Das Zitat der Woche
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Vom Wert der Konventionen
Oscar A. H. Schmitz
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Kultur ist ein Komplex von Werten, die nicht erworben, nicht erlernt, allenfalls entwickelt werden können. Sitte, Gebärden, Geschmack, Takt, Sensibilität, Welterfahrung usw. gehören dazu.
Zivilisation ist ein Komplex von Werten, die man sich aneignen, erlernen, kaufen, nachmachen kann; zu ihr gehören alle materiellen Vervollkommnungen des Lebens, – Hygiene, Wissen, Gesetze u. a.
Die Konventionen sind gleichzeitig Erzeugnisse der Kultur und der Zivilisation. Soweit sie ein äußeres Tun und Lassen regeln wie Grüßen, Besuche machen, Tageseinteilung, Kleidervorschriften, überhaupt soweit sie auf irgendwelchen Erwägungen und auf Ökonomie beruhen, gehören sie der Zivilisation an. In seinen Gruß Distanz oder Grazie legen, sich mit dem Modezwang anmutig auseinandersetzen, das erfordert Kultur.Die Konventionen sind gewissermaßen die Spielregeln der Kultur. Wer bei ihrer Erfüllung dies nicht vergißt, wird niemals unter ihnen leiden. Nichts ist unkultivierter, als sie zu ernst zu nehmen, sei es als ihr gefügiger oder empörter Sklave, sei es als ihr feindseliger Freigelassener. Es gibt freilich Gesellschaftsklassen, für welche die Konvention ein Fetisch ist, dem alles geopfert wird, Geschmack, Behagen, Gefühle, ja das Glück. »Was werden die Leute zu meinem Leben sagen?« Die Leute! Ein Götze, ein Ungeheuer, das im Dunkeln wirkt, und sich höchstens von Zeit zu Zeit durch seinen unwillkommenen Geruch bemerkbar macht; will man es fassen, so entgleitet es, denn niemand will zu den »Leuten« gehören. Man selbst denkt ja ganz vernünftig, aber die Leute! Die jüngere Generation sucht sich nun diese Mittelstandsfurcht abzugewöhnen. Die moderne Literatur des gebildeten Bürgertums kämpft an gegen den Zwang solcher Konventionen, die sie als lügnerische Nachahmungen aristokratischer, in der Hoflust, meist in französischer gewachsener Formen empfindet.
Diese Formen werden von vielen nicht mehr als eine Erleichterung, sondern als eine Hemmung des auf Vernunft zu gründenden Lebens empfunden. Darin liegt ein zweifellos gesunder Kern. Was sollen die Urteile und Sitten einer »société polie« für den, der ihre Wohltat nicht genießt? Für ihn werden sie Vorurteile und Unsitten. Warum soll sich jemand einen ihm unbequemen Ehrenkodex aneignen, wenn er von den Vertretern dieses Kodex doch nicht für ganz voll genommen wird? Warum soll in engen Verhältnissen die strenge Bindung des Liebeslebens gelten, die nur vom Standpunkt starker Familieninteressen aus berechtigt ist? Warum muß ein besitzloses Mädchen verkümmern, um nicht gegen die Familienüberlieferungen zu verstoßen, von denen sie ganz und gar nichts hat, während das voraussetzungslose Geschöpf aus dem Volke wie ein Singvögelchen den Frühling seiner Jugend genießt? Warum soll man den Luxus eines Salons bezahlen, wenn man nicht empfängt, warum auf Reisen, Schauspiele und dergleichen verzichten, weil die allein standesgemäßen Gasthöfe, die höheren Klassen der Eisenbahnen, die vornehmen Theaterplätze teuer sind? Nichts ist echter und aufrichtiger als das Abschütteln solcher Konventionen durch einen Stand, für den sie nicht gemacht sind. Nur glaube man nicht, daß damit irgendein objektives Urteil über den Wert der Konventionen an sich gewonnen ist; denn alle diese abgeschüttelten Konventionen sind dadurch nicht als schlecht, sondern nur für bestimmte Menschen als unfruchtbar erkannt. Die, denen zur Erleichterung oder zur Stilisierung des Lebens Konventionen wertvoll sind, werden ganz von selbst jenes alte aristokratische Erbe antreten und es ihren heutigen Bedürfnissen entsprechend verwalten und wohl auch umformen. Nur der aber wird sich vernünftigerweise einem solchen Gruppenzwang unterwerfen, dem die Gruppe dafür alle Vorteile der Zugehörigkeit gewährt, denn für ihn ist dies kein Zwang, sondern ein natürlicher sozialer Trieb. ■Aus Oscar Adolf Hermann Schmitz, Brevier für Weltleute, G.-Müller-Verlag 1911
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