28. April 2012, Ich bin 6, 7.48 Uhr

Kennen Sie das? Man ist auf der Suche nach sich selbst, weil angekündigt war, man würde sich finden, so z.B. in der heutigen Ausgabe der Fuldaer Zeitung, die man rasch durchblättert, ist man doch gewiss, sich dort zu begegnen.
Aber weit gefehlt, man findet sich nicht; nicht einmal unter den Todesanzeigen spürt man sich auf.
Das Auge spießt Buchstaben auf, ein G, u, i, d, o. Geht doch, man hatte mich nur in einem Text über einen der regionalen Fußballvereine versteckt.
Die Schere hilft mir aus der Zeitung. Ich lege mich auf den Küchentisch und zähle die Punkte wie beim Scrabble. 7 Punkte. Endlich habe ich einen Wert für mich gefunden, eine Zahl, die mich fassbar macht.
Der Nachname fehlt noch, den ich schließlich in einem Bericht über Trickbetrüger aus Island fand. R, o, h, m. Weitere 8 Punkte. Macht zusammen 15 Punkte, die in der Quersumme 6 ergeben.
Ich wusste es. SECHS. Die Zahl des Teufels. Eine böse, verwunschene Zahl, die von der Ankunft des Weltuntergangs, von Höllenqualen und von Körperflüssigkeiten kündet.
Endlich habe ich mich gefunden. Ich bin die 6.
Und wer sind Sie?

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Ratschlag

Wenn Sie Schriftsteller werden wollen, wenn Sie es tatsächlich ins Auge gefasst haben und Sie haben keinen Aufschrei des Schmerzes gehört, dann lassen Sie es bitte lieber sein, denn Ihnen fehlt jegliche Fantasie, die vonnöten ist, um einen Plan auf die rechte Weise zu quälen, der ihn nach drei Stunden in einer abgelegenen Lagerhalle sogar behaupten lässt, er wäre es gewesen, der einst Kennedy im Auftrag Walt Disneys erschoss.

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27. April 2012, Unzüchtiges Benehmen, 5.50 Uhr

Kaffee, Zigarette – und ja!, ich bekenne mich schuldig, schlage die Arme über Kreuz und lasse mich festnageln auf den Begriff, den man mir vorhält wie einen Spiegel, damit ich mich und mein entstelltes Äußeres darin erkennen möge.
Spuckt mich an, jagt mich, schreit, da ist er!, denn ich habe mich der Polygraphie verschrieben, derer ich auch in dieser Sekunde huldige, hier und jetzt, auch wenn Sie ihn nicht sehen können, diesen Augenblick, da ich mich mehreren Texten gleichzeitig hingebe.
Ich liege im Bett unzähliger Themen, denen ich die Brüste reibe, so der Toxikologie, der Romankunst, der Tagebuchschreibrei, nicht meine Entwürfe zu einem Kochbuch, einem Handbuch der Astrologie zu vergessen, meine Notizen zu Francis Bacon und Arthur Kleiber, denen ich wollüstig beischlafe, und die unter meinen tintenbeklecksten Händen aufstöhnen, sich zur Seite drehend, sich anstrahlend, die Rücken zu Brücken formend, unter denen ich, habe ich nur genug Zeit an einem Vormittag, noch ein Picknick zu veranstalten pflege.
Die Vielschreibrei, ich kann und will nicht von ihr lassen. Stehe ich am Morgen auf, mich aus dem Bett nächtlicher Traumnässe in die Wohnung schleppend, dann bleibt stets ein gutes Dutzend Themen zurück, die mir Kopfkissen und Laken wärmen, während andere Themen schon mit entblößtem Oberkörper nach meiner Schreibhand gieren, die sich in ihnen verlieren wird, wie die Kinderhand in einem Teigstück.
Habe ich erst geschrieben, dann geht es mir besser. Ich bin ein Opfer meiner Lust, die mich einst aus den Gefängnissen der Vollmündigkeit auf die Terrassen der offen zelebrierten Sexualität führte, die ich nun täglich mit mehreren Themen überquere, flanierend von Tisch zu Tisch, an denen meine Schatten sitzen.
Prösterchen!
Es gibt Länder, wir wissen dies alle, da kümmert man sich nicht um moralische Erwägungen, nicht um literarische Monogamie, weil die Polygraphie dort tagtäglich gelebt und geliebt wird.
Drum lasst uns pilgern, lasst uns den staubigen Weg der Fantasie beschreiten, die uns über den Ozean führen wird, der nichts weiter als eine Träne, ein Tropfen aus der Wasserflasche Gottes, ein Schweißtropfen des Universums ist. Denn im gelobten Land werde ich mich endlich mit Pornographie, Zensur, Geographie und Ballistik vermählen, um mich unbekümmert von den Erwägungen der Moralapostel jederzeit auf ein Thema meiner Wahl stürzen zu können.
Kaffee, Zigarette und ja!, Sie haben recht, ich werde mich und meine Lebensvorstellungen in diesem Land nicht durchsetzen können, herrschen doch hier noch immer die altvorderen Stammväter der Hochkultur, die sich dem Postulat verpflichtet fühlen, das vorschreibt, man dürfe nur alle paar Jahre mit einem tausendseitigen Roman „Liebe machen“, dem man zuvor in zahllosen Hochzeitsnächten Treue geschworen hat.
Kaffe, Zigarette und nein!, ich werde kein Anhänger von Monographien. (Aber das ist bereits schon wieder ein anderes Thema.)
Lang lebe die Unzucht mit all den Themen, nach denen es mich gelüstet!

