24. Mai 2012, Zurück vom Zahnarzt, 17.36 Uhr

Zurück vom Zahnarzt, der Rohm weder den Zahn der Zeit noch den, der ihm einflüstert, es gäbe ihn überhaupt nicht, zog, sitzt Rohm in gewohnt für den Körper ungewohnter Haltung, nämlich nahezu liegend, in seinem Schreibtischstuhl, einem gewichtigen Thron, wie man ihn aus den Chefetagen deutscher Konzerne kennt; dies zumindest unterstellt Rohm, der es nicht besser weiß. Alles in seinem Leben besteht aus Behauptungen, die unbewiesen bleiben.

Behauptung des Tages: Alle Welt vernimmt das Geräusch, das entsteht, wenn Rohm die Nase rümpft, lässt es aber unbeachtet, um nicht für verrückt erklärt zu werden.

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24. Mai 2012, Morgendliche Explosionen, 6.03 Uhr

Rohm vermutet, dass er ausgebaut wird. Da muss allerhand in ihm los sein. Anders kann er sich die morgendlichen Explosionsschübe, die seinen Körper durchzucken, nicht erklären. Rasch greift er nach einem Papiertaschentuch, um die ungeheure Wolke aus Staub, Gesteinen, Nässe aufzufangen.
Was mit diesen Abfallprodukten anfangen? Sorgsam, um Buch über die Arbeiten und deren Fortschritt zu führen, klebt er die zu Bällen geformten Leinwände an Schränke und Tische, versieht sie mit dem Datum des jeweiligen Tages und beobachtet sich weiterhin.
Vorsicht ist geboten! Da ist etwas im Busch.

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23. Mai 2012, Revolution am späten Nachmittag, 16.55 Uhr

„Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an seiner Seele?“ Matthäus, Kapitel 16, Vers 26

Was tun?
Die Möglichkeiten scheinen schier unendlich, unbegrenzt, bilden ein sich dehnendes Universum, darin Rohm sich austoben könnte, sind doch Frau und Kind seit Stunden ausgeflogen.
Also?
Rohm hält den Zeigefinger sinnend, grübelnd an die Unterlippe, die gefurcht, zum Spielen einlädt. Er könnte … Schon! Auf der anderen Seite könnte er aber auch … Ja! Jetzt hat er die Lösung. Endlich. Das ist sie, die geeignete Mittwochnachmittagsunterhaltung. Seine kleine barbarische Revolution auf dem Hoheitsgebiet der Normalität.
Rohm tut es, er rückt, stöhnt, ächzt, setzt sich mit dem Rücken Richtung Bildschirm.
Nein?
Doch!
Dies wird, nein!, dies muss Verwirrung stiften. Er spürt die umstürzlerische Kraft, die vonnöten ist, um auf neue Gedanken zu kommen.
Entsetzt starrt er auf die Oberfläche des Esszimmertisches. Nie zuvor hat er ihn in diesem Tageslicht und aus dieser Position betrachtet. Offenen Mundes findet er keine Worte für die Offenbarung.
Schweiß zwängt sich durch die Poren, schafft sich auf seine Stirn, ruht, läuft davon. (Eine Körperflüssigkeit auf der Flucht vor der Kraft despotischer Gedanken.)
Was für ein aufregender Nachmittag, denkt Rohm und schließt erschöpft die Augen, um der neuen Sichtweise zu entkommen.
Auf keinen Fall kann er sich den Anblick des Tisches länger zumuten.
Die Gefahr, Schaden an Leib, Geist und Seele zu nehmen, ist zu groß.

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23. Mai 2012, Aus den „Verordnungen des Schriftstellermorgens“, 5.55 Uhr

