Der Richter durchstöbert die Internetseiten. In der rechten Hand trägt er einen Rotstift. Er markiert Fehler. Er kann kaum noch etwas erkennen. Der Bildschirm ist über und über mit roter Farbe beschmiert.
Die Frau des Richters schläft noch. Er schleicht in ihr Zimmer hinüber. Beobachtet ihre Mundwinkel, die ihm falsch erscheinen. Die dürften nicht so hängen, denkt der Richter. Er zückt den Rotstift und markiert seine Frau. Die Frau ist das gewöhnt. Sie lässt sich nicht stören. Sie schläft. Weiter. Nur im Traum bleiben, denkt sie.
Der Richter schreitet mit dem Rotstift durch die Wohnung. Er markiert die falschen Geräusche und Düfte. Der Richter geht ins Badezimmer. Entdeckt im Spiegel sein Gesicht. Falsch, denkt er, ein falsches Gesicht. Also übermalt er sein Spiegelbild. Endlich kann er sich nicht mehr sehen. Geht doch, denkt der Richter und schreitet weiter durch den Tag, der noch auf seine roten Markierungen wartet.
Vor der Tür schreit ein kleines Kind. Der Richter fragt: Was ist mit dir? Ich habe Hunger, antwortet das Kind. Der Richter überlegt. Er kniet sich vor das Kind. Horcht am Bauch des Kindes. Eine Lüge, sagt der Richter. Er markiert das Kind mit seinem Rotstift. Dieses Kind muss verbessert werden. Man sollte das Kind gegen ein anderes Kind eintauschen, denkt der Richter.
Der Richter markiert in Gedanken den Verkehr. Da wird gegen so viele Verkehrsregeln verstoßen. Da wird ihm ganz übel. So etwas kann der Richter nicht ertragen. Er beugt sich über eine Mülltonne. Der Richter übergibt sich. Er überprüft sein Erbrochenes. Das kann nicht sein, denkt er. Da muss ein Fehler vorliegen. Das habe ich nicht gegessen. Er würde das Erbrochene allzu gerne markieren. Lässt es dann aber doch. Das ginge zu weit. Selbst für den Richter. Der überschreitet diese Grenze nicht. Er malt mit dem Rotstift ein imaginäres F an den Himmel. Gott gibt es nicht, flüstert der Richter.
Also zieht sich der Richter in seine Wohnung zurück. Sein Schneckenhaus. Seine Schale. Seine Tüte. Seinen Burg. Der Richter bleibt in seinem Arbeitszimmer. Arbeitet. Er klebt Buchstaben auf ein Papier. Die Buchstaben entstammen alten Gesetzesbüchern. Er will die Gesetze neu schreiben. Die alten Gesetze waren nicht richtig. Seiner Meinung nach.
Hin und wieder unterbricht er sich. Er greift nach einem Gedichtband. Enzensberger. Bruchthal. Er markiert die fehlerhaften Stellen. Diese Gedichte müssten neu geschrieben werden. Darum wird er sich kümmern. Später. Fleißig klebt er Buchstabe um Buchstabe. Immer hinein ins Schulheft. Er hat Heft um Heft gefüllt. Die Hefte liegen neben ihm. Er wird sich später um die Hefte kümmern. Er wird sie korrigieren.
Der Richter beobachtet seine Frau. Die Frau schleicht. Sie will nicht von dem Richter entdeckt werden. Der Richter sieht sie. Er greift nach dem Rotstift. Du warst ein Fehler, schreit der Richter und stürzt sich mit dem Rotstift auf sie. Er will sie bemalen. Er will sie aus seinem Leben heraus malen. Die Frau soll in einem Meer aus Rot verschwinden. Die Frau schreit. Der Richter sei ja verrückt geworden. Sie will von hier fort. Nur raus hier. Sie stürmt auf das Fenster zu. Sie stolpert. Sie stürzt aus dem Fenster. Ein letzter Schrei. Der Richter sieht zum Fenster hin. Das kann nicht sein. Ein Fehler. So hätte sie nicht sterben dürfen. Nicht durch einen Selbstmord. Er wird auf dem Friedhof mit einem Rotstift erscheinen. Das beschließt er in diesem Augenblick. Er wird es tun.
Sonnenlicht stürzt ins Zimmer. Romantik. Die hat hier nichts verloren. Der Richter streicht die Sonne mit seinem Rotstift aus dem Universum. Klappt nicht. Versuchen muss man das, flüstert der Richter. Sein Kopf hängt. Er ist müde. Die Welt lesen. Das strengt an. Überall findet man Fehler. So etwas muss man überstehen. Ohne einen Herzinfarkt. Unvorstellbar.
Der Richter wartet auf die Sirenen. Jemand wird einen Krankenwagen bestellt haben. Die Frau vor der Tür muss ja schließlich abtransportiert werden. Das ist nicht seine Aufgabe. Das wäre ein Fehler. Sie ist ihm einerlei gewesen. Schon lange. Die letzten Jahre.
Der Richter steigt in sein Bett. Er schließt die Augen. Seine Finger umschließen den Rotstift. Er ist bereit. Er wird den Träumen die Fehler schon austreiben.
Archivierung!
Die Pathologie wird von der Universität Innsbruck im Rahmen des Forschungsprojektes DILIMAG, sowie dem DEUTSCHEN LITERATURARCHIV MARBACH archiviert.- "In Pissoirs geht man Stufen hinunter, in Bunker, in Krematorien, in die Pathologie, in Weinkeller. Es lassen sich mythologische Beziehungen zum Hinabsteigen herstellen." Hubert Fichte, Die Palette
Über Guido Rohm
Er kam, sah und schrieb. Der Schriftsteller Guido Rohm , geboren 1970, lebt und raucht in Fulda. Romane von ihm tragen sensible Titel wie „Blut ist ein Fluss“ und „Blutschneise“.
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