Glarean Magazin

Vergessene Bücher (3): «So grün war mein Tal» von Richard Llewellyn

Posted in Essays & Aufsätze, Literatur, Richard Llewellyn, Vergessene Bücher, Walter Ehrismann by Walter Eigenmann on 6. August 2011

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Existentielle Fragen des Menschseins

Walter Ehrismann

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«So grün war mein Tal», 1939 im englischen Original erschienen, war das Hauptwerk des walisischen Autors Richard Llewellyn (Pseudonym von Richard Dafydd Vivian Llewellyn Lloyd), ein Roman über das Leben in einer Bergbausiedlung im Süden von Wales, 1942 von John Ford mit Maureen O’Hara und Walter Pidgeon verfilmt unter dem Titel «How Green Was My Valley». Der Streifen wurde für zehn Oscars nominiert, mit fünf Oscars prämiert, und gilt als einer der besten Filmwerke aller Zeiten – später, 1975, nochmals verfilmt als sechsteilige Fernsehserie. 1990 wurde der Film von John Ford ins Verzeichnis der National Film Registry aufgenommen, seiner kulturellen, historischen und ästhetischen Bedeutung wegen. Von Richard Llewellyn, 1906 in London geboren, ist dieser Roman das bekannteste seiner Werke. Der Schriftsteller verbrachte jedoch nur einen Teil seines Lebens in Wales. «Wie grün war mein Tal doch und das Tal jener, die nicht mehr sind» – so endet der Roman.

Im Mittelpunkt der beeindruckenden Familiensaga steht die Geschichte der Bergbau-Familie Morgan, die um 1880 ein einfaches, aber zufriedenes Leben führt. Geburt, Kindheit und Jugend, kirchliche Einsegnung, die ersten langen Hosen und der erste Kuss, Schule und Arbeit, Konflikte, Fussballspiel und Chorsingen, Diebstahl und Totschlag, Krankheit und Alter sind eingebettet in das Drama der kommenden Entfremdung. Die vordergründige Idylle findet ein jähes Ende, denn man hat im Tal neue Kohlevorkommen entdeckt, und schon bald entbrennt zwischen der Dorfgemeinschaft und den skrupellosen englischen Grubenbetreibern ein rücksichtsloser Interessenkampf um Gewinn und Arbeiterehre, um Privilegien und althergebrachtes Leben, um Modernisierung und Zerfall der bestehenden Gesellschaftsstrukturen. Es ist die Geschichte eines Tales und eines Städtchens, das vom Bergbau lebt und vom Bergbau zugrunde gerichtet wird, eines Ortes wie viele auf der Welt, die am Ende des vorletzten und zu Beginn des letzten Jahrhunderts durch die maßlose Industrialisierung verändert, ruiniert wurden und mit ihnen die ganze Lebensart. Am Ende wirft der Grosse Krieg (1. WK) seinen drohenden Schatten voraus.

Wenn der Industrie und der Wirtschaft ganze Landstriche geopfert werden: Szene aus dem s/w-Film «How green was my valley» (1941)

Wenn früh am Morgen die Männer aus den Häusern treten und zur Grube gehen, stehen die Frauen unter der Tür und schauen ihnen nach, wie sie die Strassen hinunter marschieren, einander grüssen, das Essenspaket in der einen Hand, die Pfeife in der andern. Links und rechts der Strasse die typischen Reihenhäuser, zweistöckig, weiss getüncht, die schmalen Vorgärten mit dem Sitzplatz und hinter den Häusern der Gemüsegarten, ein Bäumchen, Beerensträucher, ein Kaninchenstall oder ein Gehege für ein paar Hühner. Huw, der Jüngste der Familie Morgan, erzählt von seinen Eltern, die hart am Wandel der Zeit tragen, aber dennoch stets versuchen, die Familie zusammenzuhalten. Die ganze Familie Morgan ist mit darin verwickelt – der Vater Gwilym als Stollenmeister, die fünf älteren Söhne als Hauer oder Maschinisten. Die Brüder, stolze und leidenschaftliche Männer, machen sich für die Rechte der Arbeiter stark und gründen neu eine Gewerkschaft, während Angharad, eine der Schwestern, den Sohn eines Grubenbesitzers heiratet. Eine beginnende, zarte Romanze zwischen ihr und dem viel älteren Prediger hat sich nicht erfüllt. Und die Mutter? Sie verwaltet die Geldbüchse, die jeder am Schluss der Woche mit seinem Lohn füllt. Zu Bronwen, der Braut eines seiner Brüder, schaut Huw in jugendlicher Verehrung auf. Er himmelt sie an, denn sie ist es, die ihn in der langen Zeit seiner Krankheit pflegt und aufmuntert. Später wird sie zu seiner ersten grossen Liebe, und nur das gegenseitige Wissen um die Zugehörigkeit verhindert ein Abgleiten ins Unerlaubte.
In Rückblicken erzählt der Autor mit der Stimme des halb erwachsenen Huw die Geschichte. Er spürt den Ernst des drohenden Streiks, der den Streit entfachen wird zwischen dem Vater mit seinen althergebrachten Ansichten und Huws Brüdern. Huw Morgan, noch zu jung für den Einstieg in die Grube, ruft sich in Erinnerung, wie er als Knabe die dramatischen Ereignisse erlebte, die nicht nur das Leben seiner Eltern und der ganzen Familie, sondern auch sein eigenes und das aller Bewohner des Minenstädtchens radikal veränderte. Danach zieht er für immer weg von Cwn Rhondda, weg aus dem Tal wie alle, die versuchen, einen Platz an der Sonne, das heißt Arbeit und überhaupt eine Zukunft zu haben.

