Glarean Magazin

Parabel von Bernd Giehl

Posted in Bernd Giehl, Kurzprosa, Literatur, Neue Prosa, Parabeln by Walter Eigenmann on 14. Juli 2014

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Die Zeitungsente

Bernd Giehl

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Dr. Conrad von Mayr saß gerade mit seiner Geliebten, der Baronin von Scharfenstein-Ohlenhorst, beim Frühstück, als es an der Tür klingelte und eine halbe Minute später ein Zeitungsjunge, halb ohnmächtig vor Aufregung durch die Tür zum Esszimmer witschte. «Der Herr Doktor wünscht beim Frühstück…» konnte der Diener, der hinter ihm hergelaufen und ihn gerade noch am Ärmel seines Jacketts zu fassen bekommen hatte, noch hervorbringen, aber der Junge in der kurzen Hose, die Ballonmütze immer noch auf dem Kopf, war schon ins Zimmer gestürzt, wo der Doktor und die Baronin beim Frühstück saßen. «Herr Doktor, verzeihens bitte, der Herr Chefredakteur…» – «…ich bin der Chefredakteur» fiel ihm Mayr ins Wort –  «…der Herr Generaldirektor…» – «den gibt es bei uns nicht…» Der arme Kerl war jetzt so sehr den Tränen nahe, dass Mayr nicht anders konnte als aufzustehen und dem Diener ein Zeichen zu geben, er solle ihn loslassen, was der auch tat, woraufhin er selbst den Bengel am Arm nahm und auf einen Stuhl setzte, den er vom Tisch weggezogen hatte. «Magst a Semmel?» fragte er den verdutzen Jungen, dem schon verdächtige Spuren im Gesicht schimmerten. Mit einer Handbewegung wies er den Diener an, noch ein Gedeck aufzulegen. Der Junge – er mochte vielleicht vierzehn Jahre alt sein – holte sein Taschentuch heraus und wischte sich die Tränen vom Gesicht. Dann nahm er einen neuen Anlauf. «Der Herr Dr. Moellendorff schickt mich, weil der Erzherzog ist tot, steht in der Zeitung und keiner hat’s gewusst.» Im nächsten Moment zog er die reichlich zerknitterte «Illustrierte Kronen Zeitung» aus der Tasche seiner Jacke und reichte sie dem verdatterten Mayr. Ein Blick auf die Titelseite genügte. In großen Lettern stand dort: «Thronfolger in Sarajewo durch Bombenattentat ermordet.» Darunter ein Foto der Limousine, in der Erzherzog Franz-Ferdinand und seine Gemahlin Sophie durch eine Hauptstraße Sarajewos fuhren. Sowohl der Wagen als auch seine vier Insassen sahen noch unversehrt aus. «Warum weiß ich nichts davon?» donnerte der Chefredakteur. Alle drei, die Baronin, der Zeitungsjunge und der Diener fuhren zusammen; so heftig donnerte Mayrs Faust auf den Tisch. Dem Jungen standen schon wieder die Tränen im Gesicht. «Am Nachmittag des 27. Juni», las er mit lauter Stimme vor, «wurde der österreichische Thronfolger und seine Gattin Sophie von Hohenberg durch den zwanzigjährigen Bosnier Gabriel Prinz – kein Bosnier heißt Gabriel Prinz – ermordet. Der Thronfolger und seine Gemahlin fuhren im offenen Wagen, als Prinz, der am Straßenrand stand, unter seinen Mantel griff und eine selbstgebaute Bombe in den Fonds des Wagens schleuderte, in dem Seine Kaiserliche Hoheit und Prinzessin Sophie …» Im nächsten Augenblick versagte Mayr die Stimme. Die Baronin saß wie versteinert auf ihrem Stuhl, der Diener bückte sich nach den Scherben des Gedecks, das er fallen gelassen hatte, aber auch er erstarrte in der Bewegung, nur der Zeitungsjunge schluchzte hemmungslos. «Sie sind tot.» «Eine Droschke», brüllte Mayr den Diener an, der sich langsam wieder aufrichtete; «eine Droschke zur Redaktion. Aber subito. – Verzeihen Sie, meine Liebe,», wandte er sich dann an die Baronin. «Aber ich bitte dich», erwiderte die und fügte hinzu: «Seit wann siezen wir uns?» Im nächsten Moment lief sie feuerrot an. «Aber natürlich. Nehmen Sie auf mich keine Rücksicht. Tun Sie so, als wäre ich gar nicht da.»

