Glarean Magazin

Jürg Amann: «Der Kommandant»

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«Angesichts der Wirklichkeit ist alles Erfinden obszön»

Günter Nawe

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Die Erinnerungen – oder besser: das Selbstzeugnis des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß aus dem Jahre 1958 – sie sind im Gedächtnis geblieben als grausames Dokument. Nicht zuletzt war es die unglaubliche Kälte und die fast perverse Naivität und Selbstgerechtigkeit des Textes und seines Autors, die den Leser auf das Äußerste erschüttert haben.
«Das hat mich geradezu über den Haufen geworfen, dass einer sich hinstellt, einer der Haupttäter des Nazi-Regimes, und schreibt freiwillig Faktum für Faktum, wie das zustande gekommen ist, wie er den Auftrag erhalten hat, wie er den umgesetzt hat, wie er den pflichtdienstlich zur höchsten Effektivität gesteigert hat, als ob er Buchhaltung führen würde über sich selber.»

Braver Katholiken-Sohn, korrekter Verwaltungs-Beamter - und gewissenloser Gas-Massenmörder: Auschwitz' berüchtigster Kommandant Ruolf Höss (Geb. 1900, 1947 als Kriegsverbrecher hingerichtet)

So der Schweizer Autor Jürg Amann in einem Interview über die Höß’schen Aufzeichnungen und sein literarisches Projekt. Und so hat er sich – anders als seiner Zeit Jonathan Littell in «Die Wohlgesinnten» – den Originaltext vorgenommen und ihn verdichtet. Amann wollte nichts erfinden, die Fakten waren schlimm genug. «Angesichts der Wirklichkeit ist alles Erfinden obszön», so Jürg Amann.
Herausgekommen ist bei dem dramaturgischen Prozess der Verdichtung und Neustrukturierung der Erinerungen von Rudolf Höß ein Text, der noch dramatischer, noch schrecklicher ist als das Original, obwohl kein Wort hinzugefügt und kaum ein Satz verändert worden ist. Jürg Amann ist ein als «Monolog» bezeichnetes Monodram in sechzehn Stationen gelungen, in dem das gelebte Leben des Rudolf Höß noch einmal eine eigentlich kaum möglich geglaubte Zuspitzung erhält.

Es fällt schwer zu lesen, wie der spätere Lagerkommandant zuerst Priester werden wollte, dann als Soldat «eine Heimat, ein Geborgensein, in der Kameradschaft der Kameraden» gefunden hat; wie aus dem einfachen, aber fast fanatischen Soldaten der SS-Mann und später der Lagerkommandant geworden ist. Von den kalten Schilderungen des Lagerlebens und der Grausamkeiten nicht zu reden. Sätze wie: «So gab es viele erschütternde Einzelszenen, die allen Anwesenden nahegingen», oder: «Das Leben und das Sterben der Juden gab mir wahrhaft Rätsel genug auf, die ich nicht zu lösen imstande war» machen den Leser wütend, traurig – und ratlos.
Am Ende der Orignalaufzeichnungen schrieb Rudolf Höß bzw. zitiert Jürg Amann: «Mag die Öffentlichkeit ruhig weiter in mir die blutrünstige Bestie, den grausamen Sadisten, den Millionenmörder sehen – denn anders kann sich die breite Masse den Kommandanten nicht vorstellen. Sie würde doch nie verstehen, dass der auch ein Herz hat, das nicht schlecht war.»

Jürg Amann hat in seinem «Kommandanten» ein beeindruckendes Stück Literatur geliefert - Literatur, die dem ungeheuerlichen Stoff gerecht wird. Durch die Verdichtung, den dramaturgischen Prozess der Verschlankung eines Textes gelingt es ihm, ohne persönlich gefärbte Zusätze die nackte Wirklichkeit herauszustellen - und die ist grausam genug.

