Karbon drückt die Tür mit der Schulter auf, blickt zum Himmel hinauf, tiefes Blau, Karbon meint den Geruch von Verbranntem wahrzunehmen, Asche fliegt um seinen Kopf, er bobachtet ihren Flug, Karbon bekommt es mit der Angst zu tun, denn er kennt die Geschichte der Umgebung, er sieht hin, genauer, entdeckt einen Grill mit Thüringer Würstchen, er atmet auf und läuft erleichtert weiter, denn für einen Augenblick dachte er, was Sie vielleicht auch dachten, wir wollen es hier und jetzt nicht aussprechen, denn das liegt den Deutschen einfach nicht im Blut, was, na, sich mit den Wahrheiten der eigenen Geschichte auseinander zu setzen, Quatschkopf, sagt ein alter Mann, er steht vor dem Bahnhof und wartet auf den Bus in die Innenstadt, er hat Karbons Gedanken wohl gelesen, mindestens aber erraten, wir können natürlich über die Vernichtung, über das Verbrennen und Vergasen reden, sagt der Mann, denn kein Volk macht es sich so schwer, schwer, fragt Karbon, sieh dich doch um, wir haben unsere Erinnerung mit schweren Steinen umhängt, wir haben aus unseren Erinnerungen eine Kette geformt, die uns noch in die Tiefe ziehen wird, nein, nein, sagt Karbon, was meinen Sie, aber da kommt schon der Bus und Karbon zahlt und nimmt auf der hinteren Bank Platz, er denkt über sich und sein Land nach, er las erst an diesem Morgen etwas über antisemitische Ausfälle in einem Roman, schrieb den nicht die Born, einen Familienroman, darin wurde nun ein Jude mit all den Vorurteilen beschrieben, die man sich so in den Jahren gemacht hat, Karbon dachte noch, den muss ich lesen, weil wichtig ist doch, wer in dem Roman hat die Vorurteile, und dann dachte Karbon an Fassbinder und sein Frankfurter Stück, dem hauten sie es ja auch um die Ohren, dabei nahm er doch nur Stimmen auf, die es dort draußen gab und gibt, ja, verflucht und eins, sagt sich Karbon leise, wenn ich die Wirklichkeit beschreiben will, dann gehören doch auch die Vorurteile der Menschen in einen Roman, spricht das Karbonlein und springt aus dem Bus, denn sein Weimarer Programm ist eng gestrickt, erst geht es hin zur vor Jahren abgebrannten Anna-Amalia-Bibliothek, er kann sich noch genau an die Nachrichtenbilder erinnern, denn da brannte nicht nur Buch um Buch, sondern gleich noch sein Herz, hier oder dort, bevor er sich verfranzt, spricht Karbon zwei alte Frauen an, die ihm den Weg erklären, Lehrerinnen in Rente, denkt Karbon, aber das könnte auch nur ein Vorurteil sein, er läuft über den Marktplatz hinüber, dort ist sie ja schon, und wenige Minuten später steigt Karbon mit einer Art Telefon die Treppen zum Saal hinauf, denn eine Stimme aus dem Apparat erklärt ihm die Welt dieser Bibliothek, Karbon hört zu, er will Fragen stellen, aber das geht nicht, denn hier, so denkt Karbon zeigt sich die ganze Misere der deutschen Bildung, wir lauschen und lauschen, die Wörter rauschen an uns vorüber, wir wollen sie fassen, bleib hier, verfluchtes Wort, aber die sind nicht zu fassen, sie zwängen sich in die Ritzen der Bodenbretter und verlieren sich im Erdreich, da müsste man lange graben, um die alle zu fangen, und dann wären es am Ende nur einzelne Worte, die gar keinen Sinn mehr ergeben, Karbon schreitet durch den Saal, der ihn merkwürdig kalt lässt, das könnte natürlich an der Raumtemperatur liegen, Karbon will hier nicht sein, er rennt die Treppen hinab und hinaus, denn ins Goethehaus will er auch noch, und schon im nächsten Augenblick, weil in Weimar alles nur Zentimeter entfernt liegt, giert er durch die Zimmerfluchten des großen deutschen Dichters, dessen Wohnverhältnisse ihn berühren, nur nicht tief genug, um damit eine tödliche Wunde zu schaffen, Karbon lauscht auch hier den Erklärungen einer Maschine, und erst als ihm die Maschine von Goethes Sohn erzählt, dem dummen lieben August, da zuckt er zusammen, denn dieser Lebensweg berührt ihn mehr als alle Wege Johann Wolfgangs, der Sohn, der vor dem Vater in Rom dem Totenreich anvertraut wurde, wühlt in seinem Innersten, ihm wird ganz übel von den Tränen Augusts, die er sich einbildet, dabei ist das nur der Rotz einer nicht auskurierten Erkältung, Karbon wankt und stolpert Richtung Arbeitszimmer, er beugt sich über die Absperrung und erbricht sich im nächsten Augenblick ins Allerheiligste des Dichterfürsten, der, dem Tod sei Dank, davon nichts mehr mit bekommen muss, Karbon entweiht die Denkerstube, raus hier, raus hier, brüllt es in Karbon, er greift nach der geisterhaften Hand Augusts, den er plötzlich neben sich zu spüren vermeint, und rennt mit dem Sohn nach draußen, sie atmen die frische Luft, August flüstert, ich danke Ihnen, schon rennen sie zum Bus, der sie zum Bahnhof bringt, sie nehmen den nächsten Zug wohin auch immer, Karbon und August, der es sich neben seinem neuen Freud gemütlich macht, sie blicken durch die verdreckte Wagenscheibe auf das vorüber rollende Deutschland, dieses Land aus verlassenen Hallen und Bäumen, an denen man sich so herrlich erhängen könnte, wehend in einer sanften Morgenbrise, die vielleicht von Weimar kommend, sich dort am stillen Selbstmörderort finden wird, der August schmiegt sich an Karbon, und so durchqueren der Tote und der Noch-nicht-Tote die deutschen Lande, sie fahren nicht von Süden nach Norden, und dann wieder zurück, auch wenn sie es so für sich geplant hatten, sie fahren nur drei Stationen weit, denn sie haben kein Geld und scheitern an der Dienstbeflissenheit des Schaffners, der wirft sie kurzerhand aus dem Zug, da seien Sie mal froh, dass ich nicht noch die Polizei verständige, Karbon und August taumeln auf den Bahnhofsvorplatz, sie sehen sich um, sie können es nicht fassen, wie konnte das nur geschehen, denn sie sind in Weimar, du kannst diesem Ort einfach nicht entkommen, sagt August und zieht Karbon Richtung eines Grills, Asche legt sich auf ihr Haar, sie blicken in die Glut hinein, und fast kommt ein Gefühl von deutscher Behaglichkeit in ihnen auf, aber schon laufen sie weiter, immer weiter, im Rücken die Asche und im Blick das Haus am Frauenplan.
Archivierung!
Die Pathologie wird von der Universität Innsbruck im Rahmen des Forschungsprojektes DILIMAG, sowie dem DEUTSCHEN LITERATURARCHIV MARBACH archiviert.- "In Pissoirs geht man Stufen hinunter, in Bunker, in Krematorien, in die Pathologie, in Weinkeller. Es lassen sich mythologische Beziehungen zum Hinabsteigen herstellen." Hubert Fichte, Die Palette
Über Guido Rohm
Er kam, sah und schrieb. Der Schriftsteller Guido Rohm , geboren 1970, lebt und raucht in Fulda. Romane von ihm tragen sensible Titel wie „Blut ist ein Fluss“ und „Blutschneise“.
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