Hiller war aus dem Leben gefallen, so wie manche aus dem Fenster fallen. Er hatte sich ein wenig zu weit hinaus gelehnt, war übermütig geworden, weil ihm ein frischer Luftzug durch das Gesicht fuhr. Er hatte das Gewicht zu weit nach vorne verlagert, sicher den Rahmen im Griff zu haben, um dann den sicheren Stand auf den Füßen aufzugeben und zu stürzen. Und zu stürzen. Diese drei Worte hatte er sich später noch oft auf der Zunge zergehen lassen müssen.
Nun lag er vor dem Haus, in dem er so viele Jahre gewohnt hatte. Er fror. Saß im Regen. Rannte an gegen Schneeflocken und Sonnenstrahlen.
Er ernährte sich von den Abfällen, die von den Hausbewohnern übrig blieben und die sie in Müllbeuteln nach unten brachten.
In den Nächten saß er oft zwischen den Büschen, um sich vor der Kälte zu schützen und sah wehmütig zu den erleuchteten Fenstern empor, die ihm weit entfernte Sterne schienen. Auf einem solchen Stern hatte er dereinst auch mit seiner Frau Hiltrud gelebt. Ohne je über verlöschende Sterne nachgedacht zu haben.
Seine Frau, die nun nicht mehr sein Frau war, auch wenn er sie noch so nannte, lebte noch immer im Haus, nur mit einem anderen Mann, weil Hiller sich ja für den Sturz aus dem Fenster entschieden hatte, wie sie den Leuten erklärte.
Hiller begann mit seiner Wanderung, die ihn die Straße hinauf und hinab führte. Es schien ihm immer die gleiche Straße zu sein.
Er durchstöberte die Mülltonnen, weil er somit auf der Suche war. Das Finden war nicht so wichtig, war es doch nur Müll, den er fand. Aber das Suchen ließ ihn weiterhin Mensch sein.
Er lief von Abfalleimer zu Abfalleimer, versenkte die Hände darin. Er erinnerte an einen, der sich die Arme wusch, dabei zitterten die Finger durch allerlei glänzende Seltsamkeiten: Silberpapier, wie man es in Zigarettenpackungen oder um die Rippen einer Tafel Schokolade geschlungen fand. Er nahm sich die Kostbarkeit, hielt sie ins Sonnenlicht und fühlte sich für einen letzten Moment reich und geborgen. Ja, der falsche Reichtum gaukelte ihm eine falsche Geborgenheit vor, die er sonst nirgends fand. Nicht zwischen den Leibern seiner ebenfalls aus Fenstern gestürzten Kameraden. Nicht in den beheizten Eingangsbereichen der Warenhäuser.
Er lief seine Straße ab, die stets eine andere war. Begegnete Gesichtern, die ihn nicht ansahen, die ihm ein wenig Geld in die Hand drückten, damit sie sich aus dem Unglück, das ihn zu umgeben schien, kaufen konnten.
Hiller begann zu trinken, weil der Schnaps ihm einredete, er könnte ein König sein, mindestens aber ein berühmter Seiltänzer, der sich über die Tiefe von Hausdach zu Hausdach bewegte. Ein Seiltänzer, der die Erdberührung scheute.
Archivierung!
Die Pathologie wird von der Universität Innsbruck im Rahmen des Forschungsprojektes DILIMAG, sowie dem DEUTSCHEN LITERATURARCHIV MARBACH archiviert.- "In Pissoirs geht man Stufen hinunter, in Bunker, in Krematorien, in die Pathologie, in Weinkeller. Es lassen sich mythologische Beziehungen zum Hinabsteigen herstellen." Hubert Fichte, Die Palette
Über Guido Rohm
Er kam, sah und schrieb. Der Schriftsteller Guido Rohm , geboren 1970, lebt und raucht in Fulda. Romane von ihm tragen sensible Titel wie „Blut ist ein Fluss“ und „Blutschneise“.
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