Jürg Amann hat versucht – und es ist ihm hervorragend gelungen -, mit der literarischen Verdichtung des Höß-Textes, mit dem distanzierten Blick des Autors eine Annäherung an das Böse zu finden, das Unfassbare begreiflich zu machen, zu erkennen, was wohl im Kopf eines Massenmörder vor sich geht. Dabei ließ er sich nicht von Emotionen, von eigenen Vorstellungen und Phantasien, von möglichen Einflüssen auf Denken und Fühlen leiten. Er läßt auf seine Weise nur das Original sprechen – und das ist schrecklich genug. Einmal mehr aber erkennt der Leser gerade dadurch, was es mit der Formulierung Hannah Arendts von der «Banalität des Bösen» auf sich hat. ■

Jürg Amann, Der Kommandant – Monolog, 108 Seiten, Arche Verlag. ISBN 978-3-7160-2639-7

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Leseproben

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Das Zitat der Woche

Posted in Adolf Hitler, Geschichte, Holocaust, Literatur, Nazi-Deutschland, Politik&Gesellschaft, SS by Walter Eigenmann on 10. Oktober 2010

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Über Hitlers frühe Vernichtungspläne

Nürnberger Prozess 1945/1946

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Hitlers Versuch, die Juden Europas auszurotten, hat im Nürnberger Prozeß einen breiten Raum eingenommen. Es gab auf der Anklagebank kaum einen Repräsentanten des Dritten Reiches, dem nicht zumindest eine Mitschuld an diesem entsetzlichen Vernichtungsprogramm vorgeworfen und nachgewiesen wurde. Der Antisemitismus der Partei war nicht akademisch; er verlangte nach Taten und fand Henker und Schergen genug, sie auszuführen.
Die Geschichte der Judenverfolgung im Dritten Reich ist angefüllt mit unglaublichen Schrecken und Verbrechen, deren ganzes Ausmaß dem deutschen Volke selbst heute noch verborgen ist. Es fing so scheinbar harmlos an und endete mit der Vernichtung von vier bis fünf Millionen Menschen. Es fing so harmlos an, und doch ließ der Beginn die künftigen Schrecken ahnen.
Die Marschroute, die Hitler und seine Genossen einschlagen würden, ist bereits im Programm der Nationalsozialistischen Partei vom Februar 1920 festgelegt. Dort heißt es: Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist, Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksicht auf die Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.
Nach der Machtergreifung hatte man die »gesetzlichen« Mittel, das Parteiprogramm in die Tat umzusetzen. Zahlreiche Verordnungen beschnitten die Rechte der deutschen Juden. Eingewanderte Juden wurden ausgebürgert, Juden durften mit »Ariern« nicht verheiratet sein, sie durften nicht wählen, sie durften bestimmte Berufe nicht ausüben und gewisse Verkehrsmittel und Unterhaltungsstätten nicht benutzen. Sie durften nur noch eines: hohe Steuern und Sühnestrafen zahlen und später sterben.

Doch damit nicht genug. Man organisierte den uniformierten Mob 1933 und 1938, zündete Synagogen an, boykottierte jüdische Geschäfte, schlug die Juden und schoß sie nieder. Immer schärfer werden die Maßnahmen. Von den 500’000 in Deutschland wohnenden Juden haben bis Kriegsbeginn 200’000 Zuflucht im Ausland gesucht. Den Zurückgebliebenen wird bald klargemacht, daß es jetzt um mehr geht als um Heimat, Wohnung, Freunde, daß nun das Leben auf dem Spiel steht.
In seiner Reichstagsrede vom 30. Januar 1939 drückte sich Hitler deutlich genug aus: »Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.«
Hitler hatte damals wohl noch keine genauen Vorstellungen, wie er sein Ziel erreichen könnte, obwohl er schon 1923 in seinem Buch Mein Kampf klagte: »Hätte man nur zu Kriegsbeginn (1914) einmal zwölf- oder fünfzehntausend dieser hebräischen Volksverderber unter Giftgas gehalten!« Vielleicht liebäugelte er zeitweise mit dem kuriosen Plan des Angeklagten Hjalmar Schacht, die deutschen Juden nach Madagaskar zu deportieren. Aus Tarnungsgründen wurde dieser Plan erst 1942 endgültig begraben. Damals gab Abteilungsleiter Franz Rademacher den Stellen des Auswärtigen Amtes neue Anweisungen: »Der Krieg gegen die Sowjetunion hat inzwischen die Möglichkeit gegeben, andere Territorien für die Endlösung zur Verfügung zu stellen. Demgemäß hat der Führer entschieden, daß die Juden nicht nach Madagaskar, sondern nach dem Osten abgeschoben werden soIlen.«
Hitler wiederholte die oben zitierte Stelle seiner Rede später noch fünfmal. Sie ist der Schlüsselsatz zu den Verbrechen, welche die Ausrottung von Millionen Menschen unter dem Tarnwort *Endlösung* bedeuteten. ■

