Armut

Dieter war wieder mal auf Geschäftsreise. Vier Wochen USA. Sie hasste ihn dafür. Er würde mit Erektionsstörungen und vier Kilo Übergewicht zurück kommen. Das war bisher immer so gewesen.
Sie sah sich im Spiegel an. Tastete ihre Stirn und ihre Wangenknochen ab. Sie wurde alt. Es war zum Schreien. Und zum Verzweifeln.
Sie zog sich um. Griff sich den Geldbeutel mit den Kreditkarten. Fuhr in die Stadt. Shoppen.
Sie kaufte sich dreizehn Oberteile. Sieben Paar Schuhe. Zehn Hosen. Vierzehn Röcke.
Sie kam nach Hause. Fiel ins Bett. Weinte. Schaltete den Fernseher ein. Rief ihre Freundin Ruth an.
„Was machst du?“, fragte sie.
„Starre in den Fernseher“, sagte Ruth.
Sie schwiegen. Sahen zusammen (obwohl sie dreißig Kilometer entfernt wohnten) in den Fernseher.
„Was siehst du dir an?“, fragte Ruth.
„Sturmböen der Liebe.“
„Ich auch.“
Sie schwiegen. Sahen wieder in den Fernseher.
„Wir könnten etwas zusammen unternehmen“, schlug sie vor.
„Was denn?“
„Keine Ahnung.“
„Bis Morgen dann.“
„Ja!“
Sie legte auf. Schloss die Augen. Dachte nicht an Dieter. Träumte von einem Kind.
Das wird nichts mehr werden, dachte sie.
Es klingelte. Sie strampelte sich aus dem Bett. Schlurfte die lange Treppe nach unten. Durchquerte die Vorhalle. Öffnete. Ein Landstreicher stand vor der Tür. Sie sah ihn erschrocken an. Damit hatte sie nun gar nicht gerechnet.
„Ja?“, fragte sie.
„Hätten Sie vielleicht Kleingeld. Oder alte Kleidung, die sie nicht mehr brauchen?“
Sie verneinte.
„Dachte ich mir.“
Sie schloss hastig die Tür. Verschloss sie mehrmals. Eilte nach oben. Rief Ruth an.
„Ruth?“
„Ja?“
„Du glaubst nicht, was ich gerade für ein Abenteuer erlebt habe …“

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