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Herr Rohm …

… gibt hiermit (da noch drei bereits geschriebene Bücher erscheinen werden) seine Rückkehr in die Literatur bekannt.

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Herr Rohm …

… gibt hiermit (auch wenn noch drei bereits geschriebene Bücher erscheinen werden) seinen Rückzug aus der Literatur bekannt.

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System der Systemlosigkeit

Ich räume die Bücher um. Die Biografie über Fellini neben den Roman Sontcards über Ludwig XIV. Die „Sexualpraktiken einsamer Elefanten“ kuscheln sich an „Der alte Mann und das Meer“, der Rest-Hemingway wandert mit Madame Brule zu den Gedichten Erich Kästners und Ludwig Bärmanns. Campernes „Sittengeschichte der isländischen Architekten“ hüpfen geschwind zu den Gesammelten Werken Dürrenmatts, die sich zu den „Ausführungen über den Minotaurus“ von Heinz Krochmann bequemen mussten. Alles findet einen neuen Platz, sortiert nach dem „System der Systemlosigkeit“, geschrieben von Roger Fahnung (1902 – 1982).

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25. April, Mutter, Prollberg, Gedichte, 5.52 Uhr

Prollberg, einst mit merkwürdigen Gedichten zu einer regionalen Größe gewachsen, der er noch heute nachhing, und die sich im absurden Kauf von ausladenden Schuhe und Jacken ihren Weg in die ihn längst nicht mehr wahrnehmende Öffentlichkeit suchte, begrüßte uns mit seinem altbekannten Hängemattenlächeln. Komm schon, schien es zu flüstern, steig in mich und mach es dir in mir bequem, ich werde dich einlullen und wegdämmern lassen.
Deine Mutter ist noch im OP, sagte er und griff nach einer Flasche Wasser, die er bald hierhin, bald dorthin stellte, als spiele er ein nur ihm bekanntes Brettspiel auf dem Tisch, mit einer Figur, die nicht gewinnen, nicht verlieren konnte.
Ich dachte an seine Gedichte, die kurz und voller Staub waren, den es von Anzügen zu entfernen galt, von Knöpfen, die golden in der Nachmittagssonne glänzten. Seine Lyrik verströmte den Duft eines Militärplatzes, der von Geschäftsleuten genutzt, Geld antreten ließ, um es anschließend durch Neologismen springen zu lassen, die in Brand gesetzt, sich nach menschlicher Haut sehnten. Es ging um den ewigen Kampf des Kapitals, um Selbstbehauptung, um die Herrschaft und den Endsieg der Finanzmärkte.
Wir sprachen kaum, saßen stumm nebeneinander, während sich die Aufzugtüren öffneten und schlossen. Kranke und Besucher wurden in den Flur gespuckt, die sich ängstlich umblickten, als wären sie plötzlich in einem Albtraum Franz Kafkas erwacht, ohne zu wissen, wer dieser Franz Kafka überhaupt war, was ihre Verunsicherung noch steigerte.
Dann endlich, später, viel später, durften wir zu Mutter, die einen guten Eindruck machte, hellwach und bei Bewusstsein, das unaufhörlich ein Lächeln nach dem anderen in ihr Gesicht kippte. Ihr Gesicht schien ein Abladeplatz für das Glück dieser Welt geworden zu sein.
Ich streichelte ihr über die Wange, Seraphe drückte sie sanft und Prollberg ließ ein Glucksen hören, dem eines seiner rasch heruntergerasselten Gedichte über eine Registrierkasse folgte. Wir sahen ihn erstaunt an, er hob die Schultern, wir vermuteten es zumindest, denn er verschwand nahezu in seiner grauen Anzugjacke, die ihm nicht nur Heimat war, sondern auch Heimatverlust, eine Erinnerung an seine einst von Haus und Hof vertriebenen Eltern.
Mutter zeigte ihren in Gips verpackten Arm her, der nun mit einem neuen, künstlichen Knochen ausgestattet sei, wie sie betonte, und ich sah sie für Sekunden als den neuen Menschen, der sich bereits am Lebenshorizont abzeichnete; Wesen, die halb Kunst, halb Natur, sich elegant wie Vögel über den Himmel bewegten und gegenseitig jagten, ausgestattet mit Düsenantrieben, die sie höher und höher streben ließen, bis sie schließlich in der Sonne verglühten.
Ich musterte Prollbergs Gesicht, der sich über Mutter beugte und ihr, mein Spatz, auf den Mund hauchte.
Am Abend, ich war mir gewiss, würde er wieder über seinen letzten Gedichten hocken, an seinem unvollendeten Roman, der den Titel „Die Kunden“ trug und von dem er mir bisher nur einmal, in einer von Wein geschwächten Sekunde erzählt hatte.
Wir verabschiedeten uns, verwiesen auf den morgigen Tag, sagten zu Mutter, sie solle, wenn möglich ruhen, schlafen, und als wir die Tür hinter uns ins Schloss zogen, konnte ich noch Prollberg hören, der sich räusperte und dann sagte, du erlaubst sicherlich, ein Gedicht, nur ein kleines Gedicht …

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