Fragen von existentieller Bedeutung aufgeworden: Richard Llewellyn (1906–1983)

Im Verlaufe der Geschichte wird der Leser, die Leserin mit Fragen konfrontiert, die unser aller Zusammenleben betreffen: Was ist allgemein gültig? Was ist Moral, gibt es Sünde, und wie steht es mit der Strafe, der Rache? Darf der Vater eines geschändeten und ermordeten Mädchens den überführten Täter töten? Llewellyn meint dezidiert «Ja» – und als Leser/Leserin ist man hin- und hergerissen, wenn das eigene moralische Denkgebäude ins Wanken gerät, gerade wenn wir an die heutigen Fälle von Kinderschändung denken und unser Rachegefühl von der Justiz schlecht bedient wird, das Gesetzbuch Lücken aufweist oder die wankelhafte Auslegung durch Richter, Psychiater und zeitbedingte Ansichten uns unsere eigene Verantwortung abnimmt. Die ganze männliche Dorfgemeinschaft in dieser Tragödie eines «zurückgebliebenen» Bergbaugebiets in Wales am Ende des vorletzten Jahrhunderts beteiligt sich an der Suche nach dem Mörder, übergibt, als sie ihn findet, den jämmerlich um sein Leben flehenden Mann an der Stelle, wo das achtjährige Kind getötet wurde, dem Vater und überlässt den wimmernden Täter der Rache des Vaters. Es war ein «Ausländer», ein zugewanderter Engländer, der nicht zur Gemeinschaft der kleinen Stadt gehörte. Die Männer bilden einen Kreis um die beiden und schauen zu, die Frauen und Kinder sind im Dorf geblieben und hören die Schreie. Diese archaische Szene ungefähr in der Mitte des Buches bildet den Auftakt zu Huws endgültigem Erwachsenwerden. Rückblickend überschaut der Erzähler seine Kindheit und Jugend in diesem Städtchen im Süden von Wales, das unter den täglich größer werdenden Schlackebergen der Kohleförderung, die schleichend langsam bis zu den Hintergärten reichen, zu ersticken droht. Wo früher Wiesen und Weiden für Schafe waren, Obstgärten, Teiche, Wege und Plätze, überallhin stößt nun die Schlacke vor, die Reste der Kohle, die bei der Verhüttung übriggeblieben sind, oder der unverwertbare Teil des Aushubs aus den Bergwerken, der nicht allein die Landschaft verschandelt, sondern sich auch in den Lungen der Menschen festsetzt, sie krank macht. Dieser Verfallsprozess des Einzelnen und der Gemeinschaft ist der Inhalt des Romans, der uns in eindrücklichen Bildern zeigt, was Gier, Gewinnsucht, Aufhebung der innerlich verspürten Schranken in den Menschen anrichtet. Die Söhne entfremden sich dem Vater, die Frauen den Männern, die Tochter entfremdet sich der Mutter, der Einzelne dem gemeinsamen Wohl. Dazwischen schieben sich Erinnerungsstücke von umwerfender Komik, wenn ein Fussballmatch zwischen zwei Orten zu den damaligen Regeln ausgetragen wird, die Besäufnisse und Schlägereien nach dem Schlusspfiff, wenn der ortsansäßige Chor eingeladen wird, vor der Königin (Viktoria) zu singen, oder wenn Huw von einem Boxer, dem Freund eines seiner Brüder, auftrainiert wird, um in der Schule den ungerechten, verhassten Lehrer verprügeln zu können.
Huw Morgan wird das Bergbau-Städtchen und die wenigen Übriggebliebenen seiner Familie am Ende der Geschichte verlassen. Als Erinnerungsstück nimmt er das blaue Tuch, das seine Mutter jeweils als Schal um die Schultern gewickelt hat, mit auf den langen Weg. Als er geht, ist das Schicksal der kleinen Stadt und der Landschaft längst besiegelt: Alles wird zerstört werden wie so viele Städte und Dörfer dieser Gegend, der Kohleförderung, den Zechen, den Begleiterscheinungen des Bergbaus und den Hüttenwerken geopfert im Verlaufe der fortschreitenden Industrialisierung. Kaputtgemacht auch die Sitten, Bräuche und Bindungen der in Jahrzehnten gewachsenen Gemeinschaft, hingegeben dem Moloch Moderne.

«How Green Was My Valley»: Idyllische Bergwelt-Kindheit und...

Huws Erinnerungsarbeit beginnt dort, wo er und einer seiner Brüder heimlich die geheimen Versammlungen der Arbeiter nachts am Berg belauschen, die Rede des allgemein geachteten Vaters anhören, der den Leuten ins Gewissen redet und sie von der Nutzlosigkeit und Unrechtmässigkeit eines Streiks zu überzeugen versucht, wie sich die Mutter einmischt in das beginnende gewerkschaftliche Gebaren der Männer, wie sie auf dem Rückweg von der Versammlung auf dem Eis des Baches ausrutscht und Huw ihr das Leben rettet, indem er stundenlang ihren Körper mit dem seinen stützt im Eis. Er wird krank, bettlägrig, verpasst die Einschulung und wird zuhause vom Prediger der Gemeinde in Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtet. Bronwen, die junge Frau seines Bruders, päppelt ihn auf, verwöhnt ihn mit ihrer Kochkunst. Sie wird zum ersten Idol seiner Knabenjahre.  Und als Huw endlich dem Unterricht der Primarschulstufe folgen kann, hat er Mühe, sich einzugliedern. Eine verarmte Frau, die ihren bei einem Eisenabstich verbrühten Mann pflegt, lehrt für ein paar Pences in ihrer Stube die Kinder der Bergleute das Einmaleins und die Buchstaben des Alphabets. Noch schwieriger wird’s für Huw auf der Mittel- und Oberstufe. Er muss ins benachbarte Städtchen, ist gut eine Stunde zu Fuss unterwegs. Es ist eine Tagesschule, jedes Kind bringt von daheim die Mittagsverpflegung mit. Walisisch, ihre ureigene Sprache, ist im Unterricht und auf dem Pausenplatz strikte verboten. So müssen sie halt Englisch parlieren, für die Jugendlichen eine Fremdsprache. Ihr Walisisch ist nahe dem Gälischen und dem Bretonischen verwandt und weist überhaupt keinen Bezug zur englischen Sprache auf. Wer gegen diese eiserne Schulregel verstößt, bezieht Prügelstrafe, damals an der Schule gang und gäbe, vom Prügelmeister mit dem Rohrstock vollzogen. Dieser «Sprachenstreit» gibt einen Einblick in die Distanz, die zwischen den ehemaligen Eroberern aus England und den walisischen Untertanen herrschte und immer noch herrscht. Erst in jüngerer Zeit ist an den Schulen Walisisch als Unterrichtssprache an der Unter- und Mittelstufe wieder eingeführt worden, zuerst den Behörden in der Thatcher-Ära abgetrotzt und dann rechtlich abgesichert.
Der Junge verliebt sich. Leider stammt das Mädchen, das mit ihm dieselbe Schulklasse der Oberstufe besucht, aus dem Nachbarort. Nachts auf dem Berg lässt er seine Angebetete den Klang der Nachtigal hören, in freier Natur unter dem Sternenhimmel. Sie schlüpfen, weil es gegen morgen kalt wird, unter die Decke und Huw erkundet die Geheimnisse des weiblichen Körpers. Plötzlich Lärm und Fackeln! Die Männer des andern Städtchens suchen die zwei, und nur mit knapper Not entkommen sie unerkannt der drohenden Strafe.
Im Gottesdienst ihrer Kirche muss Huw einmal mitansehen, wie es einer jungen Frau ergeht, die «gefallen» ist: Vor der Gemeinschaft der Gläubigen beichtet sie ihren Abfall vom rechten Glauben und von der gültigen Moral, und obwohl Huw weiß, dass der ältliche Pastor ein Verhältnis mit Huws junger Schwester hat, gelingt es ihm nicht, eine weniger rigide Denkart im Kreis der Diskutierenden einzubringen. Er muss in der Kirche schweigen, weil er unter den Gläubigen noch zu jung ist. Nachher aber, vor der Kirche, wagt er es, für die Gemassregelte Partei zu ergreifen. Sein Vater ist erschüttert über den unbotmäßigen Jungen, dass er ihn tagelang mit Schweigen bestraft.

