Thomas M. Disch

Dealer drängen sich Schulter an Schulter, flüstern sich in die Ohren, was ich nicht hören soll; kann nichts Gutes sein, denke ich und dränge mich mit einem gepressten Lächeln zwischen ihnen durch, entlang diverser Kisten, in denen Ketten in grellen Farben liegen, die in irgendwelchen Hinterhofwohnungen von Frauen mit zittrigen Händen gemacht wurden; Perle für Perle haben sie aufgezogen, ich kann es sehen, jeder kann es sehen: man muss sich nur mühen.
Ich schlüpfe ins nächste Haus, ein Mann in Uniform drückt hastig eine Zigarette in einen der drei Blumenkübel, die neben dem Aufzug stehen, wischt sich einen Speichelfaden vom Mundwinkel und blickt mich unsicher an, fragend, nach meiner Jacke schielend, ob sich da etwas befinden könnte, eine Beule, die auf eine Waffe schließen lässt. Aber da ist nichts, nur Luft, dazu noch heiße, kein Wunder bei diesem New-Yorker-Wetter.
Zu Disch, sage ich, der Mann in Uniform – einer roten mit goldenen Knöpfen, die er fast jeden Abend von seiner Frau sorgsam in den Schrank hängen lässt, während sie ruft, Abendessen steht auf dem Tisch, General! – wirft den Kopf in den Nacken und überlegt, dann leuchtet sein Gesicht und er drückt das Stockwerk, tritt vom Käfig zurück und lässt mich himmelfahren.
Im zweiten Stock stinkt es nach Urin und alten Frauen, nach Tod und Verwesung, nach den Vorstellungen davon, es sind Gerüche, die ich so noch an keinem anderen Ort vorgeführt bekam; Olfaktorische News, die von Messerstechereien berichten, von einem Mann, der seine Frau enthauptete und ihren Kopf dann hier im Flur ausstellte. Kritzeleien an den Wänden beschimpfen den Vermieter, dann noch den Mann mit dem Kopf, weil er einer gewissen Mary damit ihren Hochzeitstag kaputt gemacht hat, dieses Arschloch, steht wortwörtlich da, mit zittriger Hand, die einen Buntstift führte.
Ich bleibe vor einer Eisentür stehen, klopfe, Farbe blättert, rieselt zu Boden, die Tür verträgt keine Fäuste, keine Besucher, die ihre Herbsttürme sind, und die sie irgendwann nackt dastehen lassen werden.

Thomas M. Disch

Die Tür öffnet sich und da steht er, groß, sanfte Augen, und ich reiche ihm meine Hand und stelle mich vor. Mein Name sagt ihm nichts, natürlich nicht, ich versuche erst gar nicht zu erklären, dass ich aus der Zukunft komme, dass ich nur ein Fantasiegespinst bin, eine Erfindung, die sich kurz mit ihm unterhalten möchte. Schweige darüber, auch über seinen Selbstmord; niemand sollte wissen, wie er stirbt, auch er nicht. Er bittet mich zu einem Sessel, in dem ich versinke, der ein Sumpf zu sein scheint, ein Pass-auf-sonst-wirst-du-verschluckt-Ding, das es bei alten Leuten manchmal zu finden gibt; meine Großmutter besaß auch einen dieser Ohrensessel, die von ahnungslosen Besuchern leben, die sie verschlucken; nichts wird man hören, weil sie still und leise verdauen, und alle werden sich wundern, wo man abgeblieben ist, nur der eingeweihte Besitzer nicht, der mit dem Sessel unter einer Decke steckt, und der ihm alle paar Wochen ein ahnungsloses Opfer zuführt, damit der Gott des Ohrensessels besänftigt ist, damit er die Bewohner der Wohnung in aller Ruhe ihrem Alltag nachgehen lässt.
Stehe also auf und laufe im Kreis und spreche Disch auf seine Rolle in der Science-Fiction-Gemeinde an.
Er verdreht die Augen, Sie wissen ja, sagt er, die haben Probleme mit meinen Büchern, dabei denke ich die Probleme nur zu Ende.
Er macht einen Schritt auf mich zu, legt seine großen Arme um mich, und bittet mich, ich möge mich doch bitte wieder setzen. Nein, nein, wehre ich ihn ab, ich müsste … Zeige auf eine Tür. Das Klo? Disch nickt, und im nächsten Moment sitze auf dem Beckenrand der Badewanne und denke über alles nach.

