Kurzprosa von Norbert Sternmut
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Die Auferstehung
Norbert Sternmut
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Plötzlich fiel ihm alles aus, wie das Licht der Welt. Gleichzeitig fiel ihm nichts Neues ein. Er spürte einen Schmerz, war sich aber nicht ganz sicher. Hatte er einen Schlag auf den Kopf bekommen? Was war geschehen, wenn etwas geschehen war? War etwas geschehen? Und wenn etwas geschehen war, wo und weshalb war es geschehen?
Er lag in einer Art Kiste, fühlte sich nicht ganz behaglich und spürte vielleicht einen Schmerz. Er tastete sich ab: einen Körper mit Beinen, Armen, einen üblichen menschlichen Körper. Er konnte sich entsinnen, dass der Körper in dieser Ausprägung für ihn üblich war, er selbst dieser Rasse angehörte. Etwas anderes wußte er nicht.
Er lag in einer Holzkiste, die allerdings keinen Deckel trug, denn nach oben war ihm die Sicht nicht versperrt. Er spürte keinen Luftzug, befand sich nicht auf freiem Gelände. Wo befand er sich? In einem Raum, doch war es ein Kellerraum, ein Wohnraum, oder die Zelle einer Haftanstalt? Es war ruhig, ganz ruhig. Niemand sprach, keuchte, sang. Kein Atem! Er war sicher alleine, alleine mit sich. Mit wem? Er überlegte, versuchte auf einen Namen zu kommen, einen eigenen Namen, seinen Namen. Walter, Wastel, Wenzel? Nichts!
Er tastete die Seitenwände der Kiste ab, bewegte den Kopf hin, her. Es ist sehr unangenehm, wenn einem alles ausfällt und nichts Neues dazukommt. Wastel? Der Name war ihm eine Art Begriff. Er mußte ihn schon einmal benutzt haben, doch fiel ihm der Zusammenhang nicht ein, weder Ort noch Zeit.
Welcher Tag wurde geschrieben, Mittwoch, Freitag? Er wußte es nicht. Wastel? Er sagte den Namen mehrmals vor sich hin, Wastel, Wastel, schien er doch etwas in Bewegung zu setzen, innerlich. Er bewegte die Beine, stemmte sich mit einiger Anstrengung ein paar Zentimeter in die Höhe, so dass er über die Kiste hinaussehen konnte. Es war ein feierlicher Raum, ein andächtiger, besinnlicher Raum. Ein ganzes Blumenmeer war um seine Kiste herum angelegt. Kerzen säumten sie, Kränze, Schleier, die mit Namen versehen waren. Er las alle. In stiller Trauer: Fritz. Wir nehmen Abschied: Familie Abendrot mit Silke und Herbert. Neben einigen Vereinen, die er nicht weiter kannte, war von weiteren Namen die Rede, doch trat kein Wastel auf. Es traten auf in dieser Reihenfolge: Ein Hans, ein Dieter, Reinhold, ein Klaus, ein anderer Herbert. Namen, die alle nichts in ihm bewegten. Oder nichts mehr? Wastel?!
Kruzifix nochmal, hörte er sich fluchen, dann fiel es ihm ein: Wastel. Er hatte gesagt: «Ich will Wastel heißen, wenn es einen Wonnebald gibt.»
Vielleicht war es um eine Wette gegangen. Jedenfalls wußte er nicht, zu wem er diesen Satz gesagt hatte, und in welchem Zusammenhang. Aber der Satz mußte gefallen sein. Er hatte ihn nun deutlich im Ohr. Ort und Zeit der Aussage ließen sich auch nicht festmachen. Immerhin waren die zwei Namen gefallen. Er wollte nach diesem Satz Wastel heißen, wenn es einen Wonnebald gäbe, doch wer konnte dieser Wonnebald sein, um den es hier ging? Er versuchte sich über den Zusammenhang klar zu werden.
Es ging um «einen Wonnebald» – nicht um «den Wonnebald». Es war also von nichts Bestimmtem die Rede, immerhin von etwas, das es vielleicht geben konnte und vielleicht nicht. Es ging wohl eher um einen sächlichen Zusammenhang, der mit dem Namen umschrieben wurde, vielleicht auch nur um die Vorstellung davon, die allein schon ungenau sein konnte. Keine genaue Umschreibung. Wie sollte er sich also an etwas erinnern können, was den Namen «Wonnebald» trug? Dieser eine Satz wurde gesagt, wurde von ihm gesagt, an etwas anderes konnte er sich nicht erinnern.
Er winkelte die Knie an, hielt sich mit den Händen an den Seitenwänden der Kiste fest und zog sich hoch. Er stand, was von einem leichten Schwindelgefühl begleitet wurde, aber er stand und konnte nun den Raum genau betrachten. Kein kleiner Raum. Neben seiner Kiste lag zunächst ein Deckel, der sicher für seine Kiste bestimmt war. Was aber wichtiger war: es befanden sich noch zehn weitere Kisten im Raume. Jede einzelne war ebenso wie seine eigene von Blumengebinden, Kränzen und Schleiern gesäumt, und auch hier war von einigen Namen die Rede. Er stand, konnte aber in keine der Kisten hineinsehen. Immerhin, soviel war jetzt klar: es handelte sich nicht um ein Wohnzimmer, denn für ein wohliges Wohnzimmer schien der Raum ungeeignet. Lag nicht auch ein etwas ungesunder, abgestandener Geruch in der Luft?