...drohende Zerstörung durch rauchende Fabrik-Schlote

So ist vieles in diesem Roman gezeichnet durch die Denkart einer längst entschwundenen Zeit, und doch, wenn man das Lokalkolorit weglässt, schälen sich die existentiellen Fragen des Menschseins heraus. Wer einen Vergleich herbeiziehen möchte, schaue sich den Film «Billy Elliot – I will dance» an. Auch diese Geschichte spielt im tristen Milieu einer Bergbau-Familie in Wales. Arbeit, Biertrinken, Boxen, Streik – all das ist in dieser Geschichte ebenfalls drin, vor realem Hintergrund der Thatcher-Ära hundert Jahre später als «So grün war mein Tal» – in der Zeit der grossen Arbeiteraufstände um 1980 wegen der angedrohten Schliessung der Gruben. Und auch in dieser Geschichte fällt der Junge aus der Reihe: Er will tanzen, nicht boxen! Billy wird in die Royal Dance Company aufgenommen, Huw Morgan, das alter ego des Schriftstellers Llewellyn, studiert in London. Beide verlassen ihren «Urgrund» und werden sich in der fernen Hauptstadt behaupten müssen. Bei beiden stellt sich die Familie anfangs quer. Bis der Vater stolz sein kann auf den Jungen, vergeht eine Zeit der Irrungen und Wirrungen. Huw erfährt die Unterstützung durch die Familie früher, er hat ja der Mutter das Leben gerettet. Außerdem gewinnt er den Schönschreibe-Wettbewerb einer Zeitung, sodass der Vater bereits früh stolz auf ihn sein kann.
Das alles entscheidende Ereignis aber ist der Streik. Huw erlebt die tiefe Spaltung zwischen Vater und Söhnen. Die Brüder Huws befürworten die Arbeitsniederlegung und verlassen im Streit die Familie und ihr Haus. Im Ort herrschen wegen des Streiks Hunger und Not, die letzten Reserven, das Geld der Gewerkschaft und die Nahrungsmittel, sind aufgebraucht, die Lohnbüchse der Mutter bleibt leer. Die Familien helfen einander, so gut es geht, aber zuletzt hat niemand mehr etwas. Obwohl Huws Vater lange gegen den Streik war und gar als Streikbrecher auftritt, stellt er sich zuletzt loyal hinter die Forderungen der Arbeiter und muss dafür bitter büssen. Der Streik misslingt und die Fabrikbesitzer nehmen Rache. Der Grubenbesitzer stellt ihn bei Kälte, Regen und Schnee als Eingangskontrolleur im Freien auf. Dann zerstört ein Wetter die Grube. Als Vater Gwilym auf Druck der Arbeiterkollegen nochmals als Retter zugelassen wird, gerät er auf der Suche nach Verschütteten in einen zusammenbrechenden Stollen. Unter den Toten ist auch er. Der Schaden ist immens, die Grube wird definitiv geschlossen. Die Ehe Angharads scheitert, ein Bruder stirbt an Depression, die andern sind weg, Vater und Mutter gestorben. So endet die Geschichte.

... ist eine Essay-Reihe, in der das Glarean Magazin Werke vorstellt, die vom kultur-medialen Mainstream links liegengelassen oder überhaupt von der «offiziellen» Literatur-Geschichte ignoriert werden, aber nichtsdestoweniger von literarischer Bedeutung sind über alle modische Aktualität hinaus. Die Autoren der Reihe pflegen einen betont subjektiven Zugang zu ihrem jeweiligen Gegenstand und wollen weniger belehren als vielmehr erinnern und interessieren.

Anhand der Inhaltsangabe ist man geneigt, das Buch als düster und traurig zu bezeichnen. Das ist es nicht, eher bittersüß, wenn es von Huws glücklicher Kindheit und Jugend erzählt. Die Tragödien, die die Familien und das Tal treffen und der schleichende Zerfall der Gemeinschaft wechseln sich ab mit fröhlichen Ereignissen, alles getragen von einer glücklichen, zusammenhaltenden und sich sehr liebenden Familie, auch wenn die schließlich auseinander gerissen wird. Bei der Sprache ist zu berücksichtigen, dass der Roman 1939 geschrieben wurde. Sie ist zwar «altmodisch», aber schön, das merkt man auch in der Übersetzung. Das Buch erreichte eine Weltauflage von weit mehr als zwei Millionen Exemplaren. An diesen Erfolg konnten die späteren Werke Llewellyns nicht anknüpfen. Die Fortsetzung der Morgan-Saga, unter dem Titel «Das neue Land der Hoffnung» erschienen, überzeugte literarisch nicht. Mangelnde Sachkenntnis im Flieger-Roman «Den Sternen nah» und schlicht Kitsch im Kibbuz-Buch «Und morgen blüht der Sand» wurde Llewellyn in der Kritik vorgeworfen. Der Autor verstarb im Dezember 1983 in Dublin.

