Arianna Savall / Petter Udland Johansen: «Hirundo Maris»
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«Ein Mädchen saß am Meeresstrand…»
Wolfgang-Armin Rittmeier
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«Diese Art Gedichte, die wir seit Jahren Volkslieder zu nennen pflegen, ob sie gleich eigentlich weder vom Volk noch fürs Volk gedichtet sind, […] – dergleichen Gedichte sind so wahre Poesie, als sie irgend nur sein kann; sie haben einen so unglaublichen Reiz, selbst für uns, die wir auf einer höheren Stufe der Bildung stehen, wie der Anblick und die Erinnerung der Jugend fürs Alter hat.»
Man mag zu Goethe stehen, wie man will, er hatte im Grundsatz oft recht. Auch diese Zeilen aus seiner Kritik zu der von Clemens Brentano und Achim von Arnim herausgegebenen Sammlung «Des Knaben Wunderhorn» verraten nicht nur etwas über die Art, wie man zu Beginn des 19. Jahrhunderts über das Volkslied dachte. Sie sind auch heute noch gültig und offenbaren die Basis für die zahlreichen Volksliedprojekte der Gegenwart, deren eines die jüngst veröffentliche Produktion «Hirundo Maris» (Die Seeschwalbe) von Arianna Savall und Petter Udland Johansen ist.
In ihrer Einführung zu dieser CD schreiben Savall und Johansen Zeilen wie diese: «Eine Sommernacht, der Mond ist voll, warm und man kann ihn fast berühren, und zahllose Sterne blicken hinaus in die Ewigkeit. Eine klare Nacht, die ruhige See und in der Ferne hören wir ein geheimnisvolles Lied, ein uraltes Lied, das näher und näher kommt, bis es schließlich ein Teil von uns ist und zu einem Lied der Gegenwart, des unmittelbaren Moments wird. Es ist, als erwachten diese alten Lieder, Balladen, Romanzen und Tänze zu neuem Leben, immer wenn sie gesungen, gespielt oder vorgelesen werden. Sie werden zu neuer, persönlicher Musik. Es ist so, als ob es ein einzigartiges Lied oder ein Stück Musik für jeden Menschen auf dieser Welt gäbe, das einzig und allein für ihn gemacht wurde.» (Booklet, S. 17, Übersetzung der Verfasser) Man kann das leicht als esoterisch angehauchtes Gerede abtun, aber den Kern der Sache trifft es in Verbindung mit Goethes Zitat bestens. Diese CD ist ein Zeichen des in der Gegenwart sich an vielen Stellen breit machenden Wunsches nach dem Rousseau’schen «Back-to-the-roots». Wir, die wir auf der «höheren Stufe» der Bildung stehen, wünschen uns das Einfache, ein simplifiziertes Leben, «Lessness», sehnen uns nach dem Althergebrachtem und werfen – sei es in Blockbustern wie dem «Herrn der Ringe», in historischen Romanen à la Elizabeth Chadwick, zu Klängen Enyas oder auch Stings, der ja vor nicht allzu langer Zeit die englische Renaissance entdeckte – einen sehnsuchtsvollen und melancholischen Blick zurück in die mythische Tiefe der vermeintlich menschlicheren Zeiten. Neo-Romantik, Verklärung und Weltflucht, das sind die Stichworte, auch was die vorliegende CD angeht.
Nicht, dass man mich falsch versteht: Schiebt man all dies zur Seite, dann kann man Savalls und Johansons Projekt ohne irgendwelche nennenswerte Probleme, ja sogar mit hohem Genuss goutieren. Die beiden Musiker, die instrumental von Sveinung Lilleheier, Miquel Àngel Cordero und David Mayoral unterstützt werden, präsentieren eine schöne Zusammenstellung von (im wesentlichen) norwegischen, katalanischen und sephardischen Liedern, die allesamt wunderschön instrumentiert sind und eine große Bandbreite an Stimmungen vorstellen, wobei insgesamt – nach knapp 80 Minuten Spielzeit fällt es schon auf – die melancholischen Töne dominieren. Das beginnt schon mit dem ersten Lied «El Mestre» (Der Schulmeister), das – natürlich – eine unglückliche Liebesgeschichte zum Thema hat. Geradezu zauberhaft ist das Arrangement von «Ya salió de la mar» (Sie kommt aus der See), wie aus dem Märchen klingt das zusätzlich mit Wellenrauschen unterlegte katalanische Lied «El Mariner» (Der Seemann), das den Ausgangspunkt für das katalansich-norwegische Projekt darstellt, da hier von der Liebe eines Mädchens aus dem Süden zu einem geheimnisvollen Seemann aus dem Norden die Rede ist.

Das Volksliedprojekt «Hirundo Maris» von Arianna Savall und Petter Udland Johansen präsentiert poetische Arrangements von katalanischen, norwegischen und sephardischen Traditionals, die allesamt zu überzeugen wissen. Es ist eine exzellent musizierte CD, die einen wehmütigen Blick auf eine vermeintlich schönere Vergangenheit wirft.
Arianna Savalls helle, wirklich glasklare Stimme und der galante Tenor von Petter Udland Johansen verweben sich zu einem höchst harmonischen Ganzen, das durchaus etwas Magisches hat, ja das den «unglaublichen Reiz» erkennbar macht, den Goethe dem Volkslied zuschreibt. Fast scheint es, als ob hier tatsächlich die «wahre Poesie» zu schimmern begänne. Daneben stehen Lieder wie das erotische «Buenas Noches» (Süße Nächte), das schon fast orientalischen Duft verströmt und von dem Spannungsfeld des sirenenhaften Gesanges und der glutvollen instrumentalen Rhythmik beherrscht wird, fast wie ein Fremdkörper. Ein ausgewogeneres Verhältnis von Melancholie und Lebenslust ist vielleicht das einzige, das man die Anlage des Projektes betreffend monieren könnte. Es ist aber eben die leise Trauer der Musiker Savall und Johansen über die Vergänglichkeit dieser Lieder, die im Wesentlichen Bestandteil der sich immer weiter auf dem Rückzug befindlichen «oral tradition» sind, die das Projekt «Hirundo Maris» prägt. Lässt man sich jedoch darauf ein, so wird man mit einer CD voller poetischer Musik belohnt. ■
Arianna Savall / Petter Udland Johansen: Hirundo Maris – Chants du Sud et du Nord, ECM New Series 2227, Audio-CD
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