Ich bin tiefer in die Oststadt vorgedrungen, ich sehe mich um, erkenne die Gebäude wieder, rissige, graue Häuser, die nur der Dreck noch zusammen hält, die sich über meinen Kopf beugen, als wollten sie mir etwas erzählen, man kann sie flüstern hören, nicht nur flüstern, oft schreien sie auch, sie schreien laut auf, du Schlampe, wo ist das Bier, Versager, kein Geld, wir haben kein Geld, wovon soll ich das denn alles bezahlen, man muss nur die Augen schließen und lauschen, aber will man das überhaupt, wer will all die Schimpftiraden hören, ich bleibe stehen, ein verlumpter Junge rennt an mir vorüber, mustert mich, ich fühle mich erschöpft, schließe die Augen und springe in die Vergangenheit, ich sehe mich durch die Straßen hetzen, ich halte den Brief in der Hand, den mir ein Junge in die Bar gebracht hat, er hat ihn mir entgegen gestreckt, mit seinen schmutzigen Händen, von wem, fragte ich ihn, iss schon bezahlt, antwortete er, drehte sich um und verschwand, und ich stand mit meinem Bier da, sah den Umschlag an, ungläubig, weil mir noch nie jemand geschrieben hatte, ich kann lesen, wenig, aber ich kann es, einige Jahre in der Schule haben ausgereicht, um mir einige Buchstaben in den Kopf zu schlagen, denn das machten sie zu gerne, die Hand heben und schlagen, sie nieder fahren lassen wie eine Strafe Gottes, dabei wussten die überhaupt nichts von Gott, ich denke nicht, dass sie den Direkter des hiesigen Gefängnisses kannten, vielleicht doch, denn er ist ein bekannter Mann, er hält den Abschaum von den Straßen, er ist doch auch nur ein Lehrer, einer, der uns lehren will, wie man richtig lebt, ich öffnete den Brief, zugeklebt war er nicht, holte ein Papier heraus, einen kleinen Zettel, auf dem stand, ich musste mich konzentrieren, geh nach Haus, und in der nächsten Zeile, Marie fickt mit Bert, ich starrte die Worte immer und wieder an, weil sie einen Sinn ergaben, weil ich Marie kannte, weil ich Bert kannte, meinen guten Freund Bert, mit dem ich schon auf so mancher Diebestour gewesen war, weil ich Marie kannte, denn sie war meine Freundin, Frau, wie soll ich das sagen, wir waren nicht verheiratet, aber schon so lange wie ein Ehepaar zusammen, die doppelzüngige Marie, die in einem Moment die schönsten Worte sprechen konnte, um sie im nächsten Augenblick mit Flüchen zu torpedieren, Marie, die ich liebte, nein, von Liebe konnte man da nicht mehr sprechen, die hatte uns die Zeit ausgetrieben, weil die Zeit den Menschen alles austreibt, aber sie war mein, sie gehörte mir, ich sah sie als meinen Besitz an, und Bert, ich knallte die Flasche Bier auf die Theke, was issen los, fragten die Kumpels, sie drehten sich weg, es interessierte sie bereits nicht mehr, sie steckten die Köpfe zusammen und führten Männergespräche über Autos, Fußball, Frauen, ich kletterte die Treppe nach oben ins Zwielicht der Oststadt, atmete den Blutgeruch der Schlachtereien ein, rannte über die Straße, überlegte rasch, welche Abkürzungen ich nehmen könnte, diese Gasse lang, dort über die Mauer, vorbei an einer alten Frau, die auf einem Stuhl vor ihrem Haus saß, sie trug ein Kopftuch, ein blaues Kopftuch, ich kann mich genau daran erinnern, ich fegte wie der Wind an ihr vorüber, stieß eine Mülltonne um, Unrat ergoss sich, polterte über die Straße, leere Büchsen, Flaschen, ja, oh ja, Flaschen findet man in diesem Viertel genug, schon sprang ich von einer etwa drei Meter hohen Mauer in unseren Hinterhof, hier wohnte ich, ich streifte Wäsche, die zum Trocknen hing, als hätten Gespenster ihre Tracht vergessen, ich trat gegen die Eingangstür, die offen ist, hier schließt sie niemand ab, wie auch, niemand hätte den Schlüssel, ich rannte, war völlig außer Atem, die Treppen nach oben, noch vier Stufen, schon stand ich keuchend vor meiner eigenen Wohnungstür, ich kramte in meiner Hose nach dem Schlüssel, dort war er, raus damit, er fiel mir aus der schweißnassen Hand, ich bückte mich, rasch doch, schneller, du musst dich beeilen, ich steckte ihn ins Schloss, ruhig, ruhig, damit sie dich nicht hören, lass nicht zu, dass sie dich doch zu früh hören, schon war sie offen, ich konnte mich nicht beherrschen, ich riss sie auf, rannte durch den Flur Richtung Schlafzimmer, trat die Tür ein, da waren sie, nein, da war nur sie, Marie, die doppelzüngige Marie, sie lag nackt im Bett, schlief, träumte, bemerkte mich nicht einmal, ich stützte meine Hände auf den Knien ab, atmete durch, ganz ruhig, beruhig dich, ich konnte den Duft der Liebe noch riechen, Bert war hier gewesen, ich war mir sicher, ich machte einen Schritt, schon stand ich über dem üblen Weib, ich griff ihr in die Haare, zog sie an den Haaren zu mir hoch, sie riss die Augen auf, kein Schrei, nichts, sie war zu erschrocken, was ist, flüsterte sie, wo ist er, schrie ich, ja, wer denn, fragte sie mit einer piepsigen Stimme, da war sie wieder, die doppelzüngige Marie, dieses Mal war sie die liebe Marie, die zärtliche Marie, wo ist er, fragte ich sie noch einmal, ich kniff meine Augen zusammen, dann ließ ich sie fallen wie
einen Sack mit Innereien, ich kann mich gut daran erinnern, denn damit begann alles, meine Suche nach Bert, sein Tod, Marie, die zurück blieb, ich im Gefängnis, hat sie mich besucht, oh nein, nie, ich durchsuche die Anzugtaschen, da ist er ja noch, natürlich sie händigten ihn mir doch erst heute aus und ich verstaute ihn dort, der Schlüssel zu meiner Wohnung, deshalb also lief ich in die Oststadt, weil ich zu Marie will, weil ich noch ein Zuhause habe, auch wenn nichts mehr so ist, wie es mal war, aber das ist es doch nie, denn die Zeit treibt den Menschen noch alle Flausen aus.
Archivierung!
Die Pathologie wird von der Universität Innsbruck im Rahmen des Forschungsprojektes DILIMAG, sowie dem DEUTSCHEN LITERATURARCHIV MARBACH archiviert.- "In Pissoirs geht man Stufen hinunter, in Bunker, in Krematorien, in die Pathologie, in Weinkeller. Es lassen sich mythologische Beziehungen zum Hinabsteigen herstellen." Hubert Fichte, Die Palette
Über Guido Rohm
Er kam, sah und schrieb. Der Schriftsteller Guido Rohm , geboren 1970, lebt und raucht in Fulda. Romane von ihm tragen sensible Titel wie „Blut ist ein Fluss“ und „Blutschneise“.
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