Ich liebe Familiensagas, ihre Detailversessenheit, ihr autobiographisches Cachet, die Geschichten einer Epoche in ihrem historischen Rahmen. Oft verlege ich meine Ferien in das Gebiet eines Romans, den ich grad gelesen habe. So habe ich mal die ganze südliche Provence durchstreift auf der Suche nach den Orten aus dem Roman «Die Kinder der Finsternis». Oder ich lese Fachbücher, Geschichte, Reisebeschreibungen, sammle Zusätzliches. So bin ich vor kurzem auf einen Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung gestossen: Phönix aus der Kohle – die Auferstehung von Cardiff (NZZ vom 7. Juli 2011). Zitat: «Eine knappe halbe Stunde dauert die Fahrt von Cardiff Richtung Norden, dann ist man im Grünen. Das war nicht immer so. Erst in den vergangenen Jahren wurden hier die Löcher aufgefüllt, welche durch den Kohleabbau in der Region seit 1880 entstanden waren. Aber die Zeit heile alle Wunden, heißt es, und so entstanden auf den ehemaligen Kohleminen schrittweise Landschaftsparks, die den Touristen zum Wandern, Biken oder auch einfach nur zum Verweilen einladen. Wer die Spuren der Kohleindustrie von nahem besichtigen möchte, ist in Blaenavon gut aufgehoben. Die einstige Boomtown der industriellen Revolution ist heute Unesco-Weltkulturerbe. Hier kann man sich von einem Guide 90 Meter unter der Erde durch die einstige Mine, den ‘Big Pit’, führen lassen. Auf der Rückfahrt präsentiert sich dann die Landschaft wieder so, wie man sie sich vorgestellt hat – Ortschaften, deren Namen geschrieben werden, als wäre eine Katze einmal quer über die Tastatur spaziert, wechseln sich ab mit saftigen Matten, auf denen Schafe weiden. Zwei bis vier Schafe pro Einwohner soll es in der Heimat von Dylan Thomas, Richard Llewellyn, Tom Jones und Ryan Giggs geben, je nachdem, wen man fragt». ■

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Walter Ehrismann

Geb. 1943 in Chur/CH, Ausbildung zum Lehrer, Studium an der Zürcher Fachhochschule für Gestaltung, 1966 Unfall im südfranzösischen Meer, seither im Rollstuhl, zahlreiche malerische, bildhauerische und literarische Publikationen, lebt und arbeitet als Bildender Künstler und Schriftsteller in Urdorf/CH

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Vergessene Bücher (2): «Die Offizierin» von Nadeschda Durowa

Posted in Essays & Aufsätze, Literatur, Marianne Figl, Nadeschda Durowa, Vergessene Bücher by Walter Eigenmann on 21. Juli 2011

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Aller «naturhaften» Determinierung entzogen

Marianne Figl

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In Österreich diskutiert man zur Zeit die Abschaffung der Wehrpflicht. Meine beiden Söhne haben ihre Pflicht im Zivildienst abgeleistet und damals noch viel Spott über sich ergehen lassen müssen – also: Was fasziniert mich an Nadeschda Durowa, dieser Frau, die vor ca. 200 Jahren ihr bequemes bürgerliches Leben gegen ein anstrengendes, gefahrvolles und sehr schlecht entlohntes Dasein als Kavallerist(in) eingetauscht hatte, dabei offiziell als Mann auftrat und schließlich für ihre großartigen Leistungen einen der höchsten Orden vom Zar erhielt? Was ist es, das diese Abenteurerin so anmutig erscheinen lässt, dass sie in ihrer Heimat fast wie eine Heilige verehrt wird? Wer war überhaupt die Autorin von «Die Offizierin» – einer Autobiographie, von der heute kaum jemand mehr redet?

2012 jährt sich die Schlacht bei Borodino zum zweihundertsten Mal; Russland zwang damals Napoleon endgültig zum Rückzug. Die Durowa hat sich auch in dieser Schlacht Lorbeeren geholt – die Autorin von «Die Offizierin» also eine blutrünstige Schlächterin, ein Mannweib, verbittert und gedankenleer? Nein, eben nicht, eben ganz anders.
Natürlich, sie verlässt nächtens ihren Mann und ihr Kind, reitet fast ohne Gepäck und Geld los in eine ungewisse Zukunft, um sich bei den durchziehenden Soldatenwerbern als Jung-Offizier rekrutieren zu lassen, eben zum Kampf gegen Napoleon. Die Frage also nochmals andersrum: Was trieb diese exzellente Reiterin, die schon früh auf Bäume kletterte, mit Pfeil und Bogen schoß, mit ihrem Vater lange Ritte ins wilde Gelände unternahm, was trieb die blutjunge Frau dazu, ihre weibliche Identität aufzugeben und fortan unter dem Namen Alexander Durow zu leben, nachdem sie ihr gesamte Familie ohne alle Verabschiedung fluchtartig hinter sich gelassen hatte?

«Alle naturhaften Determinierungen» hinter sich gelassen: Nadeshda Durowa

Nadeschda Durowa hatte nie Schulbildung genossen, und doch brachte sie es im Selbststudium so weit, dass sie heimische, französische und polnische Literatur lesen konnte. 1994 brachte Rainer Schwarz beim Kiepenheuer Verlag eine erste deutsche Übersetzung ihrer Autobiographie heraus: «Die Offizierin – Das ungewöhnliche Leben einer Kavalleristin» (zwischenzeitlich auch im Insel-Taschenbuch-Verlag veröffentlicht). Darin ist zu lesen, dass Nadeschda bereits als Vierzehnjährige beschließt, ein Mann zu werden und zu den Soldaten zu gehen. Und wörtlich weiter: «Zwei Gefühle, die einander so widersprechen – die Liebe zu meinem Vater und die Abscheu vor meinem Geschlecht -, erregten meine junge Seele mit gleicher Stärke und mit einer Festigkeit und einer Ausdauer, wie sie einem Mädchen in meinem Alter selten zu eigen sind. Ich begann, einen Plan zu überlegen, um die Sphäre zu verlassen, die dem weiblichen Geschlecht von der Natur und den Sitten bestimmt ist.»

... ist eine Essay-Reihe, in der das Glarean Magazin Werke vorstellt, die vom kultur-medialen Mainstream links liegengelassen oder überhaupt von der «offiziellen» Literatur-Geschichte ignoriert werden, aber nichtsdestoweniger von literarischer Bedeutung sind über alle modische Aktualität hinaus. Die Autoren der Reihe pflegen einen betont subjektiven Zugang zu ihrem jeweiligen Gegenstand und wollen weniger belehren als vielmehr erinnern und interessieren.

