Glarean Magazin

Kurzprosa von Stephanie Bart

Posted in Literatur, Neue Prosa, Prosa, Stephanie Bart by Walter Eigenmann on 11. Januar 2008

.

Seemannsgarn

Stephanie Bart

.

Ich gehe spazieren in Hamburg auf St. Pauli. Nicht in St. Pauli, sondern auf St. Pauli, wie man in Hamburg sagt. Als ob St. Pauli eine Insel wäre. Es spinnt sich viel Seemannsgarn auf und um St. Pauli herum, obwohl die Seemänner schon lange nicht mehr an Land kommen dürfen, weil das den Reedereien zu teuer ist. Die Matrosen sollen was tun für die Heuer und fix den Kaffee verladen, damit das Schiff den ach so kostspieligen Hafen so schnell wie möglich wieder verlassen kann. Keine Seemänner mehr auf St. Pauli und doch immer noch langes, endloses Seemannsgarn, verflochten, verwoben, und alle, alle glauben daran.  Glitzerndes, schwitzendes Amüsiergewerbe, kontrolliertes Verbrechen, Randexistenzen und Künstlertum und gemeinsinnig bodenständige Nachbarschaft weben daran, flechten am Seemannsgarn.
An der Ecke Davidstraße Bernhard-Nocht-Straße spricht ein Passant einen anderen an:  «Entschuldigung, könnten Sie mir bitte sagen, was Heimat ist?» –  «Natürlich: Heimat ist, wo ich mich verändern kann.» –  «Verändern, ja, vielen Dank.» –  «Keine Ursache.»
Ich gehe runter zu den Landungsbrücken und setz mich da auf eine Bank. Dann nehme ich das Paket aus der Tasche, das vorhin mit der Post gekommen ist. Es enthält einen Stapel verschieden beschriebener Seiten und eine Postkarte vom Münchner Oktoberfest mit einer blonden, blauäugigen Serviererin vorne drauf und folgendem Text auf der Rückseite:  «Liebe S., wer außer dir könnte damit etwas anfangen, dachte ich und schicke dir also, was ich bei der Haushaltsauflösung deines verstorbenen Onkels für dich zur Seite gelegt habe: Tagebuchaufzeichnungen deines Onkels, der ja ein pedantischer Archivar war, bruchstückhaft die Skizzen für die philosophischen Versuche seines Onkels, also deines Großonkels und einen Reisebericht wiederum seines Onkels, also deines Urgroßonkels. Die drei Stapel lagen säuberlich auf dem Schreibtisch, aber dann  kam der Kater mit seiner wunderlichen Neigung zu Büchern und Manuskripten, und hinterher war alles durcheinander. Ich überlasse es dir so, wie es ist, herzliche Grüße, dein Onkel T.» Ich beginne zu lesen:
«Ich wohne in einer anständigen Straße. Die Häuser sind in den 50er und 60er Jahren erbaut worden, sind aber ihrer sorgfältigen Pflege wegen sehr gut erhalten und sehen nach wie vor wie neu aus. Die Leute wohnen alle schon sehr lange hier. Im Grunde genommen kennt man sich, aber man ist nicht etwa befreundet oder lädt sich zum Kaffee ein. Ich wohne seit jeher sehr gerne hier, denn es ist eine ruhige und, wie gesagt, anständige Gegend.
Eigentlich kann ich überhaupt nicht mehr wohnen. Die Wohnungen, in denen ich groß geworden bin, haben etwas Unerträgliches angenommen: Jeder Zug des Behagens darin ist mit Verrat an der Erkenntnis, jede Spur der Geborgenheit mit der muffigen Interessengemeinschaft der Familie bezahlt.
Ich kam mit dem Postdampfer von Sydney, und als ich den Hafen der Insel erreichte, lagen an der großen Kaimauer zwei bis drei Dampfer und ebensoviel große Segelschiffe. Auf dem Kai selbst winkten uns Taschentücher und Sonnenschirme entgegen. Da standen Zollbeamte mit Tropenhelm zwischen weißen Siedlern in Pyjamas, entlassene Sträflinge und desertierte Matrosen lungerten herum, und einige Eingeborene machten großen Lärm.»
Ich habe noch nie etwas von diesen Onkeln gehört. Ich schaue in die blaue Luft und atme den schwachen Salzgeruch ein, den das Meer von der Elbmündung bis hier her noch weht. Dann lese ich weiter:
«Ich habe in unserem Haus ein Arbeitszimmer. Es ist eine Dachkammer, die ich mir selbst ausgebaut habe, teilweise zumindest. Den Teppich habe ich von einem Fachmann verlegen lassen, aber es war mir, der ich einer geistigen Tätigkeit nachgehe, eine willkommene Abwechslung, mich einmal handwerklich zu betätigen, und so habe ich die hölzerne Deckenverkleidung eigenhändig eingezogen, an den Schrägen wie am Plafond, und ich darf in aller Bescheidenheit sagen, dass ich sie immer wieder mit Stolz betrachte.
Wenn ich mich mit Möbelentwürfen und Innendekoration beschäftige, gerate ich in die Nähe des kunstgewerblichen Feinsinns vom Schlag der Bibliophilen, wie entschlossen ich auch gegen das Kunstgewerbe im engeren Sinne angehen mag.