Rohm sitzt gemäß der „Verordnungen des Schriftstellermorgens“ an seinem Schreibtisch, neben sich die erwünschte Tasse Kaffee, im Mund die in Paragraph 2 Absatz 1 geforderten drei Zigaretten, die, sanft qualmend, Figuren äußerster Fragilität erschaffen, so eben einen singenden Waldarbeiter, der im nächsten Moment von der Nachbildung des Mount Everest abgelöst wird.
Früher, ja früher („Früher war alles schlechter“, pflegte sein Großvater Julius Rohm oft zu murmeln), da arbeitete er halbtags für eine astrologisch-hellseherische Vereinigung im Badischen, war zuständig dafür, aus dem Rauch einer Zigarette die Zukunft seines Gegenüber zu weissagen. Viel Verantwortung ruhte auf seinen Schultern, stapelte sich in seinem Gewissen, das Menschen mit dem Wissen nach Hause schickte, welches Buch sie in drei Tagen lesen, welches Mittagessen sie in vierzehn Tagen kochen, welche Person sie in neun Monaten erschießen würden. Nichts für Rohm, der sich die Verantwortung von den Schultern und die Bilder aus dem Gewissen wischte, mit einigen kurzen raschen Bewegungen, die ihn nicht viel Zeit und Mühe kosteten. Dann verschwand er von dort.
Rohm tippt bereits, wie in Paragraph 9 Absatz 3 verlangt. Dort heißt es wortwörtlich: Der Schriftsteller sollte unaufhörlich tippen, er sollte auch tippen, wenn er bereits schläft, wenn er in der Badewanne liegt, wenn er beim Einkaufen ist, nie sollte er es unterlassen, das Tippen enden zu lassen, denn das würde einem Eingeständnis gleich kommen, einer Schreibblockade, die es mit allen Mitteln zu verhindern gilt. Drum tippe der Schriftsteller beim Eieraufschlagen, beim Nähen, beim Pornodreh, an allen Feiertagen tippe er, so auch am Sankt Nimmerleinstag, am Weltende, ja, man sollte ihn auch vor dem Jüngsten Gericht tippend erblicken.
Rohm unterbricht sich, singt: „Tipp, tipp, tipp …“, und verschwindet in der Küche, Nachschub für seinen Kaffeebecher holend. Er balanciert die Kanne, deren Aussehen in Paragraph 24 Absatz 9 der „Verordnungen des Schriftstellermorgens“ genau beschrieben ist und stellt sich vor, er würde über ein straff gespanntes Seil tippeln. (Auch wie und auf welche Art die Wohnung zu durchqueren ist, wurde in den Verordnungen dargelegt.)
Erschöpft plumpst er in seinen Stuhl. „Tipp, tipp, tipp …“ und tippt, niemand scheint etwas von seinem kleinen Betrug mitbekommen zu haben, eiligst weiter, auch wenn das, was auf dem Bildschirm erscheint, schon lange keinen Sinn mehr ergibt.

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22. Mai 2012, Augensonnenbaden, 16.58 Uhr

Die Hitze, bleischwer, liegt Rohm auf dem Kopf, nicht nur, denn sie ummantelt ihn auch, packt ihn ein, dies wiederum watteweich.
Wo denn all die Wärme herkommt?, würde er gerne fragen, bekommt aber den Mund, der mit Eis, Zigarettenfiltern und Kaffee gefüllt ist, nicht auf; unterlässt es also und blinzelt weiter direkt und ohne Unterlass in die Sonne, den Hinweis des zufällig anwesenden Optikers überhörend, derlei unvernünftiges Handeln könne einen gewissen mehr oder minder starken Grad von Blindheit zur Folge haben.
Pah!, ruft Rohm aus, fasziniert von den schwarzen Flecken, die seine Umgebung seitdem aufweist; eine quasi durchs Augensonnenbaden erbrachte Zensur des Alltäglichen.
Schnöde Unannehmlichkeiten werden aus dem Blickfeld geschnitten: leere Flaschen, Müllbeutel, allerlei eben, das unerledigt seiner arbeitsamen Hände harrte.
Die Welt ist nicht schöner, wohl aber ärmer und darum reiner geworden.

Rohms Tipp für Sommertage: Verstümmeln Sie Ihre Augen durch etwa dreistündiges unablässiges Starren in die Sonne.