Disch ist keiner der typischen Science-Fiction-Schriftsteller, er ist ein Fremdkörper, einer, der Krimis schreibt, Gedichte, die immer wieder, viele Gedichte, dann einen Roman mit dem Titel DIE FEUERTEUFEL, der eben mal die Menschheit auslöschte, so nebenbei, weil Disch es satt hatte, Romane über außerirdische Invasoren zu lesen, hochtechnisiert und bis unter die Zähne bewaffnet, die am Ende dann doch wieder verlieren. Nichts da. Nicht mit ihm. Glorreiche Menschheit, verrecke endlich!

Ich zucke zusammen, weil Disch an die Tür klopft und fragt, ob alles in Ordnung ist, und ob er etwas für mich tun kann. Nein, alles gut, rufe ich und bleibe sitzen. Ich kann da nicht rein, weil ich hier nichts verloren habe, das ist nicht meine Zeit, nicht meine Kragenweite, ich will aus diesem Moloch von Stadt raus, will nicht in dem gefräßigen Sessel eines Schriftstellers landen, der gut war, sehr gut, einer der Besten, und der bis zum Schluss verkannt wurde, der sich, nach dem Tod seines Mannes, und weil er keine Rechte auf die gemeinsame Wohnung hatte, aus lauter Verzweiflung umbrachte.
Und dann denke ich: Am Ende packen sie eben noch jeden.

Es ist nur einen Augenblick, ein Blinzeln, dann bin ich zurück, sitze tatsächlich wieder an meinem Schreibtisch in Fulda. Der Vogel schreit, Glück gehabt!, und ich nicke ihm zu; kann sein, kann sein, murmele ich.
Jetzt habe ich überhaupt nicht über Disch geschrieben, so ein Mist aber auch, ich könnte Dietmar Dath anrufen, einer der wenigen Autoren, die sich um Disch und andere SF-Schriftsteller verdient gemacht haben. Dath hat Disch einen Roman gewidmet; könnte Dath also anrufen, bis mir einfällt, dass ich seine Nummer überhaupt nicht habe, weil ich ihn nicht kenne, und er mich nicht kennt. Ich hätte ihm gesagt: Erzähl den Leuten etwas über Disch, über seinen Roman in der Tradition von Dos Passos, dann über das Ding, das er über die Erweiterung der Intelligenz schrieb, es geht um einen Gefangenen, dem Drogen injiziert werden, die ihn allmählich zu einem Übermenschen werden lassen, der aber sterben wird. Berichte darüber, über alles, über das Scheitern an einem solchen Projekt, über das …

Thomas M. Disch sagte eines Tages zu Michael Moorcock: Ich schreibe über das, was sich jeder am meisten wünscht. Und Moorcock antwortete: Du schreibst über Elefanten? Disch schüttelte den Kopf, nein, nein, über Intelligenz, ich schreibe über Intelligenz, und Moorcock sah ihn traurig an und sagte, komisch, dass du darüber schreibst, ich hatte mir immer gewünscht, ein Elefant zu sein.

Ich schließe die Augen, öffne sie, bin zurück, Dealer drängen sich Schulter an Schulter, flüstern sich in die Ohren, was ich nicht hören soll …

Ein weiterer Anlauf, ich werde es noch einmal versuchen, noch einmal, man darf nicht aufgeben; ich öffne die Tür und schlüpfe in den kühlen Vorraum des Hotels, rufe, hi, Martin. Der Mann in Uniform sieht mich verwundert an und fragt: „Kennen wir uns?“
Nein, sage ich, greife nach seiner Zigarette, ziehe daran, drücke sie in einem der Blumenkübel aus und nehme die Treppe.
„Wollen Sie denn nicht …!“
„Heute nicht, heute nicht“, sage ich noch, dann schlägt bereits die Tür hinter mir zu.

