Jetzt kann er sich nicht mehr erinnern.
Eingenickt im Seil. Ein Versuch, durch die Luft zu laufen.
Erhängt, weil die Erinnerung ihn bedrängte.
Zur Beerdigung kommt nur ein Nachbar, der mit diesem Vormittag nichts anderes anzufangen weiß. Der Nachbar starrt ins Loch hinab und staunt. Dort wird er auch einmal enden. Er kann es sich nicht vorstellen.
Nein, nein, nein, singt der Nachbar auf dem Nachhauseweg. Er beschließt, sich mit dem Sterben Zeit zu lassen. Erst noch muss er seine Gedanken an die Ewigkeit im Erdloch gewöhnen. Dann erst will er auch den Körper folgen lassen.
Wenn das Leben doch nur unseren Beschlüssen folgen würde.
Der Nachbar stirbt bereits einen Tag später. Er gerät unter die Räder eines Wagens, der sich noch rasch einen Platz vor dem Fußballstadion ergattern will. Der Wagen kann sich also keine Zeit lassen.
Da erinnert sich bereits niemand mehr an den Luftspaziergänger.
Der Luftspaziergänger lebt in keiner Erinnerung mehr. Nicht in der Erinnerung der Überlebenden. Nicht in seiner eigenen Erinnerung.
Die immerhin war schlimm genug!
Schüler war er einst. Das ist zu allen Zeiten eine Plage, ist man doch dem Lehrkörper ausgesetzt.
Der Lehrkörper missbilligt, zürnt, blamiert.
Mancher Lehrkörper liebt den Schülerkörper. Er will nicht von ihm lassen. Er will ihn in die Tiefen seines Bettes ziehen.
Erzähl das nur keinem, schnauft der Lehrkörper, der sich bereits, so sieht es der Luftspaziergänger in damaliger Zeit, mit dem Verwesen angefreundet hat.
Der Lehrkörper wird zu einer dunklen Wolke, die von nun an die Kindheit und Jugend überschattet.
Da kann man sich nur wundern, dass der Luftspaziergänger nicht schon viel früher auf Wanderung ging.
Denn Stricke und Dachböden findet man rasch.
Nun ist der Luftspaziergänger gegangen. Er ist seinen Erinnerungen davon spaziert. Er wollte steigen. Er wollte auf all die dunklen Wolken hinab sehen.
So ein Lehrkörper ist ein Klotz am Bein. Den schleift man ein Leben lang mit sich. Man wird ihn nicht los. Man schluckt allerlei gegen die Schmerzen. Man denkt darüber nach, sich des Beines mit einem Beil zu entledigen.
Auf zwei Füßen soll man stehen.
Das predigte der Lehrkörper stets in der Öffentlichkeit. Er lächelte in die blassen Gesichter hinein. Sagte: Ich liebe meine Arbeit.
Ja!
Der Luftspaziergänger konnte ein Lied von dieser Liebe singen.
Nun ist der Luftspaziergänger in seinem letzten Bett gelandet. Kalt ist es darin. Feucht. Er lauscht dem Erdenreich. Da wuchert es. Da schlägt manche Wurzel in der Ferne aus. Im Erdreich ist die Hölle los.
Er liegt allein.
Kein Lehrkörper neigt sich über ihn. Kein Speichelfaden verliert sich in seinem Gesicht.
Fast würde er lächeln. Die Starre des Todes verweigert es.
Über ihm zieht ein Trauerzug dahin.
Die Vögel fliegen davon.
Sie steigen hoch.
Schon verliert sich der Schwarm in der Ferne.
Archivierung!
Die Pathologie wird von der Universität Innsbruck im Rahmen des Forschungsprojektes DILIMAG, sowie dem DEUTSCHEN LITERATURARCHIV MARBACH archiviert.- "In Pissoirs geht man Stufen hinunter, in Bunker, in Krematorien, in die Pathologie, in Weinkeller. Es lassen sich mythologische Beziehungen zum Hinabsteigen herstellen." Hubert Fichte, Die Palette
Über Guido Rohm
Er kam, sah und schrieb. Der Schriftsteller Guido Rohm , geboren 1970, lebt und raucht in Fulda. Romane von ihm tragen sensible Titel wie „Blut ist ein Fluss“ und „Blutschneise“.
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