Glarean Magazin

Literatur-Projekt «Edition Balkan» gestartet

Posted in Buch-Rezension, Günter Nawe, Literatur, Maria Stankowa, Rezensionen, Viktor Paskow by Walter Eigenmann on 15. November 2010

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Anspruchsvolle und unterhaltsame Texte aus Bulgarien

Günter Nawe

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«Fulminanter Künstler- und Liebesroman»: «Autopsie» von Viktor Paskow (Bulgarien)

Alle reden von Integration, vom Austausch der Kulturen und von EU-Erweiterung. Doch was wissen wir voneinander? Es gibt auf der literarischen Landkarte Europas – und nicht nur hier – eine Menge weißer Flecken und terrae incognitae. Dem will der Berliner Dittrich Verlag Abhilfe schaffen – mit seinem ehrgeizigen Projekt einer «editionBalkan»: Zeitgenössische Autoren aus Ländern wie Bulgarien, Rumänien, Serbien und Griechenland sollen über die Grenzen des Balkans hinaus Aufmerksamkeit finden. Unkenntnisse sollen abgebaut, Verständnis für diese Literaturen soll geweckt werden.
Denn sie hat es verdient. Haben wir es doch in den Balkanländern mit Autoren zu tun, die anspruchsvolle und unterhaltsame Texte geschrieben haben; Texte, die das gegenseitige Kennenlernen ermöglichen, das Miteinander von Kulturen fördern und das oft verzerrte Bild, das eine Gesellschaft sich von der anderen macht, der Wirklichkeit anpassen. So das Credo der Herausgeber dieser «editionBalkan» Nedielka und Roumen M. Evert (selbst ein renommierter Autor), Bernd Oeljeschläger, Volker Dittrich und Gerritt Schooff.
Es herrscht allgemein Optimismus hinsichtlich des Gelingens – und dies nicht ohne Grund. Nicht erst durch die rumänische Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller ist die rumänische Literatur ins Blickfeld von Medien und Leserschaft geraten. Und so wird Rumänien auch einer der Länderschwerpunkte sein, der die editionBalkan auszeichnen wird.

Bulgarien macht den Anfang. Hervorragende Autoren, die zur Elite der zeitgenössischen Literatur Bulgariens gehören, werden ihre Werke vorstellen; Autoren, die in ihrem Land längst Anerkennung gefunden und nationale und internationale Preise bekommen haben. Sie werden uns eine Kultur und Gesellschaft schildern, die bei uns weitestgehend unbekannt ist, werden auf literarisch anspruchsvolle Weise über die menschlichen Beziehungen, über die ökonomischen und sozialen Gegebenheiten und Konflikte berichten, die gerade die letzten zwei Jahrzehnte geprägt haben. Und sie werden von Menschen und ihren Schicksalen erzählen, die in Bulgarien oder außerhalb der Grenzen ihres Landes das Miteinander unter den jeweiligen Bedingungen leben müssen.

Grenzüberschreitend im wahrsten Sinne ist der erste jetzt erschienene Roman des bulgarischen Autors Viktor Paskow (geboren 1949 in Sofia, gestorben 2009 in Bern). Er galt als das kosmopolitische Enfant terrible der bulgarischen Literatur. Der studierte Musiker lebte in der DDR, in Westberlin und zuletzt als Kulturattaché Bulgariens in Bern. Mit «Autopsie» (im Original: «Autopsie einer Liebe») hat er, nach mehreren anderen Büchern,  einen fulminanten Künstler- und Liebesroman geschrieben. Der Leser kann Paskows Protagonisten durch die Bohème Berlins und die Kultur Sofias begleiten. Im Wechselspiel von musikalischer Kreativität und erotischer Obsession und einer Liebe «aus tiefem Schmerz und Demut» erleidet der Jazzsaxophonist und Klarinettenvirtuose Charlie eine fatala Blockade. Er begibt sich auf die Suche nach dem «absoluten Ton», der ihm allerdings nur mit dem richtigen «Instrument» gelingen kann. Dieses «Instrument» ist die schöne Bulgarin Ina, bei der er die Liebe und die sexuelle Erfüllung findet – aber zu welchem Preis?

Besonders beeindruckend ist nicht nur der Plot, sondern die Sprache Viktor Paskows. Sie ist hochmusikalisch, sein Leitmotiv spielt der Autor immer wieder mit herrlichen Variationen und erstaunlichen Improvisationen durch. Das ganze Buch ist wie eine brillante Jam-Session, wie ein wunderbares Klarinettenkonzert voller Überraschungen. Und wie Musik und Sprache sich in diesem Buch auf erstaunliche Weise literarisch ergänzen, so spürt der Leser auch in sehr subtilen Passagen die Gemeinsamkeiten der Kulturen, die sich im Leben und in der Kunst darstellen.

