Glarean Magazin

Walter Ehrismann: Bild-Meditation über «Grande Arlequinade»

Posted in Bild-Meditation, Glarean Magazin, Literatur, Neue Prosa, Walter Ehrismann by Walter Eigenmann on 16. Mai 2012

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Ein Maskenreigen

Betrachtung über das Gemälde «Grande Arlequinade»

Walter Ehrismann

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Vor uns ein wirrer Maskenreigen von Gesichtern – kleine Zirkuskunststücke werden uns dargeboten: Seiltänzer, Gaukler, Trapezkünstler beherrschen die Szene. Herrisch dirigiert ein farbig geschminkter Clown die Gruppe. Akrobaten, der grüngesichtige Zauberer, Feuerschlucker, Scharlatane und Harlekine unter ihrer schwarzen Augenmaske. Ein hoher Federdreispitz bedeckt den Kopf – schwarzblau, grün, rot und gold sind die vorherrschenden Farben, aus tiefstem, schwärzesten Grund ans Licht gebracht. Rhombenartig gewürfelt ihr Fleckenkleid. Sie  unterhalten die staunende Menge. Der Weiße führt sie an. Sein glitzerndes Seidenkostüm mit den zugespitzten Achselpolstern, die samtene Pumphose, der hohe Hut verleihen ihm diabolische Würde. Auf dem Saxophon bläst er schauerliche Töne. Sie wirken wie die Schreie archaischer Klageweiber.
Gemessenen Schritts umrundet er die Menge. Endlich steht er vor mir, beugt sich zu mir herab. Sein aufgerissener Mund und die Ohren sind grellrot geschminkt, das Gesicht ist erstarrt unter seiner bleichen Maske. Aus leeren Augenhöhlen fixiert er mich. Über allem liegt ein Hauch heiterer Schwermut. Alles, was ich in dem Bild erkenne, das sich vor mir ausbreitet, erzählt etwas über mich. Auch wenn ich nichts sehe: Ich bin es. ■

Walter Ehrismann: Grande Arlequinade, Oeltempera und Sand auf Leinwand, Galerie am Platz (Foto: A. Brandt)

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Weitere Bild-Meditationen im Glarean Magazin

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Vergessene Bücher (3): «So grün war mein Tal» von Richard Llewellyn

Posted in Essays & Aufsätze, Literatur, Richard Llewellyn, Vergessene Bücher, Walter Ehrismann by Walter Eigenmann on 6. August 2011

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Existentielle Fragen des Menschseins

Walter Ehrismann

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«So grün war mein Tal», 1939 im englischen Original erschienen, war das Hauptwerk des walisischen Autors Richard Llewellyn (Pseudonym von Richard Dafydd Vivian Llewellyn Lloyd), ein Roman über das Leben in einer Bergbausiedlung im Süden von Wales, 1942 von John Ford mit Maureen O’Hara und Walter Pidgeon verfilmt unter dem Titel «How Green Was My Valley». Der Streifen wurde für zehn Oscars nominiert, mit fünf Oscars prämiert, und gilt als einer der besten Filmwerke aller Zeiten – später, 1975, nochmals verfilmt als sechsteilige Fernsehserie. 1990 wurde der Film von John Ford ins Verzeichnis der National Film Registry aufgenommen, seiner kulturellen, historischen und ästhetischen Bedeutung wegen. Von Richard Llewellyn, 1906 in London geboren, ist dieser Roman das bekannteste seiner Werke. Der Schriftsteller verbrachte jedoch nur einen Teil seines Lebens in Wales. «Wie grün war mein Tal doch und das Tal jener, die nicht mehr sind» – so endet der Roman.