Nadeschda Durowa nahm sich also die Freiheit, über ihr Leben selbst zu entscheiden, sie machte sich unabhängig – und zahlte für diese Freiheit den Preis der Einsamkeit, der Abgeschiedenheit zwischen den Schlachten und Einsätzen, die sie lesend und ihre Erinnerungen aufzeichnend verbrachte.
Zehn Jahre im Militärdienst, teilweise auch im Winter, bei Regen und Wind, oft auf offenem Felde, jedenfalls immer in ungeheizten Unterkünften nächtigend, doch nie wirklich krank werdend, obwohl ihre Ernährung kümmerlich war… Den ganzen Tag – oft auch mondhelle Nächte nutzend – jagte sie zuletzt als Ordonanz des Feldherrn Kutusow auf ihrem Pferd von Stellung zu Stellung, berühmt für ihren Mut, berüchtigt für ihre kühl distanzierte Haltung gegenüber ihren männlichen Kollegen…

Als ich von ihrer Lebensgeschichte hörte und las, hat Nadeshda mein Herz berührt – genau an der Stelle, wo der Kant`sche «Herzenskündiger» sitzt: Die Durowa hat gehandelt, und gehandelt nach ihrem eigenen Gewissen, um in der Freiheit sich nicht instrumentalisieren zu lassen, auch nicht durch Ehe und Mutterschaft, dieser «naturhaften Determinierung» hat sie sich entzogen, riskierend nicht verstanden zu werden, einsam zu bleiben – aber frei. ▀

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marianne-figl.jpgMarianne Figl

Geb. 1946 in Wien, Studium Malerei&Graphik an der Hochschule für Angew. Kunst/Wien; Atelier in Salzburg & Online-Galerie, Literarische Texte in Anthologien, lebt in Salzburg/A

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Vergessene Bücher (1): «Liebe Mutter…» von Margaret Millar

Posted in Bernd Giehl, Essays & Aufsätze, Literatur, Margaret Millar, Vergessene Bücher by Walter Eigenmann on 12. Juni 2011

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Der kalte Blick auf die Welt

Bernd Giehl

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«Sieh mal, Edith, unser Kopf ist doch wie ein Dschungel, ein dunkler, dichter Dschungel mit Millionen kleinen Pfaden, zu denen das Licht nie dringt. Man ahnt nichts von diesen Pfaden, bis auf einem von ihnen plötzlich etwas auftaucht. Und dann, Edith, versucht man, dieses Etwas zurückzuverfolgen, man verfolgt die Spuren und Fährten, man geht weit, sehr weit, und stellt am Ende doch wieder fest, daß der Pfad zu verschlungen ist, zu lichtlos, lautlos, zeitlos…» (Margaret Millar in «Das eiserne Tor», 1983, S. 67f.)

Originalausgabe erschienen 1955 unter dem Titel «Beast in View», deutsche Ausgabe erstmals 1967 bei Diogenes

Stellen Sie sich den Autor dieses Beitrags ruhig als alten Mann vor. Mit Baskenmütze auf dem Kopf und in abgewetzter Cordhose, die schon vor zehn Jahren unmodern war. Dazu vielleicht ein Jackett in Hahnentrittmuster. Und einer Krawatte natürlich, Krawatte muss sein. Und jetzt stellen Sie sich diesen Autor vor, wie er durch eines dieser modernen Buchkaufhäuser geht und an dem Tisch stehenbleibt, auf dem die Ratgeberliteratur inklusive der Kochbücher liegen und sich vorstellt, worüber er sein nächstes Buch schreiben wird («Durch indisches Kochen zum besseren Selbst»), wie er dann am Tisch mit den Bestsellerautoren vorbeigeht, schließlich am Belletristik-Regal stehenbleibt und nach dem einen oder anderen Buch Ausschau hält, das leider noch nicht in seinem Bücherregal steht. Nach den Werken von Margaret Millar zum Beispiel. Kein Buch von ihr zu finden. Er tritt an die «Information» und fragt nach ihr. Die Buchhändlerin sieht im Netz nach und bedauert: kein Buch dieser Autorin lieferbar. «Vielleicht versuchen Sie es mal im Modernen Antiquariat», sagt sie zum Abschied. Dort kauft er dann ein Diogenes Bändchen dieser Autorin für 2 Euro. Ziemlich vergilbt, etwas zerfleddert, aber es erfüllt seinen Zweck.

Ob sich in 20 Jahren wohl noch irgend jemand an Margaret Millar erinnern kann? Das war doch… Ja, ganz richtig. 14 Romane und zwei Bände mit Erzählungen dieser Autorin stehen auf einer Liste im Anhang des Bandes «Ein Fremder liegt in meinem Grab» (Diogenes Verlag 1997). Selbst bei «Amazon» sind derzeit nur noch zwei Exemplare dieses Buches gebraucht zu bekommen.
Nun ist Margaret Millar beileibe nicht die Einzige, der dieses Schicksal widerfährt. Weil die Buchproduktion heute so rasend schnell ist, und weil jedes Jahr Hunderttausende neuer Bücher herauskommen (genaue Zahlen siehe beim Börsenverein des deutschen Buchhandels), werden die Bücher älterer Autoren auch schnell zu Altpapier verwandelt. Wer es nicht bis in den Olymp der Klassiker geschafft hat (und wer schafft das schon?), der ist bald nicht mehr dabei. Der wird aussortiert, gestrichen, verramscht. Selbst Autoren, die einmal sehr bekannt waren, trifft dieses Schicksal. Oder kennt jemand noch Hanns Henny Jahnns Riesenroman «Fluss ohne Ufer»? Oder gar seinen «Perrudja»?

Margaret Millar (1915-1994)

Nun ist es sicher sehr viel schwieriger zu erklären, warum Hanns Henny Jahnn es nicht bis auf den Olymp geschafft hat. Für Margaret Millar ist die Erklärung einfacher. Millars Romane erzählen von einer tief verstörenden Welt, aber das hat sich nicht bis in die Form ihrer Bücher durchgefressen. Und genau das werden die Snobs des deutschen Literaturbetriebs ihr vorwerfen. Falls sie sich überhaupt so viel Mühe machen und nicht vielmehr sich mit der Erklärung begnügen, Krimiautoren schrieben nun einmal Bücher, die man nicht ernst nehmen müsse. Thomas Pynchon springt in «Gegen den Tag» von einer Geschichte zur nächsten, und wer nicht ein außergewöhnlich gutes Gedächtnis hat, der wird sich irgendwann verzweifelt fragen, wer Merle Rideout oder Lew Basnight doch noch war, oder wie all diese Geschichten eigentlich zusammengehören. Roberto Bolanos Roman «2666» erzählt ebenfalls Geschichten, von denen man sich irgendwann verzweifelt fragt, was sie eigentlich zusammenhält. Im Mittelpunkt steht eine Mordserie an Hunderten von Prostituierten (und der Autor schildert sie Fall für Fall ab, als wäre er Mitglied der Sonderkommission zur Aufklärung dieser Morde). Stumpf, den Leser ermüdend und ohne jede innere Beteiligung. Mit den fast immer gleichen Worten. Vermutlich wollte er mit «2666» beweisen, dass die Welt sinnlos ist. Diese Sinnlosigkeit ist bis in die Form hinein zu spüren.
Das ist bei Millar deutlich anders. Nicht etwa, dass ihre Kriminalromane nicht auch so etwas wie einen experimentellen Charakter hätten, aber der steht nicht so im Vordergrund wie bei den genannten Autoren der Postmoderne. Man muss ihre Romane nicht einmal selbst zusammenbauen wie bei Italo Calvinos «Wenn ein Reisender in einer Winternacht…»
Erstaunlicherweise haben die hochexperimentellen Romane von Pynchon oder Bolano gerade Konjunktur. Womöglich möchte sich der intellektuelle Bohemien von den genannten Autoren ja bestätigen lassen, dass die Welt, so wie wir sie gerade erleben, sinnlos ist. Und wer nach dem Lesen von Bolanos «2666» immer noch nicht genug hat, wer also immer noch einen Funken Hoffnung oder gar Lebensfreude in sich spürt, der kann ja noch David Foster Wallace «Infinite Jest» lesen, zu Juli Zehs «Spieltrieb» greifen oder zu Helene Hegemann, diesem altklugen Kind, das mit 16 glaubt, schon mehr erlebt zu haben als andere mit 50 Jahren.