«Sprachlich präziser Blick auf die Psyche»: «Langeweile» von Maria Stankowa (Bulgarien)

Von ähnlicher Sensibilität, vor allem aber literarischer Qualität sind die drei kleinen Romane der Maria Stankowa, die unter dem Titel «Langeweile» erschienen sind. Auch die Stankowa, geboren 1956, ist – wie ihr Kollege Paskow – studierte Musikerin, hat als Regieassistentin und Redakteurin gearbeitet, Drehbücher und Theaterstücke geschrieben und 1998 ihr erstes Prosawerk veröffentlicht.
In den drei kleinen Romanen «Die schwarze Frau und der Schütze», «Langeweile» und «Das Netz» geht es trotz unterschiedlicher Ansätze weitestgehend um Frauen in Lebenskrisen, um Frauen, die sich der Zweck- und Sinnlosigkeit des Lebens gegenüber sehen.
«Die Frau und der schwarze Schütze» ist eine Liebesgeschichte. Der Ausbruch aus der Hölle einer lieblosen Ehe, der Versuch, eine alte Liebe wieder aufleben zu lassen. Er ist zum Scheitern verurteilt, weil die Frau die Fähigkeit zu lieben verloren hat.
Verloren hat dagegen in der Titelgeschichte «Langeweile» eine Frau ihr Leben. Mord – das zumindest ist der Ermittlungsansatz der Kriminalkommissarin. Doch die Sache ist komplexer. Mit viel Reflexionsfähigkeit und großer psychologischer Sensibilität hat Maria Stankowa ihre Protagonistin ausgestattet. Und am Ende steht die Einsicht, dass nicht nur Mörder grausam sind. Und nicht nur sie haben ein gebrochenes Verhältnis zum Leben, stehen ihm mit Gleichgültigkeit und Kälte gegenüber. Erkenntnisse, die für alle gelten.
Überzeugend ist auch die Geschichte «Das Netz». In ihr erzählt Maria Stankowa von Frauen und Männern, die ihre Einsamkeit und ihre hoffnungslose Sehnsucht nach Liebe und Zuneigung der virtuellen Welt des Internet, den ChatRooms anvertrauen. Hier können sie geschützt ihre Alltagssorgen loswerden, sich anderen Menschen anvertrauen, Gefühle formulieren und Sehnsüchte thematisieren. So weit, so gut. In dem Augenblick aber, wo die virtuellen Erfahrungen auf die reale Welt stoßen, wo sich die Partner in der Wirklichkeit treffen, stellt sich heraus, dass die so geschlossenen Freundschaften und Beziehungen dieser Wirklichkeit nicht standhalten. Das Scheitern ist programmiert – und die Rückkehr in die virtuelle Welt der letzte Ausweg.
Es ist vor allem die sprachliche Präzision, die einen tiefen Blick auf den Menschen und in seine Psyche erlaubt. Maria Stankowa spielt virtuos auf der Klaviatur der literarischen Möglichkeiten. Ihr Stil ist überraschend vielfältig und doch unverwechselbar. Maria Stankowa ist – wenn man will – eine große Entdeckung, eine brillante bulgarische Autorin von internationaler Bedeutung.

Seine neue «editionBalkan» startet der Berliner Dittrich Verlag mit bedeutenden AutorInnen aus Bulgarien: Die Romane von Viktor Paskow und Maria Stankowa überzeugen sowohl inhaltlich als auch stilistisch und zeigen bereits exemplarisch auf, wie großartig der Literatur-Raum des Balkan besiedelt ist.

Zu erwähnen sind in allen Fällen die Übersetzer aus dem Bulgarischen: Alexander Sitzmann, der «Autopsie» ins Deutsche übertragen hat, und Barbara Beyer, die «Langeweile» übersetzt hat. Ihr großer Anteil an der Akzeptanz dieser Bücher im deutschen Sprachraum ist nicht zu übersehen.
Ein sehr gelungener Start der «editionBalkan», der viel verspricht für die weiteren Veröffentlichungen bulgarischer und später auch anderer Literaturen. ■

Viktor Paskow: Autopsie, 404 Seiten, editionBalkan im Dittrich Verlag, ISBN 978-3-937717-49-4; Maria Stankowa: Langeweile, Drei kleine Romane, 320 Seiten, editionBalkan im DittrichVerlag, ISBN 978-3-937717-53-1

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