Im Mittelpunkt der beeindruckenden Familiensaga steht die Geschichte der Bergbau-Familie Morgan, die um 1880 ein einfaches, aber zufriedenes Leben führt. Geburt, Kindheit und Jugend, kirchliche Einsegnung, die ersten langen Hosen und der erste Kuss, Schule und Arbeit, Konflikte, Fussballspiel und Chorsingen, Diebstahl und Totschlag, Krankheit und Alter sind eingebettet in das Drama der kommenden Entfremdung. Die vordergründige Idylle findet ein jähes Ende, denn man hat im Tal neue Kohlevorkommen entdeckt, und schon bald entbrennt zwischen der Dorfgemeinschaft und den skrupellosen englischen Grubenbetreibern ein rücksichtsloser Interessenkampf um Gewinn und Arbeiterehre, um Privilegien und althergebrachtes Leben, um Modernisierung und Zerfall der bestehenden Gesellschaftsstrukturen. Es ist die Geschichte eines Tales und eines Städtchens, das vom Bergbau lebt und vom Bergbau zugrunde gerichtet wird, eines Ortes wie viele auf der Welt, die am Ende des vorletzten und zu Beginn des letzten Jahrhunderts durch die maßlose Industrialisierung verändert, ruiniert wurden und mit ihnen die ganze Lebensart. Am Ende wirft der Grosse Krieg (1. WK) seinen drohenden Schatten voraus.

Wenn der Industrie und der Wirtschaft ganze Landstriche geopfert werden: Szene aus dem s/w-Film «How green was my valley» (1941)

Wenn früh am Morgen die Männer aus den Häusern treten und zur Grube gehen, stehen die Frauen unter der Tür und schauen ihnen nach, wie sie die Strassen hinunter marschieren, einander grüssen, das Essenspaket in der einen Hand, die Pfeife in der andern. Links und rechts der Strasse die typischen Reihenhäuser, zweistöckig, weiss getüncht, die schmalen Vorgärten mit dem Sitzplatz und hinter den Häusern der Gemüsegarten, ein Bäumchen, Beerensträucher, ein Kaninchenstall oder ein Gehege für ein paar Hühner. Huw, der Jüngste der Familie Morgan, erzählt von seinen Eltern, die hart am Wandel der Zeit tragen, aber dennoch stets versuchen, die Familie zusammenzuhalten. Die ganze Familie Morgan ist mit darin verwickelt – der Vater Gwilym als Stollenmeister, die fünf älteren Söhne als Hauer oder Maschinisten. Die Brüder, stolze und leidenschaftliche Männer, machen sich für die Rechte der Arbeiter stark und gründen neu eine Gewerkschaft, während Angharad, eine der Schwestern, den Sohn eines Grubenbesitzers heiratet. Eine beginnende, zarte Romanze zwischen ihr und dem viel älteren Prediger hat sich nicht erfüllt. Und die Mutter? Sie verwaltet die Geldbüchse, die jeder am Schluss der Woche mit seinem Lohn füllt. Zu Bronwen, der Braut eines seiner Brüder, schaut Huw in jugendlicher Verehrung auf. Er himmelt sie an, denn sie ist es, die ihn in der langen Zeit seiner Krankheit pflegt und aufmuntert. Später wird sie zu seiner ersten grossen Liebe, und nur das gegenseitige Wissen um die Zugehörigkeit verhindert ein Abgleiten ins Unerlaubte.
In Rückblicken erzählt der Autor mit der Stimme des halb erwachsenen Huw die Geschichte. Er spürt den Ernst des drohenden Streiks, der den Streit entfachen wird zwischen dem Vater mit seinen althergebrachten Ansichten und Huws Brüdern. Huw Morgan, noch zu jung für den Einstieg in die Grube, ruft sich in Erinnerung, wie er als Knabe die dramatischen Ereignisse erlebte, die nicht nur das Leben seiner Eltern und der ganzen Familie, sondern auch sein eigenes und das aller Bewohner des Minenstädtchens radikal veränderte. Danach zieht er für immer weg von Cwn Rhondda, weg aus dem Tal wie alle, die versuchen, einen Platz an der Sonne, das heißt Arbeit und überhaupt eine Zukunft zu haben.