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07.06.12

Kennen Sie das? Man will schreiben, man will es unbedingt, aber es gelingt nicht, die Worte flutschen einem aus den Händen wie ein toter stinkender Fisch, sie lassen sich nicht ordnen, nicht unterbringen. Und dann liegen sie herum, all die Worte, die man nicht benutzte, und die nun nichts mit sich anzufangen wissen, die sich wie eine Katze im Hausflur aalen, oder auf der Schwelle der Türöffnung, die auf dem Balkongeländer balancieren und die Jungen von nebenan beim Schreien und Jubeln und Fußballspielen beobachten, die auf dem Sofa schnarchen, die Haare wirr im Gesicht, als würden sie sich hinter einem Vorhang verbergen, der heute nicht gehoben wird, weil die Vorstellung ausfällt, selbst die Vorstellung von der Vorstellung fällt ins Wasser, in die Pfützen, die sich wie unzählige kleine Seen auf der Straße gebildet haben, in all den Vertiefungen und Ausbuchtungen, die die Jahre im Asphalt hinterließen. Und ich sitze da und tippe lustlos das Wort lustlos, weil es schön ist, das Wort zu leben, das mich jetzt beschreibt, in dem mein Kopf hängt, mein ganzer Körper, der ein einziger leerer Pool ist, in den schon seit Jahren kein Wasser mehr geflossen ist, ein Pool vor einem verlassenen Haus am Rande einer Stadt im Süden, nahe einer Grenze, besser noch, nahe einer Wüste, die den Sand mit vollen Händen ausgibt, die ihn vom Wind verteilen lässt, der ihn gierig in den Pool schleppt, ihn mit Sand auffüllend, bis er mit dem Zeug überläuft, und der Pool sich die nicht vorhandenen Haare rauft, weil er genau weiß, dass man ihn für Sand nicht erschaffen hat. Aber was soll er machen? Er ist doch nur der Pool.

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Isaac Asimov

Warum nicht die Schleuse öffnen, stampfend, gestopft in einen altertümlichen Raumanzug, um einen Ausflug in die Kinder- und Jugendtage zu unternehmen?
Ein Reise ins Ich. Der Atem könnte das Glas, das den Kopf umgibt, beschlagen.
Ich könnte von den Schriftstellern erzählen, mit denen ich im Bett lag und davon berichten, wie eng es war, wie seltsam es anmutete, an der Decke zerren zu müssen, sie einem Lem oder Asimov aus den feuchtnassen Fingern reißen zu wollen.

Womit anfangen, wen antreten lassen? Das Gedächtnis ist ein Kasernenhof, den man nach Gutdünken gestalten kann; alle finden sie darauf Platz, wenn ich es nur zulasse, wenn ich es nur verlange: Die Säufer und Hurenböcke, die Lügner, die Raumstationen, Viecher, mit weit aufgerissen Mäulern, aus einer urzeitlichen Welt, die nie Schritt halten konnten, mit den Entwicklungen in der Nachbargalaxie.

Isaac Asimov

Asimov, mit ihm könnte ich beginnen, auch wenn, und da verzieht er bereits das Gesicht, mir andere näher standen, vor allem Heinlein und Spinrad, die, das hat seine guten Gründe, nicht unumstritten sind.
Ich mag Schriftsteller, die umstritten sind.

Asimov lehnt sich hinter seinem Metallschreibtisch zurück, in seinem Rücken eine weiße Wand, die ihm die Sicht auf die 33 Stockwerke tiefer liegenden Brunnen und spielenden Kinder, Büsche und Polizisten zu Pferde nimmt.
Der Mann, fahrig in seinen Bewegungen, hat uns Leser geschnappt und geschleift, hinein in den Mikro- und in den Makrokosmos. In seinem Kopf fühlt er sich wohl, nicht aber in der Realität.
Höhenangst hat er, fliegt nicht, dieser Reisende, der sich auf zahllosen Seiten in den Tiefen des Alls in die merkwürdigsten Abenteuer stürzte.

Schreiben, schreiben, schreiben, nichts anderes kennt er, ist ein Maschinenwesen, ein Schreibmaschinenwesen, das unaufhörlich alles notiert, in Kleinschrift werden Zahlenkolonnen, Befindlichkeitsausbrüche, wird alles, was mit dem Kosmos Asimov in Berührung kommt, zu Papier gebracht, weil er, Asimov, nur zu leben vermag, wenn er schreibt.

