis heute entwickelten musikalischen Mittel als Ganzes sieht und sich die Freiheit nimmt, sie auch als Ganzes zu verwenden, stehen wir eher an einem Beginn als an einem Ende. Die Schwierigkeit ist heute, in dieser immensen Palette von Möglichkeiten einen persönlichen Weg zu finden.
MJ: Haben Sie ihn gefunden?
FM: Auf irgendeinem Weg bin ich, weiβ aber nicht wohin er führt. Ich habe ein sehr nebelhaftes Gefühl davon, wie es in Zukunft weitergehen könnte. Wenn Sie mich aber fragen, warum ich heute so komponiere und nicht anders, dann ist meine einzige ehrliche Antwort darauf: weil ich nicht anders kann. Alle ästhetischen und philosophischen Begründungen folgen erst nachher. Es war mir immer ein Anliegen, das zu schreiben, was ich wirklich innerlich wahrnehme, ohne jegliche Konzessionen an heutige Hörerwartungen. Wenn ich das Bedürfnis habe, etwas aufzuschreiben und es stellt sich heraus, dass es zum Beispiel Anklänge an Mahler hat, dann hat das damit zu tun, dass ich Mahlers Musik eben sehr liebe und seit meiner Jugend so oft gehört habe, dass sie längst in mir verinnerlicht ist.
Natürlich könnte ich das Wahrgenommene nun so verfremden, dass es avantgardistisch daherkommt. Doch warum? Die Beweggründe dafür wären mir suspekt. Natürlich spreche ich hier nur von subtilen Anklängen, die sich von selbst einstellen und nicht von längeren Passagen oder gar Stilkopie. Mit Stilkopien kann ich gar nichts anfangen. Auβerdem ist für mich die Klangwelt des Symphonie-Orchesters noch immer das Gröβte – für Elektronik konnte ich mich nie so richtig begeistern, sie war mir immer etwas zu kalt – also werde ich wohl weiterhin für die herkömmlichen Instrumente schreiben. Natürlich träume ich davon – wie es wahrscheinlich jeder Komponist tut – Klänge, die bisherigen und neue dazu, eines Tages auf noch nie dagewesene Art zu verwenden… daran arbeite ich.
Gewisse Synthesen von verschiedenen Stilmitteln einiger heutiger Komponisten können durchaus als «neu» bezeichnet werden, weil Musik noch nie in dieser Form erklungen ist. Dieses «Neue» ist zur Zeit in Europa vor allem in den nordischen oder baltischen Staaten zu finden.
MJ: Am Anfang haben Sie unterschieden zwischen Inhalt und musikalischem Material – wir haben bis jetzt hauptsächlich über das musikalische Material gesprochen. Gibt es auch «Neues», was den Inhalt betrifft?
FM: Darüber möchte ich gerne etwas sagen, nämlich über das Bedürfnis eines Komponisten, überhaupt etwas zu schreiben, überhaupt diese undefinierbaren Dinge und Empfindungen, die ihn nicht loslassen, in Musik auszudrücken. Es gibt diese ewige Sehnsucht nach dem Unerreichbaren, die Sehnsucht nach vollkommenem Glück, vollkommener Liebe, Ekstase, Schönheit.
«Die Musik der meisten Komponisten, die ich für groβ halte, erzählt von der Freude an diesen wunderbaren Dingen, für die es sich zu leben lohnt – und gleichzeitig schwingt darin eine Melancholie mit – die Trauer darüber, dass man diese Dinge eben nie ganz erreicht. Solche Musik kann uns ergreifen, erschüttern, verzaubern. Sie entspringt einem Niemandsland irgendwo zwischen der Sehnsucht selbst und dem, was man herbeisehnt. Das beste Beispiel im 20. Jahrhundert für das, was ich meine, ist die Musik von Olivier Messiaen. Seine Musik ist für mich zukunftsweisend.» (Fabian Müller)
Dem rein intellektuellen Umgang mit Klang in den letzten Jahrzehnten ist diese transzendente Dimension der Musik etwas abhanden gekommen. Es ist wohl die Aufgabe der jüngeren und nächsten Generationen, der Kunstmusik diese Dimension wieder zurückzugewinnen. Meiner Meinung nach hat nur eine Musik dauerhaften Wert, die den Menschen als Ganzes anzusprechen vermag. Weder losgelöster intellektueller Kitzel noch Gefühlsschwärmerei ohne Logik befriedigt auf die Dauer. Über die «wissenschaftliche» Analysierbarkeit eines Werkes freuen sich allenfalls die Musikwissenschafter und Kritiker und oft auch nur deswegen, weil ihnen ein anderer Zugang zur Musik verwehrt bleibt. Der Begriff «Musikwissenschaft» birgt in sich sowieso schon ein Paradoxon. Denn das, was Musik wirklich ausmacht, beginnt dort, wo der Wissenschaft die Türen verschlossen bleiben. Konnte jemals jemand erklären, warum einen beispielsweise das Thema des 2. Satzes im Doppelkonzert von Brahms aus den Socken hebt? Und dies auch beim x-ten Anhören? Natürlich lässt sich viel über die Spannungsverhältnisse der Intervalle im Verlauf dieser Melodie sagen und es wird irgendwie offensichtlich, warum es sich um eine «gute» Melodie handelt. Aber hat jemals jemand durch solche – wissenschaftlichen – Erkenntnisse die Fähigkeit erlangt, eine ähnlich gute Melodie zu schreiben?
Musik ist wie das Leben, sie lässt sich nicht erklären, und ein einzelnes Werk ist wie ein Mensch: Lange analytische Werkeinführungstexte sind wie anatomische Beschreibungen und wecken in mir den Verdacht, dass ich im Konzert eine klingende Leiche zu hören bekomme.
«Komponier-Gartenhäuschen» in Zürich, genius loci von F. Müller.
MJ: Wenn Sie vorhin von dieser Sehnsucht nach dem Unerreichbaren gesprochen haben, ist das nicht eigentlich der Zeitgeist der Romantik?
FM: Vieles was heute tonal klingt oder tonale Anklänge hat, wird als «Neoromantik» bezeichnet. Das geht manchmal auch meiner Musik so, und mir persönlich auf den Wecker… «Neoromantisch» ist ein so unscharfer Begriff – und wenn ich bedenke, dass oft schon ein paar Dreiklänge oder ein Melodiefetzen ausreichen, um Musik als neoromantisch zu betiteln, dann kommt mir das irgendwie lächerlich vor. Sicher, ich bin wohl ein «romantischer» Mensch, wenn «Romantik» eben diese Sehnsucht nach dem Unerreichbaren, Transzendenten meint, aber warum dann «neo»? Ist denn Sehnsucht bloβ die Empfindung einer Stilepoche? Ganz sicher nicht! Vielmehr ist dieses Gefühl ja etwas von dem, was den Menschen überhaupt ausmacht. Und das, was den Menschen ausmacht – das ist ja doch ewiges Thema jedwelcher Kunst. Romantik als menschlichen Ausdruck hat es immer gegeben, und wird es immer geben, weil die Sehnsucht immer da ist. Der Zeitgeist bestimmt eigentlich nur, auf welche Weise sich dieses Sehnen ausdrückt… ■
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