Fragen von existentieller Bedeutung aufgeworden: Richard Llewellyn (1906–1983)

Im Verlaufe der Geschichte wird der Leser, die Leserin mit Fragen konfrontiert, die unser aller Zusammenleben betreffen: Was ist allgemein gültig? Was ist Moral, gibt es Sünde, und wie steht es mit der Strafe, der Rache? Darf der Vater eines geschändeten und ermordeten Mädchens den überführten Täter töten? Llewellyn meint dezidiert «Ja» – und als Leser/Leserin ist man hin- und hergerissen, wenn das eigene moralische Denkgebäude ins Wanken gerät, gerade wenn wir an die heutigen Fälle von Kinderschändung denken und unser Rachegefühl von der Justiz schlecht bedient wird, das Gesetzbuch Lücken aufweist oder die wankelhafte Auslegung durch Richter, Psychiater und zeitbedingte Ansichten uns unsere eigene Verantwortung abnimmt. Die ganze männliche Dorfgemeinschaft in dieser Tragödie eines «zurückgebliebenen» Bergbaugebiets in Wales am Ende des vorletzten Jahrhunderts beteiligt sich an der Suche nach dem Mörder, übergibt, als sie ihn findet, den jämmerlich um sein Leben flehenden Mann an der Stelle, wo das achtjährige Kind getötet wurde, dem Vater und überlässt den wimmernden Täter der Rache des Vaters. Es war ein «Ausländer», ein zugewanderter Engländer, der nicht zur Gemeinschaft der kleinen Stadt gehörte. Die Männer bilden einen Kreis um die beiden und schauen zu, die Frauen und Kinder sind im Dorf geblieben und hören die Schreie. Diese archaische Szene ungefähr in der Mitte des Buches bildet den Auftakt zu Huws endgültigem Erwachsenwerden. Rückblickend überschaut der Erzähler seine Kindheit und Jugend in diesem Städtchen im Süden von Wales, das unter den täglich größer werdenden Schlackebergen der Kohleförderung, die schleichend langsam bis zu den Hintergärten reichen, zu ersticken droht. Wo früher Wiesen und Weiden für Schafe waren, Obstgärten, Teiche, Wege und Plätze, überallhin stößt nun die Schlacke vor, die Reste der Kohle, die bei der Verhüttung übriggeblieben sind, oder der unverwertbare Teil des Aushubs aus den Bergwerken, der nicht allein die Landschaft verschandelt, sondern sich auch in den Lungen der Menschen festsetzt, sie krank macht. Dieser Verfallsprozess des Einzelnen und der Gemeinschaft ist der Inhalt des Romans, der uns in eindrücklichen Bildern zeigt, was Gier, Gewinnsucht, Aufhebung der innerlich verspürten Schranken in den Menschen anrichtet. Die Söhne entfremden sich dem Vater, die Frauen den Männern, die Tochter entfremdet sich der Mutter, der Einzelne dem gemeinsamen Wohl. Dazwischen schieben sich Erinnerungsstücke von umwerfender Komik, wenn ein Fussballmatch zwischen zwei Orten zu den damaligen Regeln ausgetragen wird, die Besäufnisse und Schlägereien nach dem Schlusspfiff, wenn der ortsansäßige Chor eingeladen wird, vor der Königin (Viktoria) zu singen, oder wenn Huw von einem Boxer, dem Freund eines seiner Brüder, auftrainiert wird, um in der Schule den ungerechten, verhassten Lehrer verprügeln zu können.
Huw Morgan wird das Bergbau-Städtchen und die wenigen Übriggebliebenen seiner Familie am Ende der Geschichte verlassen. Als Erinnerungsstück nimmt er das blaue Tuch, das seine Mutter jeweils als Schal um die Schultern gewickelt hat, mit auf den langen Weg. Als er geht, ist das Schicksal der kleinen Stadt und der Landschaft längst besiegelt: Alles wird zerstört werden wie so viele Städte und Dörfer dieser Gegend, der Kohleförderung, den Zechen, den Begleiterscheinungen des Bergbaus und den Hüttenwerken geopfert im Verlaufe der fortschreitenden Industrialisierung. Kaputtgemacht auch die Sitten, Bräuche und Bindungen der in Jahrzehnten gewachsenen Gemeinschaft, hingegeben dem Moloch Moderne.

«How Green Was My Valley»: Idyllische Bergwelt-Kindheit und...