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Hochrot im Gesicht, als ob er kurz vor einem Schlaganfall stünde, stürzte Chefredakteur Conrad von Mayr durch die Redaktionsräume der «Illustrierten Kronen Zeitung». Die Redakteure und Sekretärinnen bückten sich tief über ihre Schreibmaschinen und Formulare. «Wo ist der Schuft? Wer hat das verbrochen? Wo ist Moellendorff?» Im nächsten Augenblick wurde eine Tür aufgerissen und die untersetzte Gestalt des stellvertretenden Chefredakteurs Konstantin Moellendorff wurde sichtbar. «Hier bin ich, Herr Geheimrat». «Warum haben Sie mich nicht…» – und dann brach Mayr ab, als sei ihm jetzt erst bewusst geworden, dass die ganze Redaktion seinen Ausbruch mitbekam. «Kommen Sie mit in mein Büro».
«Warum weiß ich nichts davon?» fuhr er seinen Stellvertreter an, als sie im Zimmer des Chefredakteurs standen und Moellendorff die Tür hinter sich geschlossen hatte. Er hielt seinem Stellvertreter die Zeitung, die der Bote ihm gebracht hatte, so dicht unter die Nase, dass dieser zurückwich, als ob der andere ihm die Zeitung ins Gesicht geschlagen hätte. «Herr Geheimrat hatten ausdrückliche Anweisung gegeben, an diesem Abend nicht gestört zu werden.» «… außer im Fall, dass der Krieg ausbricht», hatte der Herr Geheimrat noch hinzugefügt, und sie hatten beide gelacht. Es musste schließlich niemand von seinem Techtelmechtel mit Baronin Carla erfahren, deren Mann für ein paar Tage zum Manöver in Baden weilte. Der Zeitungsjunge, er musste unbedingt noch einmal mit dem Zeitungsjungen sprechen. Ein paar Kronen würden die Sache wahrscheinlich regeln. Falls er die Dame überhaupt kannte. So eine Duellforderung konnte unangenehm werden. Später.
«In so einem Fall möchte ich unverzüglich informiert werden.» Seine Stimme klang jetzt fast schon wieder amtlich. «Ich hoffe zumindest, dass Sie Ihres Amtes gewaltet haben.»
«Was meinen Herr Geheimrat mit ‚meines Amtes gewaltet‘?» Mayr registrierte, dass Moellendorffs Stimme gepresst klang. «Ich meine damit, dass Sie sich unverzüglich mit unserem Korrespondenten in Sarajevo und dem Hof hier in Wien in Verbindung gesetzt haben. Schließlich kann so eine Meldung auch eine plumpe Fälschung sein. Von interessierten Kreisen in die Welt gesetzt.»
Moellendorffs Schweigen sagte alles.
«Dann werden Sie das jetzt unverzüglich tun. Über die Konsequenzen für Ihr unverzeihliches Verhalten reden wir später.» Hauptsache, das alles hatte keine Konsequenzen für ihn.

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Die Telegrafen in der Redaktion ratterten auf Hochtouren. Eine halbe Stunde später war die Verwirrung vollkommen. Der Korrespondent in Sarajevo hatte bestätigt, dass er das Attentat zwar nicht mit eigenen Augen gesehen hatte; er hatte etwa 500 Meter von dem Ort, an dem es passiert war, gestanden, dass er aber die Aufregung und die Panik der Menge bemerkt und versucht hatte, sich durchzudrängen. Das Durcheinander sei unbeschreiblich gewesen. Zunächst habe es für ihn und den Fotografen kein Durchkommen gegeben, und als sie schließlich am Ort des Geschehens angekommen seien, hätten sie das schwer beschädigte Automobil, in dem der Erzherzog und seine Gemahlin gesessen hatten, mit eigenen Augen gesehen. Die beiden Toten seien allerdings zu diesem Zeitpunkt schon abtransportiert worden.
Anders dagegen der kaiserliche Hof. Kronprinz Franz-Ferdinand und seine Gemahlin, die Gräfin von Hohenburg befänden sich tatsächlich in Sarajevo, aber die Truppenparade der Armee seiner Kaiserlichen Majestät, die Seine kaiserliche Hoheit abnehmen werde, finde erst am heutigen Tag, dem 28. Juni statt und von einem Attentat sei dem Hof nichts bekannt. Man werde sich jedoch unverzüglich mit der Dienststelle der k.u..k. Polizei in Sarajevo in Verbindung setzen und empfehle der Redaktion der «Illustrierten Kronenzeitung» das ebenfalls zu tun. Mit vorzüglicher Hochachtung. Gez. v. Meyrink, Erster Sekretär.

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Die komfortable Gräf-&Stift-Limousine mit dem Kronprinzenpaar im offenen Fonds rollt den Äppelkai von Sarajevo entlang. Gräfin Sophie beugt sich zu ihrem Gatten. «Es gibt Gerüchte von einem Attentat, das gestern auf uns verübt worden sei. Glaubst du, wir sind wirklich sicher?» Der Erzherzog legt beruhigend die Hand auf ihren Arm. «Ach, Sophie, du musst nicht immer allen Dummschwätzern und Zeitungsschreibern glauben. Du kannst ganz beruhigt sein; die Polizei wird schon für unsere Sicherheit sorgen.»
In diesem Moment biegt die Wagenkolonne auf die Lateinerbrücke ein. ■

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Bernd Giehl

Geb. 1953 in Marienberg/D, Studium der Theologie in Marburg, verschiedene literarische und theologische Publikationen, lebt als evang. Pfarrer in Nauheim

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