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22. Mai 2012, Eine Frage alter Frauen, 6.12 Uhr

Rohm, Leser solch unbequemer Werke wie „Das Dritte Auge isst auch mit“, hat sich, so scheint es, aus dem professionellen Leserlager vollends verabschiedet. Vorbei die Zeiten, da er Lesewettbewerbe wie „Hessen liest“ oder „Habet Acht – Der Wachturm in den Zeiten der Gottlosigkeit“ linker Hand einsackte. Nichts will diesem abgebrühten Leser mehr gelingen, der in früheren Zeiten bereits vor dem Frühstück dreizehn Wildwestromane, vier Bibelausgaben (Die Luther-Bibel, Die Feminismus-Bibel, Die Controlling-Bibel und Die Backen-für-Anfänger-Bibel), dreihundert Berichte über ehemalige Skispringer sowie die Packungsbeilage seiner Lieblingsschmerztabletten verschlang, und dies ohne Murren und Klagen, sondern nur mit einem müden Lächeln.
Heute liest Rohm nicht mehr, höchstens noch Steine oder alte Frauen von der Straße, die ihn zeternd anfahren, er habe ihnen nicht unter die Achseln zu greifen, schließlich und vor allem endlich wollten sie hier ja liegen, das sei ihr gutes Recht, dafür und für eine billige Zahnzusatzversicherung hätten ihre Männer vor Jahren in den Führungsetagen der deutschen Wirtschaft gekämpft. Aber nun, sie schluchzen laut auf, sei ihnen nichts als die jährliche Rentenanpassung geblieben und selbst die bleibe manchmal aus. Was das denn für ein Leben sei?, fragen sie Rohm, der baff vor der Frage aller Fragen steht.
Rohm, um zum Kern dieses gewichtigen literarischen Beitrags vorzustoßen, liest nicht mehr, er lässt vielmehr lesen. Alle hält er dazu an. Kleine Kinder, Priester (die Reihenfolge scheint ihm unglücklich gewählt), Mitarbeiter eines hiesigen Unternehmens, das dafür bekannt wurde, Nachbildungen bekannter Unternehmenshauptsitze herzustellen, sie alle müssen, ruft er sie oder spricht er sie an, ihm ein Stück aus ihrer momentanen Lieblingslektüre vortragen. So erfährt Rohm viel, aber nichts, was ihm die Frage der alten Frauen beantworten würde.
Was ist das denn für ein Leben?
Eines, so denkt Rohm, das man nicht mit Lesen verschwenden sollte, mit dem Falten von Servietten, mit dem Reparieren von Lastenaufzügen, dem Glück der Anderen, dem Unglück der Anderen, Aktienpakten.
Drum ruft Rohm eines Aktion ins Leben, die mit dem Slogan wirbt: VERWEIGERT EUCH!
Da er sich aber auch dieser Lebensaufgabe verweigert, kommt ein erstes Treffen erst gar nicht zustande, auch Demonstrationen entfallen, ferner kommt es zu keinen Zwischenfällen auf der Bahnstrecke Fulda-Paris, Entführungen und geheime Absprachen bleiben aus.
Nichts geschieht. Zufrieden blickt Rohm auf sein Werk aus Luft.
Genug getan heute, sagt er sich und beschließt, sich auf den heimischen Diwan zwecks Lagebesprechung zurückzuziehen.
Es nicht leicht, kein Gott zu sein und trotzdem beständig wie einer zu handeln.

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21. Mai 2012, An den Rändern des Denkbaren, 19.28 Uhr

Besuch saß auf den Stühlen, die nun anklagend, einzig wie ein schnödes Möbelstück benutzt worden zu sein, vom Tisch abgerückt sind.
Schwestern und Nichten der Seraphe waren in Rohms Trutzburg und werkelten an einem Theaterstück, aufzuführen zu Geburtstagsehren einer Abwesenden. (Es wird darüber in einigen Tagen zu berichten sein.)
Damit man nicht auf die Idee kam, es würde sich bei Rohm um einen zuvorkommenden Gastgeber und liebevollen Partner seiner Angebeteten („Seraphe mein im Himmelbett, dein Leib komme über mich …“) handeln, trieb dieser sich an den Rändern der Wohnung herum, das Klo inspizierend, um bereits im nächsten Moment vom Balkon die Nachbarschaft zu beschimpfen.
Rauchend und sinnierend über den Unsinn weltlicher Gepflogenheiten, gebar Rohm sich als Genie, das in einem jeden Augenblick selbst für das Universum Augen und Ohren hatte, nur eben nicht für die Anwesenden, die sich ins Gespräch vertieft, nicht von Rohms Ausführungen über den rechten Gebrauch von Kondomen ablenken ließen, auch wenn die Schreie, die er den einzelnen Worten beigab, befremdlich wirkten.

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