Huws Erinnerungsarbeit beginnt dort, wo er und einer seiner Brüder heimlich die geheimen Versammlungen der Arbeiter nachts am Berg belauschen, die Rede des allgemein geachteten Vaters anhören, der den Leuten ins Gewissen redet und sie von der Nutzlosigkeit und Unrechtmässigkeit eines Streiks zu überzeugen versucht, wie sich die Mutter einmischt in das beginnende gewerkschaftliche Gebaren der Männer, wie sie auf dem Rückweg von der Versammlung auf dem Eis des Baches ausrutscht und Huw ihr das Leben rettet, indem er stundenlang ihren Körper mit dem seinen stützt im Eis. Er wird krank, bettlägrig, verpasst die Einschulung und wird zuhause vom Prediger der Gemeinde in Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtet. Bronwen, die junge Frau seines Bruders, päppelt ihn auf, verwöhnt ihn mit ihrer Kochkunst. Sie wird zum ersten Idol seiner Knabenjahre.  Und als Huw endlich dem Unterricht der Primarschulstufe folgen kann, hat er Mühe, sich einzugliedern. Eine verarmte Frau, die ihren bei einem Eisenabstich verbrühten Mann pflegt, lehrt für ein paar Pences in ihrer Stube die Kinder der Bergleute das Einmaleins und die Buchstaben des Alphabets. Noch schwieriger wird’s für Huw auf der Mittel- und Oberstufe. Er muss ins benachbarte Städtchen, ist gut eine Stunde zu Fuss unterwegs. Es ist eine Tagesschule, jedes Kind bringt von daheim die Mittagsverpflegung mit. Walisisch, ihre ureigene Sprache, ist im Unterricht und auf dem Pausenplatz strikte verboten. So müssen sie halt Englisch parlieren, für die Jugendlichen eine Fremdsprache. Ihr Walisisch ist nahe dem Gälischen und dem Bretonischen verwandt und weist überhaupt keinen Bezug zur englischen Sprache auf. Wer gegen diese eiserne Schulregel verstößt, bezieht Prügelstrafe, damals an der Schule gang und gäbe, vom Prügelmeister mit dem Rohrstock vollzogen. Dieser «Sprachenstreit» gibt einen Einblick in die Distanz, die zwischen den ehemaligen Eroberern aus England und den walisischen Untertanen herrschte und immer noch herrscht. Erst in jüngerer Zeit ist an den Schulen Walisisch als Unterrichtssprache an der Unter- und Mittelstufe wieder eingeführt worden, zuerst den Behörden in der Thatcher-Ära abgetrotzt und dann rechtlich abgesichert.
Der Junge verliebt sich. Leider stammt das Mädchen, das mit ihm dieselbe Schulklasse der Oberstufe besucht, aus dem Nachbarort. Nachts auf dem Berg lässt er seine Angebetete den Klang der Nachtigal hören, in freier Natur unter dem Sternenhimmel. Sie schlüpfen, weil es gegen morgen kalt wird, unter die Decke und Huw erkundet die Geheimnisse des weiblichen Körpers. Plötzlich Lärm und Fackeln! Die Männer des andern Städtchens suchen die zwei, und nur mit knapper Not entkommen sie unerkannt der drohenden Strafe.
Im Gottesdienst ihrer Kirche muss Huw einmal mitansehen, wie es einer jungen Frau ergeht, die «gefallen» ist: Vor der Gemeinschaft der Gläubigen beichtet sie ihren Abfall vom rechten Glauben und von der gültigen Moral, und obwohl Huw weiß, dass der ältliche Pastor ein Verhältnis mit Huws junger Schwester hat, gelingt es ihm nicht, eine weniger rigide Denkart im Kreis der Diskutierenden einzubringen. Er muss in der Kirche schweigen, weil er unter den Gläubigen noch zu jung ist. Nachher aber, vor der Kirche, wagt er es, für die Gemassregelte Partei zu ergreifen. Sein Vater ist erschüttert über den unbotmäßigen Jungen, dass er ihn tagelang mit Schweigen bestraft.

