Ricardo Piglia: «Ins Weiße zielen»
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Annalen der Boshaftigkeit und Verleumdung
Günter Nawe
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Wer hat Tony Durán ermordet? Die klassische Frage, auf die normalerweise und mit großer Selbstgewissheit Kriminalromane eine Antwort geben. Eine solche Antwort hat auch Ricardo Piglia. Aber welche? Der 1941 geborene argentinische Autor – er zählt zu den bedeutendsten argentinischen Schriftstellern – hat einen Krimi vorgelegt, der eigentlich keiner ist. Oder anders: der das Genre des Kriminalromans sprengt.
Mord in der Pampa also. Kommissar Croce begibt sich auf die Suche nach dem Täter. Der windige Staatsanwalt Cueto dagegen glaubt ihn bereits zu haben. Zwei Schwestern hatten sehr engen Kontakt mit dem Mordopfer Durán, das ebenfalls eine zwielichtige Rolle spielte. Der kleine Japaner, ein Nachtportier, wird eingesperrt. Ein Jockey liebt sein Pferd mehr als sein Leben. Und der Kommissar nimmt sich eine «Auszeit» im Irrenhaus. Auch der Journalist Rienzi hat eine Theorie und recherchiert auf seine Weise.
Da gibt es aber auch noch die Familie Belladonna, Land- und Fabrikbesitzer mit etwas eigenartigem Geschäftsgebaren. Was hat der Chef mit dem Mordopfer zu tun? Geht es um Spekulation oder Liebe? Piglia hat alle Versatzstücke, die zu einem Krimi gehören, in dieses Buch hineingepackt – und sie so miteinander verknüpft, dass am Ende nichts ist, wo es scheint. Aber «alles ist so, wie wir es kennen, bevor wir es sehen». Und die wesentlichen Fragen werden woanders gestellt und beantwortet. Und so entstehen quasi «Annalen der Boshaftigkeiten und Verleumdungen in der argentinischen Pampa».
Denn dieses Buch ist eine großartige Beschreibung der argentinischen Wirklichkeit in den siebziger Jahren: Bodenspekulation, verbrecherischer Aktienhandel, korrupte Justiz – und alles in der Erwartung der Rückkehr von Perón. Eine Gesellschaft, in der der Einzelne sich nur schwer zurecht finden kann. Man lebt in einer Kultur, die längst «nicht mehr weiß, was Wahrheit» ist. «Die Geschichte der argentinischen Politik bewege sich auf Bodenhöhe, während alle übrigen Ereignisse in der Höhe vorbeizögen, wie ein Schwalbenschwarm, der im Winter fortzieht», heißt es an einer Stelle.

Bodenspekulation, verbrecherischer Aktienhandel, korrupte Justiz, Folter, Terror, Diktatur: Argentinische Terror-Opfer in den Siebzigern (Prozess-Video vimeo)
Luca, Sproß der Fabrikantenfamilie Belladonna, die den Ruin ihres Unternehmens erleben muss, weiß die Wahrheit. Er bringt den «Mut auf, sich seinem Traum zu stellen», den Traum einer Künstlerexistenz. Hunderttausend Dollar sind geblieben, sollen als Hypothek für das Fabrikgelände dienen. Sie liegen bei der Staatsanwaltschaft und werden nur freigegeben, wenn der Japaner verurteílt wird. Von Luca hängt es ab. Seine Aussage wider besseres Wissen macht ihn schuldig. Er bekommt das Geld, muss aber mit der Schuld einer Falschaussage und den Konsequenzen leben – und kann es letztlich nicht.
Dies alles zusammen ergibt ein Bild der argentinischen Gesellschaft und eröffnet zudem tiefe Einblicke in die Seelnlage der Figuren: vom vegetarischen Gaucho über den Matetrinker mit den literarischen Interessen zum korrupten Staatsanwalt; von den Opfern der Gesellschaft bis zu ihren Tätern. Von Croce, der ehrlichen Haut, bis zur Renzi, dem Journalisten auf der Suche nach der Exklusivstory. Piglia bietet faszinierende Psychogramme.

Ricardo Piglia erzählt von einem Mord in der Pampa, hinter dem sich ein Stück argentinischer Geschichte und ein Psychogramm der argentinischen Gesllschaft verbirgt. Ein hervorragend konstruierter Roman, sprachlich brillant und von außerordentlicher Tiefe – ein Meisterwerk.
So komplex wie die Geschichte und so facettenreich und unterschiedlich wie die handelnden Figuren ist auch das Buch. Alles zielt ins Weiße, um den Romantitel aufzunehmen, ins Zetrum der Dinge. Ricardo Piglia erzählt davon auf mehreren Ebenen, bemüht gekonnt die Philosophie und die Psychologie, verknüpft die verschiedenen Theorien miteinander, um dann den Knoten wieder zu lösen. Er hat einen hervorragend konstruierten Roman geschrieben, sprachlich brillant und von außerordentlicher Tiefe. Es wechseln «die Wörter ständig ihren Ort und erlaubten ganz unterschiedliche, zur selben Zeit simultane wie aufeinanderfolgende Lesarten der Sätze».
Die Mutter der Belladonna-Schwestern hat alles gelesen, was ihr an Weltliteratur in die Hände kam. «Nur argentinische Schriftsteller liest sie nie, sie sagt, die Geschichten würde sie schon alle kennen». Und weil das für uns nicht gilt, sollten wir das Meisterwerk von Ricardo Piglia lesen. ■
Ricardo Piglia, Ins Weiße zielen, Roman, 252 Seiten, Wagenbach Verlag Berlin, ISBN 9783803132321
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