Die Schreibmaschine Asimov, tausendarmig, die die menschliche Geschichte übersetzt, so z.B. den Untergang des römischen Imperiums.
Eine Maschine schreibt über Maschinen, über Roboter, zahllose Geschichten; hängt aber seine Schreibmaschine, ist sie defekt, dann weiß er nicht weiter, weil er die Welt erklären und beschreiben kann, nicht aber retten oder reparieren.
Will seine Frau die zwei Arbeitszimmer betreten, dann muss sie anklopfen, denn es dauert stets ein bis zwei Sekunden, um sich in ein menschliches Wesen zu verwandeln. Halb Mensch, halb Maschine, kein Wunder, dass man hinter dem Namen Asimov ein ganzes Team von Schreiberlingen vermutet. Wie soll eine Person all das geschrieben haben, was seit Jahren den Markt überschwemmt?
Unbegreiflich.
Er ist eine Flut, ein Ozean, in dessen Strömungen sich Ungeheuerliches ereignet.
Ich müsse jetzt gehen, mahnt er, und zeigt zur Schleuse hin, zurück in die Zukunft. Sie müssen zurück in die Zukunft.
Und schon hat er mich vergessen, schon schreibt er über die Veröffentlichung seiner ersten Kurzgeschichte in Astounding.
Ich kann ihn murmeln hören, kurz bevor sich die metallene Tür lautlos hinter mir schließt: „Ich betrat am 21. Juni 1938 das Büro von John W. Campell …“
Durch ein kleines Guckloch kann ich ihn sehen, er hat den Kopf gehoben und blickt irgendwo in die unermessliche Schwärze, die er in dem Spalt zwischen zwei Schränken gefunden hat, er ist an einem ganz anderen Ort, er …

Mein Atem legt sich als Schleier auf das Glas, und ich kann ihn nicht mehr sehen. Ich schließe die Augen und stelle ihn mir vor, wie er hinter seinem Schreibtisch sitzt, diesem Ungetüm mit Schubkästen, auf denen Aufkleber angebracht sind, auf denen in Maschinenschrift steht, was man darin finden wird: Robotergesetze, Sonnenuntergänge, Überbevölkerung …

Er bemerkt mich nicht, weiß nichts von meiner Anwesenheit, unermüdlich hacken seine Finger in die Tasten der Schreibmaschine, um etwas von dem zu berichten, was in seinem Kopf aufgelaufen ist. Es muss dort raus, sonst wird der Schädel reißen. Das weiß er und tippt weiter um sein Leben.

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Ray Bradbury

Es war diese einzigartige Sprache, die einen benebelte, verzauberte, die einen hob und auf den Flügeln eines Raumschiffs oder Vampirs in den Weltraum des eigenen Kopfes entführte. So wie er, schrieb keiner.
Der starkbeglaste Ray Bradbury – der wie viele Science-Fiction-Autoren, ein vereinsamtes Einzelkind war, gehänselt, ausgestoßen, unverstanden, Grundvoraussetzungen des Spinners, und der in seinem Zimmer zahllose Magazine und Schundromane und Klassiker in die Umlaufbahnen seiner Träume schoss, sich selbst und die Welt beständig erfindend, neu ordnend, der seine Metamorphosen brennen und löschen ließ, der Menschen zu lebendigen Büchern werden ließ – ist tot.
Er starb heute im Alter von 91 Jahren. Das tut mir leid, weil mit diesem Dichter und Träumer ein weiterer meiner Jugendheroen aus der Welt gefallen ist, nicht aber seine wunderbaren auf leisen glutsommerheißen Sohlen daherkommenden Romane.

Ray Bradbury

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05.06.12 (3)

Sorgenvoller Nachtrag zum Beschluss-Eintrag „05.03.12 (2)“: Meine Beiträge werden stetig kürzer.

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05.06.12 (2)

Ich will und werde heute keinen weiteren Beitrag in meinem Onlinetagebuch veröffentlichen. Soeben beschlossen. Dann der Beschluss, den Beschluss der Öffentlichkeit zur Kenntnis zu geben.

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05.06.12

In einer ununterbrochenen Aktion nach einer DVD gesucht, nach, wenn Sie es genau wissen wollen (wollen Sie doch, oder?), Polanskis Mieter, den ich vor ein, zwei, drei, vier Jahren, was weiß denn ich, ja-bei-Gott-dann-fragen-Sie-doch-nicht-so-genau-nach, gekauft habe, sicherlich gekauft, und der verschwunden ist, der sich den ewigen Wanderbewegungen der Dinge angeschlossen hat, die in Löchern oder unter unsichtbar machenden Tüchern (Tarnkappen also) verschwinden, die sich aus meinem Leben stehlen, als hätte ich nichts dafür bezahlt. Machte mich mit Spitzhacke und Lampe und viel Geschrei auf die Suche, und auch wenn die Wohnung nun aussieht wie eine Baustelle, werde ich nicht aufgeben.
Irgendwo muss sie doch sein, die verfluchte DVD.

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