...drohende Zerstörung durch rauchende Fabrik-Schlote

So ist vieles in diesem Roman gezeichnet durch die Denkart einer längst entschwundenen Zeit, und doch, wenn man das Lokalkolorit weglässt, schälen sich die existentiellen Fragen des Menschseins heraus. Wer einen Vergleich herbeiziehen möchte, schaue sich den Film «Billy Elliot – I will dance» an. Auch diese Geschichte spielt im tristen Milieu einer Bergbau-Familie in Wales. Arbeit, Biertrinken, Boxen, Streik – all das ist in dieser Geschichte ebenfalls drin, vor realem Hintergrund der Thatcher-Ära hundert Jahre später als «So grün war mein Tal» – in der Zeit der grossen Arbeiteraufstände um 1980 wegen der angedrohten Schliessung der Gruben. Und auch in dieser Geschichte fällt der Junge aus der Reihe: Er will tanzen, nicht boxen! Billy wird in die Royal Dance Company aufgenommen, Huw Morgan, das alter ego des Schriftstellers Llewellyn, studiert in London. Beide verlassen ihren «Urgrund» und werden sich in der fernen Hauptstadt behaupten müssen. Bei beiden stellt sich die Familie anfangs quer. Bis der Vater stolz sein kann auf den Jungen, vergeht eine Zeit der Irrungen und Wirrungen. Huw erfährt die Unterstützung durch die Familie früher, er hat ja der Mutter das Leben gerettet. Außerdem gewinnt er den Schönschreibe-Wettbewerb einer Zeitung, sodass der Vater bereits früh stolz auf ihn sein kann.
Das alles entscheidende Ereignis aber ist der Streik. Huw erlebt die tiefe Spaltung zwischen Vater und Söhnen. Die Brüder Huws befürworten die Arbeitsniederlegung und verlassen im Streit die Familie und ihr Haus. Im Ort herrschen wegen des Streiks Hunger und Not, die letzten Reserven, das Geld der Gewerkschaft und die Nahrungsmittel, sind aufgebraucht, die Lohnbüchse der Mutter bleibt leer. Die Familien helfen einander, so gut es geht, aber zuletzt hat niemand mehr etwas. Obwohl Huws Vater lange gegen den Streik war und gar als Streikbrecher auftritt, stellt er sich zuletzt loyal hinter die Forderungen der Arbeiter und muss dafür bitter büssen. Der Streik misslingt und die Fabrikbesitzer nehmen Rache. Der Grubenbesitzer stellt ihn bei Kälte, Regen und Schnee als Eingangskontrolleur im Freien auf. Dann zerstört ein Wetter die Grube. Als Vater Gwilym auf Druck der Arbeiterkollegen nochmals als Retter zugelassen wird, gerät er auf der Suche nach Verschütteten in einen zusammenbrechenden Stollen. Unter den Toten ist auch er. Der Schaden ist immens, die Grube wird definitiv geschlossen. Die Ehe Angharads scheitert, ein Bruder stirbt an Depression, die andern sind weg, Vater und Mutter gestorben. So endet die Geschichte.

... ist eine Essay-Reihe, in der das Glarean Magazin Werke vorstellt, die vom kultur-medialen Mainstream links liegengelassen oder überhaupt von der «offiziellen» Literatur-Geschichte ignoriert werden, aber nichtsdestoweniger von literarischer Bedeutung sind über alle modische Aktualität hinaus. Die Autoren der Reihe pflegen einen betont subjektiven Zugang zu ihrem jeweiligen Gegenstand und wollen weniger belehren als vielmehr erinnern und interessieren.