Er konnte sich nicht entsinnen, diesen Raum in dieser Weise eingerichtet zu haben, wußte auch nicht, wie er hierher gekommen war. Noch immer stand er kerzengerade in seiner Kiste, zog aber schon mal ein Knie etwas an. Es ging. Immerhin schien dies nicht selbstverständlich zu sein. Er hatte noch immer ein ungutes Gefühl, eine Art Schmerzempfinden, doch war er sich nicht sicher.
Wastel? Er sagte den Namen vor sich hin, begann sogar kurz zu pfeifen, hörte aber gleich wieder auf. Es half nichts. Er wollte seinen Namen erfahren und hatte nur diesen einen Satz: «Ich will Wastel heißen, wenn es einen Wonnebald gibt». Nun, der Satz konnte auch lauten: «Wenn es einen Wonnebald gibt, will ich Wastel heißen.» Er konnte auch dies gesagt haben, was seine Lage nicht grundsätzlich verändert hätte.
Er versuchte weiter an den Zusammenhang, vielleicht an den Inhalt heranzukommen, um sich auf diese Weise seinem Namen zu nähern. Er überlegte. Wollte er Wastel heißen auch ohne Bedingungen? Eigentlich nicht. Er fand, dass er freiwillig lieber einen anderen Namen tragen wollte. Wastel wollte er eigentlich als Namen ausschließen, konnte an ihm keinen Gefallen finden. Er ging davon aus, dass dies zur Zeit seiner Aussage ebenso war. Somit wollte er schon damals nicht Wastel heißen, heißt: um nicht Wastel heißen zu müssen, ging er davon aus, dass es «einen Wonnebald» nicht gibt. Im Grunde wollte er auf keinen Fall Wastel heißen und mußte sich seiner Sache also sicher gewesen sein, jener, die eine Existenz eines Wonnebalds ausschließt.
Er trat aus seiner Kiste. Er konnte gehen, das war gut. Dort war eine Tür, und er ging vorsichtig darauf zu. Noch immer spürte er ein Schwindelgefühl, aber er konnte gehen, immerhin. Die Tür war verschlossen. Es steckte kein Schlüssel. Es gab nicht einmal ein Schlüsselloch. Es mußte sich um eine spezielle Tür handeln. Wenigstens war er sich sicher, dass es eine Tür war. Es war aber nichts zu machen. Er hatte auch nicht gehofft, dass er einfach aus diesem Raum gehen könnte. Und wenn er selbst Wonnebald war? Die Frage schoß ihm durch den Kopf. Er überlegte. Dann hätte er damals sinngemäß gesagt: «Wenn es mich gibt, will ich Wastel heißen». Dabei hätte er erschwerend angenommen, dass es ihn überhaupt nicht gäbe. Obwohl es ihn aber nicht gäbe, wollte er Wastel heißen, wenn es ihn gegeben hätte, obwohl er dann eindeutig Wonnebald geheißen hätte. Da konnte etwas nicht stimmen. Gut, er hätte sagen können: «Wenn ich Wonnebald bin, will ich Wastel heißen». Oder: «Wenn ich Wastel bin, will ich Wonnebald heißen». Oder: «Wenn ich Wastel heiße, will ich Wonnebald sein». Oder: «Ich habe den Hund nicht erschossen». Aber so!?
Wenn er als Person oder sonst in einer Weise nicht präsent ist, nicht einmal im Ansatz erkennbar, dann kann er auch nicht Wastel heißen wollen.
Er wollte seinem Geisteszustand vertrauen und somit weder Wonnebald noch Wastel heißen. Oder doch? Wie gut kannte er sich selbst? Er kannte nicht einmal seinen Namen! Woher sollte er dann wissen, was er wollte?
Er ging an eine Kiste, nahm eine Kerze und leuchtete hinein. Ein weiterer Körper lag darin, bewegte sich aber nicht. Scheinbar noch ein Mensch, der ihm ziemlich blaß vorkam. Er wollte ihn mit seinem Namen ansprechen, doch er kannte weder den Menschen noch seinen Namen. Er neigte sich über ihn und sprach ihn mit einem «Hallo!» an. Nichts rührte sich. Er hob den blaßen Schädel etwas in die Höhe und ließ ihn auf das Kissen zurückplumpsen, mehrmals. Er rührte sich von selbst nicht.
In dieser Weise klapperte er alle zehn Kisten ab. Es war nichts zu machen.
Keiner wollte mehr seinen Namen wissen, geschweige denn nennen. Da ging auch er zu seiner Kiste zurück, stieg wieder hinein und wartete darauf, dass ihn jemand bei seinem Namen aufwecken würde. ■
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Norbert Sternmut (alias Norbert Schmid)
Geb. 1958 in Stuttgart, Abitur, Ausbildung zum Altenpfleger, Studium der Sozialpädagogik, seit 1993 innerhalb der Bildungsarbeit beim Bildungszentrum Stuttgart, zahlreiche Roman- und Lyrik-Publikationen, lebt in Ludwigsburg
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