Aus J. Heydecker & J. Leeb, Die Ausrottung der Juden, in: Der Nürnberger Prozess, Verlag Kiepenheuer&Witsch 1958/2003

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Das Zitat der Woche

Posted in Eugen Kogon, Geschichte, Nazi-Deutschland, Politik&Gesellschaft, SS, Zitat der Woche by Walter Eigenmann on 20. März 2010

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Vom menschlich Bösen

Eugen Kogon

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Im KL Buchenwald hatte die SS eine eigene Liquidationsanstalt neben der Reithalle, außerhalb des Stacheldrahtbereiches. Dort wurde nur erschossen. Für das Kommando bestand bei der Kommandantur das Stichwort »99«. Die Scharführer wurden ihm, soweit sie sich nicht freiwillig gemeldet hatten, abwechselnd zugeteilt.
Wenn die ahnungslosen Opfer, fast durchweg russische Kriegsgefangene, in den Stall kamen, hielt der leitende SS-Offizier des Mordkommandos eine kurze Ansprache, die übersetzt wurde: »Sie sind in einem Sammellager. Um die Ansteckungsgefahr zu vermeiden, müssen Sie vorher untersucht, desinfiziert und gebadet werden. Beim Ausziehen zuerst den Rock, dann die Hose hinlegen, die Schuhe daneben stellen, die Erkennungsmarke in die Schuhe legen, damit es keine Verwechslungen gibt.« Die Scharführer gingen in weißen Mänteln umher, um Ärzte vorzutäuschen. Dann hieß es: »Die ersten sechs Mann zum Baden!« Ein Lautsprecher wurde auf volle Stärke eingeschaltet, der Grammophonmusik brachte, während durch einen anderen Namen und Nummern laut gerufen wurden.

Eugen Kogon (1903-1987)

Zur selben Zeit spielte sich in den nächsten Räumen die blutige Tragödie ab. Die zum >Baden< bestimmten Opfer gingen in einen kleinen Raum, der schalldichte Wände und Türen hatte; er war als Baderaum ausgestattet, mit Fliesen am Boden und an den Wänden und acht Duschen. In der Tür befand sich ein 30 Zentimeter breiter und drei Zentimeter hoher Schlitz. Ein SS-Mann schloß die Tür fest zu und schoß die auf das Bad Wartenden mit einer automatischen Pistole zusammen.
Lagen alle am Boden, oftmals nicht tödlich getroffen, so wurden sie auf ein Lastauto geworfen, das mit Zinkblech ausgeschlagen war. Die Duschen wurden aufgedreht, das Blut weggespült – die nächsten konnten antreten! Auf diese Weise wurden an manchen Tagen von neun Uhr abends bis fünf Uhr morgens 500 Mann >gebadet<.
Anfangs bediente sich die SS einer Maschine (die aber wieder abgeschafft wurde, weil sie nicht rasch genug arbeitete): Auf einem Holzpodium war eine Latte zum Messen der Körperlänge angebracht mit einm Schlagbolzen in der Höhe des Genicks. Wenn sich der ahnungslose Delinquent auf das Podium stellte, schnellte der Bolzen heraus und zertrümmerte Genick oder Hirnschale. Die Maschine tötete nicht immer, die Halbtoten wurden trotzdem auf den Leichenwagen zum Krematorium gefahren. Dort erhielten sie den Gnadenschlag mit einer großen Eichenkeule.
Der Krematoriumsgehilfe Zbigniew Fuks hat erlebt, dass ein russischer Kriegsgefangener, der mit einer Fuhre Leichen eingebracht worden war, ihn noch ansprach: «Kamerad, gib mir die Hand!» Er war wie alle Erschossenen nackt und blutig und hatte auf einem Haufen nackter Leichen gelegen. Er wurde von dem hinzuspringenden SS-Oberscharführer Warnstedt, dem Leiter des Krematoriums Buchenwald, mit einem Revolverschuss getötet. […]
Sämtliche SS-Angehörige des «Kommandos 99» haben das Kriegsverdienstkreuz erhalten. ■

Aus Eugen Kogon, Kommando 99 – Pferdestall, in: Der SS-Staat – Das System der deutschen Konzentrationslager, Kindler Verlag 1974

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