Anhand der Inhaltsangabe ist man geneigt, das Buch als düster und traurig zu bezeichnen. Das ist es nicht, eher bittersüß, wenn es von Huws glücklicher Kindheit und Jugend erzählt. Die Tragödien, die die Familien und das Tal treffen und der schleichende Zerfall der Gemeinschaft wechseln sich ab mit fröhlichen Ereignissen, alles getragen von einer glücklichen, zusammenhaltenden und sich sehr liebenden Familie, auch wenn die schließlich auseinander gerissen wird. Bei der Sprache ist zu berücksichtigen, dass der Roman 1939 geschrieben wurde. Sie ist zwar «altmodisch», aber schön, das merkt man auch in der Übersetzung. Das Buch erreichte eine Weltauflage von weit mehr als zwei Millionen Exemplaren. An diesen Erfolg konnten die späteren Werke Llewellyns nicht anknüpfen. Die Fortsetzung der Morgan-Saga, unter dem Titel «Das neue Land der Hoffnung» erschienen, überzeugte literarisch nicht. Mangelnde Sachkenntnis im Flieger-Roman «Den Sternen nah» und schlicht Kitsch im Kibbuz-Buch «Und morgen blüht der Sand» wurde Llewellyn in der Kritik vorgeworfen. Der Autor verstarb im Dezember 1983 in Dublin.

Ich liebe Familiensagas, ihre Detailversessenheit, ihr autobiographisches Cachet, die Geschichten einer Epoche in ihrem historischen Rahmen. Oft verlege ich meine Ferien in das Gebiet eines Romans, den ich grad gelesen habe. So habe ich mal die ganze südliche Provence durchstreift auf der Suche nach den Orten aus dem Roman «Die Kinder der Finsternis». Oder ich lese Fachbücher, Geschichte, Reisebeschreibungen, sammle Zusätzliches. So bin ich vor kurzem auf einen Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung gestossen: Phönix aus der Kohle – die Auferstehung von Cardiff (NZZ vom 7. Juli 2011). Zitat: «Eine knappe halbe Stunde dauert die Fahrt von Cardiff Richtung Norden, dann ist man im Grünen. Das war nicht immer so. Erst in den vergangenen Jahren wurden hier die Löcher aufgefüllt, welche durch den Kohleabbau in der Region seit 1880 entstanden waren. Aber die Zeit heile alle Wunden, heißt es, und so entstanden auf den ehemaligen Kohleminen schrittweise Landschaftsparks, die den Touristen zum Wandern, Biken oder auch einfach nur zum Verweilen einladen. Wer die Spuren der Kohleindustrie von nahem besichtigen möchte, ist in Blaenavon gut aufgehoben. Die einstige Boomtown der industriellen Revolution ist heute Unesco-Weltkulturerbe. Hier kann man sich von einem Guide 90 Meter unter der Erde durch die einstige Mine, den ‘Big Pit’, führen lassen. Auf der Rückfahrt präsentiert sich dann die Landschaft wieder so, wie man sie sich vorgestellt hat – Ortschaften, deren Namen geschrieben werden, als wäre eine Katze einmal quer über die Tastatur spaziert, wechseln sich ab mit saftigen Matten, auf denen Schafe weiden. Zwei bis vier Schafe pro Einwohner soll es in der Heimat von Dylan Thomas, Richard Llewellyn, Tom Jones und Ryan Giggs geben, je nachdem, wen man fragt». ■

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Walter Ehrismann

Geb. 1943 in Chur/CH, Ausbildung zum Lehrer, Studium an der Zürcher Fachhochschule für Gestaltung, 1966 Unfall im südfranzösischen Meer, seither im Rollstuhl, zahlreiche malerische, bildhauerische und literarische Publikationen, lebt und arbeitet als Bildender Künstler und Schriftsteller in Urdorf/CH

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«An der Bar» von Walter Ehrismann

Posted in Buch-Rezension, Literatur, Rezensionen, Walter Ehrismann, Walter Eigenmann by Walter Eigenmann on 6. März 2008

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Die Sensation der Alltäglichkeit