Originaltitel von Millars «Beast in View» in der TV-Serie «The Alfred Hitchcock Hour»

Die Romane von Margaret Millar funktionieren anders. Sie sind zwar tief verstörend, aber am Ende kann sich zumindest ein Gefühl von «Sinn» einstellen. So paranoid das eine oder andere ihrer Bücher auch sein mag, so gibt die Autorin doch zumindest eine Erklärung für das, was geschehen ist. Sie verweigert sich nicht wie Pynchon und sie lässt den Leser auch nicht mit seinen Fragen allein wie Bolano. Wer mag, kann das altmodisch finden und meinen, es passe nicht mehr in die Zeit. Dennoch ziehe ich persönlich ihre Romane der obengenannten Literatur vor. Vielleicht hat das ja auch damit zu tun, dass ich mir nicht die allerletzte Hoffnung rauben lassen möchte.
Parallelen? Ich denke, einige Romane von Patricia Highsmith oder Paul Auster haben eine ähnliche Thematik und arbeiten mit ähnlichen Mitteln. Alle drei experimentieren mit dem Unbewussten, dem Zufall und dem Schrecken, der aus all dem entstehen kann. Nur dass Margaret Millar (1915-1994) lange nicht so bekannt ist wie Patricia Highsmith, die im gleichen Zeitraum lebte (1921-1995), und obwohl beide doch ganz ähnliche Themen behandeln, auch ihr Stil Ähnlichkeiten aufweist. Ganz zu schweigen von Alfred Hitchcock, der zwar keine Bücher schrieb, dafür aber Filme drehte, die mit filmischen Mitteln eine ganz ähnliche Welt zeigen. Übrigens hat Hitchcock auch Romane der Highsmith verfilmt (z.B. «Zwei Fremde im Zug»), Margaret Millar dagegen ist dieses Glück nur ausnahmsweise zuteil geworden. Wer weiß, ob sie andernfalls nicht viel präsenter im kulturellen Gedächtnis wäre.

Margaret Millar war verheiratet mit Kenneth Millar, besser bekannt unter dem Pseudonym Ross Macdonald, dem Verfasser einiger «hartgesottener Kriminalromane» mit dem Privatdetektiv Lew Archer. Übrigens legte sich ihr Ehemann seinerzeit den Künstlernamen zu, weil seine Frau damals sehr viel erfolgreicher war als er selbst. Nicht immer wollen Männer im Schatten ihrer Frau stehen. Heute dagegen steht Margaret Millar in seinem Schatten.  Manchmal ist das Leben ungerecht.
Aber natürlich hat unsere Autorin das gewusst. Womöglich hätte sie sich sogar darüber amüsiert. Sie kannte die Menschen. Wahrscheinlich besser, als die meisten sich selbst kennen. Margaret Millar hatte den kalten Blick auf die Welt, den nicht gar so viele Autoren besitzen. Ich glaube nicht, dass sie die Menschen liebte. Dafür sind ihre Romane zu boshaft geschrieben. Es wäre reizvoll, eine Biographie über sie zu lesen, aber wenn es eine gibt, dann kenne ich sie nicht.

Prominente Konkurrentin und Millar-Zeitgenossin: Die 21-jährige Patricia Highsmith

Auf jeden Fall wäre es reizvoll zu wissen, welchen Unterschied es gibt zwischen ihrem Leben und ihren literarischen Ideen.
Denn die haben es in sich. Gleich mit den ersten Sätzen erzeugt sie eine Spannung, die bis zur letzten Seite anhält. «Die Stimme war sanft, beinahe lächelnd: ‚Ist dort Miss Clarvoe?‘
‚Ja.‘
‚Wissen Sie, wer da spricht?‘
‚Nein.‘
‚Eine Freundin.‘
‚Ich habe unzählige Freundinnen‘, log Miss Clarvoe…
‚Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen‘, sagte die Stimme. ‚Trotzdem habe ich Sie immer irgendwie im Auge behalten. Ich habe nämlich eine Kristallkugel.‘»
Mit diesen Worten beginnt der Roman «Liebe Mutter, es geht mir gut…»
Helen Clarvoe kennt die Anruferin nicht, und gerade das beunruhigt sie. Allerdings kann man bei ihrer Aussage, sie kenne Evelyn Merrick nicht, zweifeln, denn gleich auf der ersten Seite charakterisiert die (allwissende) Erzählerin Miss Clarvoe als professionelle Lügnerin.
Eine alte Jungfer von 30 Jahren als Heldin eines Romans, noch dazu eine, die schon ganz am Anfang als kalt, verschlossen und vom Leben enttäuscht geschildert wird; wem könnte das sonst noch einfallen? Unsympathischer als Helen Clarvoe kann man eigentlich nicht mehr sein. Mit wenigen Sätzen kann Millar ihre «Heldin» charakterisieren. Nicht einmal Patricia Highsmith hat so eine Person in den Mittelpunkt ihrer Romane gestellt. (Aber die hatte natürlich auch ihre Gründe.) Nachdem sie sich bei der Telefonistin, die die Anrufe im Apartmenthaus, in dem sie wohnt, nach der Anruferin erkundigt hat, wird Miss C. mit folgenden Worten beschrieben: «Miss Clarvoe hängte ab. Sie wußte, wie man mit June und ihresgleichen umzugehen hatte. Man hängte ab. Man unterbrach die Verbindung. Was Miss Clarvoe sich nicht klarmachte, war, daß sie in ihrem Leben bereits zu viele Verbindungen unterbrochen hatte. Sie hatte zu oft, zu schnell und schon bei zu vielen Menschen abgehängt. Jetzt, mit Dreißig, war sie allein.» (S. 10) Nicht nur Evelyn Merrick besitzt eine Kristallkugel, in der sie die Clarvoe beobachtet.
Wer aber nun glaubt, dass Helen Clarvoe die einzige ist, die von ihrer Schöpferin mit jenem eiskaltem Blick beobachtet wird, der täuscht sich. June, die Telefonistin, ist beschwipst, als sie zu Miss Clarvoe geht, weil die sie darum gebeten hat. Und den Sherry, den ihre Gastgeberin ihr anbietet, schlägt sie natürlich auch nicht aus. Womöglich ist das Leben nur noch betrunken zu ertragen, selbst wenn man keine Drohanrufe von einer angeblichen Freundin erhält. Mr. Blackshear, ihr Vermögensverwalter, den die Clarvoe um Hilfe angeht, ist 50 Jahre alt, und für ihn hat «der Winter der Leere eingesetzt, und dort, wo einmal etwas in seinem Inneren zerbrochen war, hatte sich Frost gebildet.» (S. 20) Eigentlich, so denkt man, kann nichts mehr passieren, was diese Herrschaften aus ihrer Erstarrung herausholen könnte.  Dass es aber dennoch passiert ist, nicht die geringste aller Künste, die Margaret Millar beherrscht.

