Glarean Magazin

Das Zitat der Woche

Posted in Essays & Aufsätze, Sprache, Werner Loch, Zitat der Woche by Walter Eigenmann on 17. November 2008

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Über das emanzipative Sprechen

Werner Loch

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Welches sind die Regeln des emanzipativen Sprachgebrauchs?
Es ist ein nicht repressives und insofern herrschaftsfreies Sprechen, das die Wahrheit sagt ohne Rücksicht auf einen Herrschaftsanspruch, der dadurch verletzt werden könnte. Es ist insofern autoritätsfreies Sprechen, als dabei Berufung auf Autorität anstelle von vernünftigen Gründen ausgeschlossen ist. Es verfährt nach der Regel, daß immer dann, wenn eine nicht selbstverständliche Behauptung oder Forderung aufgestellt wird, eine vernünftige Begründung dieser Aussage gegeben oder erfragt werden muß.
Als vernünftiges Sprechen ist es sachgemäßes, alle vom in Rede stehenden Sachverhalt geforderten Unterscheidungen berücksichtigendes und logisch folgerichtiges Sprechen, dessen Aussagen nachprüfbar sein müssen. Nur dann ist es überzeugend. – Um nachprüfbar und überzeugend zu sein, muß es ein verständliches Sprechen sein. Diese Verständlichkeit zeigt sich in dem Merkmal der Übersetzbarkeit seiner Ausdrücke und Aussagen in die Sprache der Angesprochenen, seiner Bereitschaft, deren sozialkulturelle Lebensbedingungen und -bedürfnisse als hemmende oder fördernde Faktoren ihres Verständnisses im Gespräch mit zu berücksichtigen, und der Bereitschaft, sich von jedermann immer wieder neu in Frage stellen zu lassen und Antwort zu geben.
Emanzipatorisches Sprechen muß deshalb reversibles Sprechen sein, das jedem Gesprächspartner bzw. Diskussionsgegner grundsätzlich die gleichen Rechte einräumt. Die benutzten Redeformen und Ausdrücke müssen allen Beteiligten gleich erlaubt sein. Auf die Argumente eines jeden muß gleichmäßig eingegangen werden, und die Verteilung der Sprechzeiten darf niemanden benachteiligen. Kein Gesprächs- oder Diskussionspartner darf wegen seiner individuellen oder sozialen Situation oder Position diskriminiert werden (z. B. wegen seines Alters, weil er «zu jung» oder «zu alt» erscheint).
Trotz aller Gleichberechtigung der Partner ist es ein kritisches Sprechen, das – weil autoritätsfrei bzw. <antiautoritär> – die nicht als vernünftig zu rechtfertigenden Behauptungen bzw. Forderungen in Frage stellt und Aussagen, die die wirklichen Verhältnisse verschleiern bzw. verfälschen, entlarvt und richtigstellt. – Das emanzipative Sprechen ist notwendig praxisbezogen, weil sich sonst das Ziel der Emanzipation nicht verwirklichen läßt. Was als vernünftig erkannt ist, muß realisiert werden. Denn mündiges Handeln heißt, das, was als Aufgabe überzeugend ausgesprochen und als Verpflichtung übernommen worden ist, verantwortlich verwirklichen. Die gesellschaftliche Praxis gibt dem emanzipativen Sprechen seine Gegenstände auf. Sie ist insofern sein <Prinzip>.
Als kritisches und praktisch verbindliches Sprechen ist das emanzipative Sprechen notwendig wertend und normativ, weil jede Kritik und jede Handlung Normen braucht, an denen sie sich orientiert, und Ziel, Mittel und Ergebnisse des Handelns beurteilt.
Als handlungsbezogenes Sprechen ist es notwendig ein projektierendes Sprechen: In der kritischen Abhebung von den faktischen Verhältnissen, die geändert werden sollen, entwirft es zukünftige Handlungsmöglichkeiten, die die Regel der Sachgemäßheit jedoch grundsätzlich der Forderung der Realisierbarkeit unterstellt. Seine Konzepte können utopisch sein, d. h. etwas noch nicht Verwirklichtes aussprechen, es muß sich nur verwirklichen lassen. Deshalb ist gerade dieses projektierende Sprechen auf Praxis angewiesen.
Um kritisch und projektiv sein zu können, setzt dieses Sprechen sprachliche Sensibilität und Kreativität voraus. Nur dadurch können die oft verschleierten, ja unbewußten Zwänge, Hemmungen und Herrschaftsformen bezeichnet, begriffen und die neuen Handlungsmöglichkeiten entworfen werden, die sie zu überwinden suchen.

Die praktische Verbindlichkeit des emanzipatorischen Sprechens impliziert das soziale und politische Engagement. Was als vernünftig erkannt ist, muß in der Gesellschaft und darf nicht abseits von der Gesellschaft verwirklicht werden. Es muß, wenn notwendig, mit politischen Mitteln durchgesetzt werden, für die grundsätzlich gilt, daß auch sie die Regeln der Mündigkeit nicht verletzen dürfen, weil Mündigkeit als Ziel der Erziehung und immer neue Aufgabe der Selbsterziehung in der Dimension ihre entscheidende Erprobung findet, aus der sie als Anspruch der Vernunft gegen ungerechtfertigte Herrschaft erwachsen ist: in der politischen. ♦

Aus Werner Loch: Sprache; in: Handbuch pädagogischer Grundbegriffe II, Kösel Verlag, München 1970

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