Walter Eigenmann

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ehrismann-an-der-bar.jpgWenn man sich als Leser, quasi zur Ouvertüre, etwas kundig macht über einen Autor, dessen neuestes Buch aufzuschlagen man im Begriffe ist, und dabei erfährt, dass er einst als Gestaltungs-Künstler begann, nach dem Studium lange als Sekundarlehrer in der Pädagogik wirkte, seit 42 Jahren eines schweren Unfalls wegen im Rollstuhl arbeitet, heute als Ehemann und Vater zweier Kinder im schweizerischen Urdorf lebt, in all den Jahren zahlreiche kleinere und größere Text-Sammlungen publizierte, doch gleichzeitig sein bildnerisches und graphisches Arbeiten zu hoher, öffentlich vielfach gewürdigter künstlerischer Reife vorantrieb, – wenn man sich eine solche Fülle von Lebenserfahrung und -arbeit hinter einem Autoren-Namen vorstellen muss, dann klappt man das betreffende Buch erwartungsvoller auf als irgend eines. Dann hat einem einer was zu sagen.
Des Zürcher Kunstdruckers, Malers und Schriftstellers Walter Ehrismanns «An der Bar (und andere Texte)» sagt es in Form von 14 Kurzgeschichten. Und zwar so, dass man bei ihrer Lektüre zwischen jeder ein paar Stunden Pause bräuchte. Nicht deswegen, weil sie besonders kompliziert oder intellektuell, hochstehend metaphorisch oder reflektierend, gar analytisch daherkämen. Auch stilistisch geben sich diese Kürzesterzählungen allesamt – von einem bildenden Künstler überraschend – betont unartifiziell, ja schlicht; nicht wirklich exotisch sind ebenso Handlungen und Geschehnisse, auch wenn durchaus mal ihre Orte ein wenig Fern-Kolorit aus dem portugiesischem Braganca, dem russischen St. Petersburg, dem andalusischen Cordoba oder dem griechischen Aigina reinmischen.
Nein, das «Programm», das Ehrismanns 14 «Bar»-Texte «im Innersten» zusammenhält, ist vielmehr jenes, das am Ende der wald-mythischen Geschichte «Wild Wechsel» resümiert: «Wie auf dünnem Glas wandelnd, taten wir einen Blick in eine andere Erscheinungsebene, wären da beinahe eingebrochen, unvermittelt…» Unspektakulär, schier trocken, absolut unaufgeregt, ziemlich selten gar mit einem Humor-Zwinkern wird da – ja: Sensationelles ausgebreitet. Die Sensation des Augenblicks. Ehrismann photo-graphiert schreibend «einfache», durchaus «alltägliche» Zustände. Merk-würdige Zustände, allerdings.
Dies lässt sich an keinem der 14 Stücke besser belegen als an dem Dutzend Zeilen der Mini-Story «Oben in St. Petersburg»:

Der Soldat sitzt an einer der Kanalbrücken. Eine
Nebenstraße kreuzt hier den Newskij-Prospekt.
Die Uniformjacke ist verschwitzt. Er raucht Zigaretten.
Lustlos schaut er den Vorübergehenden nach. Die schräg
einfallende Abendsonne spiegelt matt im Seitenblech des
Rollstuhls. Die Beinstümpfe sind mit einer Wolldecke
kaschiert. Seine Mütze liegt im Schoß.
Aus der Menge löst sich eine junge Frau. Sie geht zu
ihm hin. Sie nimmt seinen Oberkörper in die Arme. Sie
wiegt ihn leicht wie ein Kind. Dann legt sie einen
Geldschein in die Mütze und entfernt sich. Er dreht den
Kopf nach ihr, entblößt jetzt sein entstelltes Gesicht.