Im Gegensatz zur Ehefrau weltberühmt geworden: Krimi-Autor Kenneth Millar alias Ross MacDonald

Doch dazu bedarf es nun eines Raums, den die Autorin schafft. Und dieser Raum, man kann es nicht anders sagen, ist klaustrophobisch. Man bekommt Luftnot, wenn man sich zu lang in ihm aufhält. Vermutlich kann man diesen Raum nicht unbedingt «realistisch» nennen, aber Autoren – Autorinnen sind selbstverständlich immer mit gemeint – schaffen nun einmal ihr eigenes Universum. Selbst wenn man sich verbarrikadiert, wie Helen Clarvoe es spätestens nach dem Anruf von Evelyn Merrick tut, gibt es immer noch das Telefon, das einen mit der Außenwelt verbindet. Oder die inneren Stimmen, die einen nicht in Ruhe lassen.
Aber selbst wenn auch die schweigen, gibt es da ja noch Evelyn Merrick, die mit ihren Anrufen und Andeutungen, die leider oft genug auf Wahrheit beruhen, einen Menschen jagen und schließlich sogar in den Tod treiben kann. Es ist nicht nur Helen Clarvoe, auf die sie es abgesehen hat. Ihr Hass reicht tiefer. Sie macht ein paar gehässige Bemerkungen über Douglas, Helens jüngeren Bruder, gegenüber Mrs. Clarvoe; enthüllt dabei der Mutter Douglas‘ Homosexualität, die er bis dahin erfolgreich verbergen konnte, und treibt den jungen Mann damit in den Tod. Was im Jahr 2011, wo zumindest in Deutschland viele sich offen zu ihrer Homosexualität bekennen, ziemlich unwahrscheinlich klingt, ist im prüden Amerika der fünfziger oder sechziger Jahre durchaus vorstellbar. Nur ein einziges Mal greift Miss Merrick selbst zur Waffe; in den anderen Fällen treibt sie ihre Opfer allein durch ihre Worte in den Tod. Und am Ende passiert das, was passieren muss: Evelyn Merrick und Helen Clarvoe verschmelzen zu einer einzigen Person, und das ist dann auch das Ende.

Es ist eine abgeschlossene Welt, in der alles seinen gnadenlosen Gang geht. Und die Hauptfiguren sind entweder hysterisch wie Helen Clarvoe oder paranoid. Das ist übrigens auch ein Kennzeichen der anderen Romane von Margaret Millar, jedenfalls, soweit ich sie kenne. Es sind nicht die normalen Menschen, an denen die Millar interessiert war. Eher schon die, die aus der Norm herausfallen. Menschen, die sich verfolgt fühlen oder die die Realität verdrängen und sich in eine Scheinwelt flüchten. Menschen also, die eher schwach sind.
Interessant ist schließlich auch, dass ihre Hauptfiguren alle weiblich sind. Jedenfalls trifft das für die Romane zu, die ich gelesen habe, also «Liebe Mutter, es geht mir gut», «Ein Fremder liegt in meinem Grab», «Von hier an wird’s gefährlich», «Die Feindin» und «Das eiserne Tor». Die Männer, denen man in ihren Romanen begegnet, sind dagegen eher sympathisch gezeichnet. Sie sind hilfsbereit wie Mr. Blackshear, der Freund von Miss Clarvoe oder wie Ralph MacPherson, der Anwalt, der Mrs. Oakley, eine der Hauptfiguren aus «Die Feindin» immer wieder in die Realität zurückholt. Sie mögen schwach sein, wie Charlie Gowen, (ebenfalls eine wichtige Figur in der «Feindin»), aber selbst ihre Weltfremdheit hat etwas seltsam Sympathisches.  Ob Margaret Millar eine Weiberhasserin war? Aus ihren Romanen könnte man es zumindest herauslesen.

Original-Cover der amerikanischen Bantam-Ausgabe von Millars «Beast in View» (1955/56)

Dennoch ist der Kosmos, den sie mit ihren Worten erschafft, anders als jene von beispielsweise Kafka, immer noch die Welt, die wir kennen. Er ist angesiedelt in der amerikanischen Mittelschicht der fünfziger und sechziger Jahre, und die Details sind liebevoll beschrieben und damit wiedererkennbar. Hin und wieder entsteht gerade aus der Schwäche der Hauptfiguren die Bedrohung. Es sind nicht die Starken, die die Welt bedrohlich machen, sondern die Schwachen. Das gilt vielleicht weniger für Helen Clarvoe, die nur noch flieht, wohl aber für Mrs. Oakley, die Hysterikerin aus «Die Feindin», und ebenso auch für Charlie Gower, der ebenfalls eine wichtige Rolle in der «Feindin» spielt.
Wer sehen möchte, mit welch unterschiedlichen Mitteln Margaret Millar eine Welt der Angst aufbauen kann, der lese nacheinander «Liebe Mutter, mir geht es gut» und «Die Feindin». In «Liebe Mutter» gibt es nur Helen Clarvoe als Fokus, und der Aufbau der Bedrohung passiert schnell. In der «Feindin» wechselt der Fokus immer wieder von Kate Oakley, die sich vor ihrem (getrennt von ihr lebenden) Mann fürchtet und deren Angst geradezu hysterisch ist, zu Jessie Brant und Mary Martha Oakley, zwei neunjährigen Kindern, die befreundet sind, zu Charlie Gower, der eine Schwäche für Kinder hat, dann zu Virginia und Howard Arlington, einem Ehepaar im beginnenden Kriegszustand, der wiederum durch Virginias Liebe zu Jessie ausgelöst wird. Die Spannung ist subtiler, und lange fragt der Leser sich, welche der Personen denn nun die Katastrophe auslösen wird, die bei Margaret Millar unweigerlich am Ende stehen wird. Und natürlich ist es wieder anders, als man es sich gedacht hat. Aber das kennt man ja aus fast jedem Krimi.
Eine solche Welt, bedrohlich, tückisch und doch zumindest halbwegs realistisch, kenne ich eigentlich nur noch aus einigen Romanen der Highsmith, aus den Krimis von Barbara Vine oder aus Paul Austers «Leviathan».

