Glarean Magazin

Sema Kaygusuz: «Schwarze Galle» (Kurzprosa)

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Anstupsen, um aufzuwecken? – oder:
Von Hüzünlern und Gramerfüllten

Dr. Karin Afshar

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Sema Kaygusuz-Schwarze-Galle-CoverDas Wesen der Melancholie ist überaus schillernd, ihr Ausdruck nicht minder, und ihr Lockruf, sich im Ringen um den Platz und den Sinn des eigenen Ich im Weltengefüge, mit sich und der Welt auseinanderzusetzen, führt meistens zu Fluchttendenzen, namentlich zur Flucht nach innen. Dort finden der und die von Schwermut Heimgesuchte (von nicht wenigen ist sie nicht erworben, sondern als Anlage immer schon da) viel Leidvolles; Melancholiker leiden an der Welt, und wenn sie hernach aus sich heraustreten und in die Welt blicken, sich wieder in sie hineintrauen, um auf ein Neues aktiver Teil in ihr zu sein – sind sie noch fremder als jemals zuvor. Sie sind weit gegangen und dabei der «Welt abhanden gekommen» (Text Friedrich Rückert, in den «Rückert-Liedern» von Gustav Mahler vertont). Nur manchmal begegnen sie Gleichgesinnten, Gleich»gestimmten», und erkennen sich als Heimatlose und Suchende.
In Sema Kaygusuz‘ Buch «Die schwarze Galle» treffen wir auf Melancholiker, und dies u.a. in Gestalt von drei Frauen, die den Rahmen für noch andere Charaktere bilden: Birhan ist eine Istanbuler Dichterin, Sema ist die Ich-Erzählerin, und Yasemin wiederum eine Bekannte von Birhan. Alle drei hören Geräusche, und entlang dieser Geräusche steigen auch wir Leser von Anfang an in die Innenräume ihrer Seelen mit hinab.
Beim Gang durch die Unterwelten versteht es Sema Kaygusuz, den Leser ebenso mit eingebetteten Essays, z.B. über den Unterschied zwischen dem türkischen «hüzün» (das sie meint nicht mit der «Schwermut» gleichsetzen zu können) und der Gram, in der der Schwermütige haust, wie mit Intermezzi von Reflektionen über das Schreiben zu fesseln. Dann wieder erzählt sie parabelhaft die Begegnung eines jungen Mannes mit einer Schneiderin, in vorderorientalischer Erzähltradition von Ezel und Zühal, vom Gärtner und den Hunden, von Musa… Es erwartet die Leserin (und ich glaube, es ist ein Buch für Frauen mehr als für Männer) Schwermütiges, aber das satirisch, lustig, paradox, kurzweilig. Trotz allen zur Sprache kommenden Leides will mir scheinen, als schwebe ein Hauch von Selbstironie über dem Erzählten.

Sema Kaygusuz

Sema Kaygusuz, geb. 1972 in Samsun/Türkei

Sema Kaygusuz‘ Sprache trägt zu diesem von mir gefühlten Hauch bei. Wie sie auf Türkisch schreibt, kann ich nicht beurteilen (die deutsche Übersetzung ist in sich und im Ganzen stimmig). Die gewählten Bilder, die Art der Erzählanfänge und das Verweben, die Verweise auf weitere Ebenen, erinnert an – und das wiederum kann ich ein wenig beurteilen – die mündliche wie schriftliche Erzähltradition auch im Iran, in der persischen Literatur. Meister-Schüler-Geschichten, Derwisch-Lehr-Erzählungen, Nasreddin Hodscha. Ihre Sprache ist Empfindungssprache mehr denn Denksprache, und bringt gerade deshalb zum Denken. Leider fallen dann doch einige Formulierungen auf – viele sind es nicht – aber sie sind da, ob nun absichtlich oder unbeabsichtigterweise. Vielleicht sollen diese funktional-intellektuellen Seitenschritte den Bruch bekräftigen, nachgerade die Leserin darauf stoßen, dass wir in Zeiten leben, in denen sich gerade vieles auflöst. Denn in den Erzählungen geht es auch um die Auflösung der Illusion, dass Zeit linear verläuft. Diese Linearität war niemals gegeben, man hatte sie sich konstruiert, weil man meinte, die Vorstellung zu brauchen. Brüche jedweder Art werden erst spür- und anschließend auch sichtbar, wenn die Selbstverständlichkeit des einen auf die des anderen trifft und sich Unvereinbarkeit abzeichnet.

Fazit-Rezensionen_Glarean Magazin

In der Kurzprosa-Sammlung «Schwarze Galle» von Sema Kaygusuz erwartet die Leserin (und ich glaube, es ist ein Buch für Frauen mehr als für Männer) Schwermütiges, aber das satirisch, lustig, paradox, kurzweilig. Trotz allen zur Sprache kommenden Leides schwebt aber ein Hauch von Selbstironie über dem Erzählten.

Jeder Text ist Spiegel seiner «Gegenwart»: Kaygusuz‘ Texte spiegeln das Hin- und Herwandern von Menschen, das Überqueren von Grenzen (was allerdings ein zeitloses Thema ist). Die Möglichkeit unserer Tage indes, Räume innerhalb kürzester Zeit durchqueren zu können und auch zu müssen, bleibt nicht ohne Effekt auf uns; die Schnelligkeit der Wechsel lässt das Empfinden kaum noch nachkommen. Real, fast körperlich, spüren inzwischen die meisten von uns, was es mit der Beschleunigung auf sich hat: sie lässt uns herausfallen.
«Feinstofflich» kann man Sema Kaygusuz‘ Sprache nennen, was Wortwahl und das Gespinst der Worte angeht, gleichzeitig ist der Text durchstrukturiert und doch fragil. Fragil sind natürlich auch die Figuren. Die Sonderlinge von Sema Kaygusuz heißen Yakup, Bora und Helin, Ruth, ja, selbst Gülayşe, die derb und übergriffig in den Lebensraum der Erzählerin einbricht, und sie erinnern mich unwillkürlich an die der deutschen Früh-/Spät-Romantik: Lenz (Georg Büchner), Eduard aus dem «Stopfkuchen» (Wilhelm Raabe), an den Nachtwächter (Bonaventura), an Friedrich Mergel (Annette von Droste-Hülshoff). Oh, wo waren denn da die Frauen?

Lassen Sie sich also auf eine Reise ganz anderer Art mitnehmen und legen Sie das Buch sachte weg, nachdem «Himmel und Erde aufgestöhnt haben». – Gestöhnt habe auch ich ein wenig, das muss ich hier noch anbringen. Ich hätte das Nachwort nicht lesen sollen/dürfen, denn es hat etwas zugebaut, was Sema Kayguzus so leichtfüßig offengehalten hat: Sie hatte Freiräume gelassen, und nicht zuviel angestupst. («Uns braucht niemand anzustupsen, nicht wahr, Birhan, wir wachen von allein auf.») Aber vielleicht brauchen ja andere Leserinnen eine Anleitung, und das Nachwort ist gut gemeint.

Sema Kaygusuz: Schwarze Galle, Geschichten, 140 Seiten, Matthes & Seitz Verlag, ISBN: 978-3-88221-049-1

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Karin Afshar im Glarean Magazin

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