Gleichgültig, ob nun der Rollstuhl – er findet in diesen Geschichten öfters Erwähnung – als Parallele zur Autoren-Biographie zufällig ist oder nicht: Der kreative Blick des Malers und Graphikers findet und hält schreibend fest, was der alltägliche Zufall herleitet, und der Dichter malt es als literarisch fokussierte Momentaufnahmen.
Oder umgekehrt? Jedenfalls beschreibt der Gesamt-Künstler Ehrismann dieses sein verschränktes Arbeiten folgendermaßen (auf seiner Internet-Site anhand seiner Druck-Radierungen):
«Ich lege die Platten vor mich hin, taste sie lange mit Händen und Augen ab. Wo ich ‘hängenbleibe’, verweile ich, orientiere mich, suche Verbindungen zu anderen Stellen. Mit verschiedenen Werkzeugen […] verdeutliche ich die Spuren und weite sie aus zu einem Liniengespinst, in dessen Verläufe Bündelungen, Strahlen und Mulden sich zum Bildnetz verdichten.»
walter-ehrismann.jpgDies «Zum Bildnetz verdichten» ist jeder dieser «Bar»-Short-Stories eigen, es sind – wie natürlich alle guten Kurz-Geschichten – Konzentrate, die bis in die einzelnen Wörter hinein «aufs Höhere» verweisen. Bei Ehrismann liest sich das – in der Geschichte «Die Sitzende», wo als Kindheits-Erinnerung der kleine Walter an einem Zürcher Fluss-Quai auf der Bronze-Statue einer nackten Sitzenden rumturnt – beispielsweise so: «Mit der Zeit fühlt sich Bronze kalt an. Und da ich eh pinkeln musste, rutschte ich auf den kühlen Frauenschenkeln nach hinten, verlor die Balance und schlug leicht mit dem Kopf in ihrem Schoße auf. Ich blieb für eine kurze Weile benommen zwischen ihren Beinen liegen. Dann wurde meine Hose feucht.» Welt und Kunst als Gegenstand der Erfahrung, nicht der Reflexion. Respektlosigkeit auch gegenüber dem «Wichtig-Vordergründigen» zugunsten der versteckten Lappalie, die unverhofft zur Essenz eines Lebens gerinnt.
Überhaupt ist der Schriftsteller Walter Ehrismann nicht wirklich ein Erzähler. Das Erfundene in dieser 128-seitigen Texte-Sammlung wäre schnell gelistet. Ehrismann ist vielmehr Stenograph. Ein Kurz-Dokumentarist von belanglosen Momenten, in denen für einen winzigen Augenblick das ganze Phänomen «Dasein» je zusammenschießt. Die kalkulierten Weglassungen des Autors sind das eigentlich Wichtige in diesen «Bar»-Texten, ihr Lesen muss Nach-Dichten werden. «An der Bar (und andere Texte)» handelt vom Mikrokosmos des Lachens und Weinens über dies und das.
ehrismann-zaertlichegesaenge1-oeltempera.jpgOder wie es der Autor seinen «Jungen Mann» in der letzten Geschichte, als Rückblick auf einen Unfall mit anschließender Schädel-Operation, und in den letzten Sätzen des ganzen Buches quasi in einem kleinsten Anfall von Philosophisch-Theoretischem, sagen lässt: «Wenn ich mir aus Verlegenheit, weil etwas Wichtiges vergessen ging, an den Kopf greife, spüre ich die Löcher links und rechts hinter der Schläfe, die die Schrauben in der Schädelwand hinterlassen haben. Natürlich sind die Wunden längst verheilt, doch wenn ich die Daumen in die Dellen drücke, weiß ich, sie sind noch da, doch sie tun nicht mehr weh. Und dann lange ich wieder und wieder hin in der Gewissheit, diesen Teil des Dramas überlebt zu haben. Die Angst und die Beklemmung damals, sie würden mir die Metallstifte quer durch den Schädel treiben, hat einem milden nestroyschen Lächeln Platz gemacht, desillusioniert zwar und in großer Skepsis gegenüber allem menschlichen Verhalten, auch gegenüber gesellschaftlichen und moralischen Zwängen oder plumper Angeberei, aber erfüllt von tiefer Liebe für unsere Schwächen – überzeugt von der raison d’être, vom Sinn des Lebens.»
Vor genau zehn Jahren begann der Prosaist Ehrismann mit seiner «Durchsicht der Dinge»; 2005 dann seine «Texte in den Wind» (Deutsch/Spanisch), und nun der vorläufige Höhepunkt mit «An der Bar». Eindrücklicher hätte sich der Dichter neben dem Maler nicht als bedeutsame literarische Stimme in der Schweiz zurückmelden können.

Walter Ehrismann, An der Bar (und andere Texte), 14 Kurzgeschichten, Edition Howeg, 128 Seiten, ISBN 978-3-85736-247-7

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