... ist eine Essay-Reihe, in der das Glarean Magazin wöchentlich Werke vorstellt, die vom kultur-medialen Mainstream links liegengelassen oder überhaupt von der «offiziellen» Literaturgeschichte ignoriert werden, aber nichtsdestoweniger von literarischer Bedeutung sind über alle modische Aktualität hinaus. Die Autoren der Reihe pflegen einen betont subjektiven Zugang zu ihrem jeweiligen Gegenstand und wollen weniger belehren als vielmehr erinnern und interessieren.

Kürzlich las ich in der «Zeit» eine Reportage über eine Reise zu den Foltergefängnissen der Roten Khmer, die von 1975-1979 Kambodscha regierten und zugrunde richteten. Der Artikel ist aus Anlass des ersten Prozesses eines internationalen Gerichtshofs über ein Mitglied der Roten Khmer geschrieben. Auch wer sich nicht mehr an diese Zeit erinnert, vielleicht weil er zu jung ist, wird aus dem Artikel von Susanne Mayer «Spuren des Schmerzes» («Die Zeit», Nr. 29 vom 15. Juli 2010, S. 46/47) das Grauen lernen können. Auf einer Tafel in einem Foltergefängnis, das Susanne Mayer besucht hat, steht der Satz: «Während der Elektroschocks ist es verboten zu schreien.»
Mag sein, dass es irgendwann einen Roman über die Herrschaft der Khmer Rouge in Kambodscha geben wird. Womöglich wird er ja ins Deutsche übersetzt. Zwar hat Adorno seinerzeit behauptet, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben sei unmöglich, aber es gab nicht nur Gedichte nach Auschwitz; es gab sogar welche über das Unsagbare. Paul Celan hat sie geschrieben. Und Primo Levi hat einen Roman über die Vernichtungslager geschrieben; Elie Wiesel oder Wieslaw Kielar haben aus ihrer eigenen Erfahrung über die Vernichtungslager geschrieben. Womöglich gibt es kein Grauen, das nicht irgendwann einmal literarisch verarbeitet wird. Einzig die Zeit, die vergehen muss, bis ein solches Geschehen seinen Weg in die Welt des Romans findet, spielt eine gewisse Rolle. Es dauert eben, bis man die nötige Distanz hat, das Entsetzen in Worte zu fassen. Aber falls je ein Roman über die Herrschaft der Khmer Rouge erscheinen wird, glaube ich nicht, dass ich ihn lesen werde. Es gibt ein Leid, das ich mir gern ersparen möchte. Obwohl ich andererseits auch verstehe, wenn ein Betroffener dieses Leid durch das Schreiben eines Romans «verarbeiten» will.

Dennoch sind mir offensichtlich fiktive Werke wie die Romane von Margaret Millar lieber. Sie spielen mit meinen Ängsten, aber sie überschreiten die Grenze nicht. Sie respektieren den Schutzraum, den das Individuum braucht, um zu überleben.
Näher möchte ich eigentlich nicht mehr heran. Das ist der Unterschied zwischen Margaret Millar und – pars pro toto – Roberto Bolano. Womöglich kann man mit ebensolchem Recht sagen: Die Welt ist nun einmal grausam, und wir sind so abgestumpft, dass nur noch neue Formen uns aus unserer Lethargie reißen können. Außerdem entspricht das Abbild, das Bolano, Pynchon und tutti quanti von der Welt liefern, viel eher der modernen Erfahrung des Ausgeliefert-Seins an anonyme Mächte, die wir kaum noch erkennen, geschweige denn beschreiben können, als die Romane von Margaret Millar, wo die Bedrohung von einem Individuum ausgeht, dessen Namen man kennt, und dessen Motive nach und nach sichtbar werden. Und selbst wenn es die Bewohner der Kleinstadt sind, die einen wie Charlie Gowen aus der «Feindin» immer mehr einkreisen, so «kennt» man doch als Leser die Namen und Gesichter.
Man kann also sagen: die Romane von Bolano, Pynchon, Zeh oder der anderen Shooting Stars der Postmoderne entsprechen viel eher der heutigen Lebenserfahrung. Sie bilden die Wirklichkeit von heute viel besser ab als eine Margaret Millar. Ich würde dieser These nicht einmal widersprechen wollen. Dennoch ziehe ich Margaret Millar vor und verweise auf den Anfang dieses Essays:. Ein bisschen Distanz halte ich für angebracht. Selbst wenn das altmodisch klingen sollte.

Noch ein Wort zur Übersetzung: «Liebe Mutter, es geht mir gut» ist 1955 in New York auf Englisch erschienen und 1967 von Elizabeth Gilbert übersetzt worden. Die Sprache erscheint oft gestelzt. «Miss Hudsons Büro war kunstvoll der Werbung neuer Schülerinnen angepaßt.» (S. 47) Eine Telefonistin gibt keinen Anruf durch; sie stellt ihn durch. Ich wüsste auch niemanden, der «abhängt», wenn er ein Telefonat beendet; die meisten legen auf. Letzteres liefert einen Hinweis auf die Muttersprache der Übersetzerin, falls das der Vorname nicht schon getan hat. »She hung up» heißt es im Englischen, wenn eine Frau das Telefon auflegt. Elizabeth Gilberts Muttersprache ist vermutlich Englisch, aber zumindest hätte ein Lektor oder eine Lektorin noch einmal über den Text schauen können. Auch in anderen Romanen von Margaret Millar, die sie übersetzt hat, habe ich ungewöhnliche Redewendungen und Stilblüten gefunden. Falls also Margaret Millars Romane noch einmal aufgelegt werden, was ich sehr hoffe, dann sollten sie möglichst auch gleich neu übersetzt werden. ●

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Bernd Giehl

Geb. 1953 in Marienberg/D, Studium der Theologie in Marburg, zahlreiche schriftstellerische und theologische Publikationen, lebt als evang. Pfarrer in Nauheim

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