Seraphes Vater erzählt mir von seiner Kindheit. Sein Kopf liegt leicht auf der Seite, als würden die Erinnerungen im rechten Hirnbereich überschäumen, bald schon überlaufen. Seine Augen sehen mich nicht, während ich mich auf seine Worte konzentriere. Jeder Satz ist ein Schritt auf einem Schuttberg. Er kommt nur schwer voran.
Von seiner Zeit in der Landwirft spricht er, von den Tagen, da er als Fünfjähriger die Kühe auf die Weide trieb, immer verfolgt von den Schatten und den Ängsten, die man in diesem Alter noch sehen kann.
„Wilde Tauben“, sagt er. „Ich habe noch heute Angst vor ihnen. Die saßen in einem Baum und machten einen Riesenlärm, den ich mir nicht … Ich war doch erst fünf Jahre. Es waren nur wilde Tauben, aber die Geräusche, der Schreck, das werde ich nie vergessen.“
Wir sitzen in einem Gemeindehaus, tief in der Provinz. Es dunkelt, der Wind fährt über den kleinen Spielplatz, der sich vor dem Fenster befindet.
„Meine Frau und ihre Mutter, die waren ganz allein auf dem Hof. Alle waren sie fort. Im Krieg. Hätte der Vater meines Schwiegervaters seinen Hof an den Sohn vermacht, dann wäre ihm die Wehrmacht erspart geblieben, dann würde er vielleicht noch leben, aber …Sie sind alle …“ Seine Stimme stockt, das Geröll bricht unter seinen Füßen weg.
Ich denke an das Album, das wir uns vor einigen Wochen angesehen haben. All die vielen alten Fotografien, auf denen die Menschen standen, die es längst nicht mehr gibt. Seraphes Mutter als kleines Kind, die, blondgelockt, in den Apparat lacht, den sie nicht versteht, aber den man ihr zeigt und der sie festhalten wird. Nur nicht so fest, dass sie noch hier wäre. Sie starb 2004.
„Mit Fünfzig machten wir unseren ersten Urlaub. Das werde ich nie … Nie werde ich das vergessen. Die jüngste Tochter und meine Schwiegermutter achteten auf das Vieh. Wir fuhren in den Süden. Die Berge …“ Die Lippen heben sich, senken sich, ziehen einen leichten Speichelfaden. „Die Berge, die ich nie zuvor gesehen hatte, die machten mich sprachlos. Zum ersten Mal … Wir konnten ausschlafen, und dann nach einer Woche kamen wir zurück und erfuhren, dass sich ein Bulle stranguliert hatte. Tot. Die Tochter, die Schwiegermutter, sie haben uns nicht angerufen, weil sie wussten, wir würden keine Ruhe haben …“
Der Fünfjährige läuft Wege, die seit Urzeiten von den Truppen aller Zeitläufe benutzt wurden. Die Luft ist erfüllt vom Geklirr der Schwerter und der Sterbenden. Man muss nur klein genug sein und es noch hören können. All die Kühe und er soll sie treiben, hin zur Wiese, die an einem Wald liegt. Tief und dunkel ist es zwischen dem Geäst, das viele Geheimnisse birgt, die den Fünfjährigen dieser Welt vorbehalten sind. Stimmen, die es tatsächlich gibt und die nach ihnen rufen. Wesen, die halb Tier, halb Mensch sein sollen.
Der Junge steht in der Nähe, er schlottert, weil das Schlottern die Angst aus dem Körper treibt.
„Es waren nur wilde Tauben, aber ich zucke heute noch, wenn ich sie irgendwo sehe.“
Und dann senkt sich sein Blick und wird tief, so tief, dass ich nicht sehen kann, was er zu erblicken scheint.
Archivierung!
Die Pathologie wird von der Universität Innsbruck im Rahmen des Forschungsprojektes DILIMAG, sowie dem DEUTSCHEN LITERATURARCHIV MARBACH archiviert.- "In Pissoirs geht man Stufen hinunter, in Bunker, in Krematorien, in die Pathologie, in Weinkeller. Es lassen sich mythologische Beziehungen zum Hinabsteigen herstellen." Hubert Fichte, Die Palette
Über Guido Rohm
Er kam, sah und schrieb. Der Schriftsteller Guido Rohm , geboren 1970, lebt und raucht in Fulda. Romane von ihm tragen sensible Titel wie „Blut ist ein Fluss“ und „Blutschneise“.
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