Mittlerweile haben die Kurven der reinen Zweckform gegen ihre Funktion sich verselbständigt und gehen ebenso ins Ornament über wie die kubistischen Grundgestalten.
Parallele Straßenzüge führten vom Hafen nach den Hügeln, die hinten die Stadt begrenzten. Ich trat auf einen leeren, unsauberen Platz mit einem Brunnen. Dort träumten auf morschen Droschken verkommene Kutscher. Irgendwo war ein weiß  gestrichenes Rathaus und irgendwo auch die Residenz des Gouverneurs. Auf der Straße sah ich Verwaltungsbeamte mit gewienerten Schnurrbärten und weiße Siedler, Händler nämlich, Gastwirte und kleine Pflanzer, die den Pyjama zum Straßenanzug gemacht hatten. Die tropische Sonne hatte ihnen einen Hauch von Vernunft eingebrannt, und die Ferne zu den europäischen Konventionen ein Übriges getan: Endlich wollten sie es bequem haben. Zuerst hatten sie den Schlafanzug nach dem Aufstehen ausgezogen, dann nach dem Frühstück, und dann gar nicht mehr.
Sie hatten schnell erkannt, dass er die ideale Bekleidung war. Perfekt für das Klima und komfortabel in jeder Richtung hob er sie sowohl von den Kolonialbeamten und Mitgliedern der staatlichen Handelsgesellschaften ab, wie er sie den Eingeborenen gegenüber als Europäer auswies. Die Be-amten und die Siedler waren Männer mittleren und gehobenen Alters, die sich nach der Arbeit im Cercle sammelten und Karten spielten, ausrangierte Artistinnen von Sydney in einem Tingeltangel beklatschten und Kinematographen bewunderten.»
Ich stecke das Paket in die Tasche und geh rüber zur Überseebrücke.
Unterwegs spricht mich ein Spaziergänger an:  «Entschuldigung, könnten Sie mir bitte sagen, was Heimat ist?» –  «Bitte schön, Heimat ist eine Entscheidung, die unter Umständen auch im Exil getroffen werden kann.» – «Entscheidung, Exil, alles klar, vielen Dank.» –  «Da nich für.»
Auf dem Ponton von der Überseebrücke stehen zwei Bänke und ich setz mich auf die linke davon. Die Cap San Diego liegt fest vertäut und rührt sich nicht. Ich lese weiter:
«In dieser Dachkammer kann ich ganz ungestört arbeiten, und ich ziehe mich auch dahin zurück, wenn ich zum Beispiel in Ruhe ein Kreuzworträtsel lösen möchte. Hier oben belästigt mich nicht einmal das Radio, das meine Frau in der Küche sehr laut eingestellt hat, damit es die Dunstabzugshaube und das Töpfeklappern übertönt.
Ich weiche der Verantwortung fürs Wohnen aus, indem ich ins Hotel oder ins möblierte Appartement ziehe, und mache damit gleichsam aus den aufgezwungenen Bedingungen der Emigration die lebenskluge Norm.»
Da fegt eine Brise die drei obersten Blätter meiner Lektüre in einem hastig hingerotzten Ballet bis zum Rand des Pontons, lässt sie einen halben Atemzug lang zögern, hebt sie elegant über die Kante, und dann segeln sie übers silbrig glitzernde Wasser, bis sie die Oberfläche berühren und mit der langsamen Strömung hinaus treiben.
«Ich fand», berichtet mein Urgroßonkel nach den drei weggewehten Blättern,  «dass die einzige Aufregung der Insel die monatliche Ankunft und Abfahrt des Postdampfers von und nach Sydney war. Alles, was etwas auf sich hielt, stand dann ein bis zwei Stunden auf dem Kai und winkte Unbekannten zu, mit Taschentuch, Sonnenschirm und viel Eifer.»
Von der Brücke kommt eine ältere Dame mit einem kleinen Hund und setzt sich auf die andere Bank, und dann kommt ein Penner und spricht die Dame an:
«Entschuldigung, könnten Sie mir bitte sagen, wo ich zu Hause bin?» Die Dame nickt und lächelt:  «Es gehört zur Moral, junger Mann, nicht bei sich selber zu Hause zu sein. Schon Nietzsche…» –  «Auch Nietzsche hatte ein Arbeitszimmer», mault der Penner und trollt sich, und da fällt mir ein, wer die Onkel sind.
«Diese einzige Aufregung war eine in ihrer Unschuld rührend wirkende Zerstreuung», schreibt mein Urgroßonkel und macht einen Gedankenstrich:  « – und sie war symptomatisch für die Langeweile, die in diesem tropischen Seldwyla gnadenlos herrschte.» ■

.

____________________________

Stephanie Bart

Geb. 1965 in Esslingen/D, Studium der Ethnologie und der Politischen Wissenschaften an der Universität Hamburg, verschiedene Broterwerbstätigkeiten, lebt als Rikscha-Fahrerin und Stadtführerin in Berlin

.

.

Folgen

Erhalte jeden neuen Beitrag in deinen Posteingang.

Schließe dich 102 Followern an