18. Mai 2012, Ein Kriminalroman ohne Lösung, 18.56 Uhr

Seraphe geleitet Bücher, die sich in unserer Wohnung – diesem labyrinthartigen Gewächs – verlaufen haben, zu ihren Plätzen zurück; zu den Orten, die ihnen zugewiesen wurden, nachdem wir sie vor langer oder kurzer Zeit aus den Tiefen eines Wühltisches hinauf ans Licht eines Supermarkts zerrten, auf den Rücken noch die Nummern, die sie als Sklaven eines großunternehmerischen Wichtigtuers auswiesen, der nicht einmal wusste, dass es sie gab.
Sie trägt die verängstigten Taschenbücher, die verachtet und verspottet wurden, weil sie einst, gerissen von hier nach dort, Eselsohren zur Schau tragen mussten, an mir vorüber, mit einem sanften Lächeln und der Bitte, ich möge einige Worte finden, die ihren inzwischen durch ein zuvorkommendes Bügeleisen längst geglätteten Ohren schmeicheln.
Schön, will ich sagen, sage, ich rauche noch eine Zigarette, und bedauere es sofort und zutiefst, denn ein klägliches Schluchzen ruckelt durch meinen Kopf, ausgestoßen von einem heimatlosen Findling, den wir in einem Bus fanden, ausgesetzt von seiner Leihmutter, die ihn aus einer Bibliothek in Kapstadt führte, mit vielen Versprechungen, die zu halten, sie sich schon bald nicht mehr in der Lage sah, weil Kraft und Geld fehlten, dieser armen Seele ein Bücherbord zu bieten, das nicht nur aus den Brettern einer Apfelsinenkiste gezimmert war.
So gab sie den Krimi, dem die letzten Seiten und somit die Lösung fehlen, dem Sitz des Busses hin, der sich zwar redlich mühte, aber derart mit Hintern in Beschlag genommen war, dass er bald schon keine Zeit mehr fand, sich um den einsamen Burschen zu kümmern.
Jetzt lebt er bei uns.
Seraphe bettet ihn neben eine altertümliche Romanze, die verschnupft und kränklich, einem baldigen Ende im Altenheim DACHBODEN entgegen fiebert; eine Belastung für Seiten und Einband, die schließlich zu einer tatsächlichen Krankheit führten, die auch die Anwesenheit des jungen Kriminalromans ohne Lösung nicht mildern kann.
Dort liegen sie und warten, bis Seraphes oder meine Hand nach ihnen greifen werden, sie nehmend und ins grelle Licht der Deckenleuchte streckend und dem Ausruf auf den Lippen: Auf dich!, ja!, auf dich habe ich heute Lust!

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VERANSTALTUNGSHINWEIS

„Mountains of Disbelief“

Heute
19:00

Weißfrauen Diakoniekirche
Weserstraße Ecke Gutleutstraße
Frankfurt am Main

Raumgreifenden Installation des Künstlers Thomas Hartmann

Ausstellungseröffnung

Es sprechen: Thomas Kober, Kurator
Dr. J. Piveckova, Kunsthistorikerin

Gast: Gerald Domenig

Orgel: Michael Berg

Zuschauer: Guido Rohm

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So sieht das Ende also nicht aus

Ein Sturm. Hagel, der niederfährt. Die Faust Gottes. Quatsch. Die Fäuste Gottes. Unzählige. Schlagen ein. Prügeln. In die Scheibe. Krach. Ohrenbetäubend. Da soll das Wort ins Ziel kommen. Nichts zu machen. Wir sitzen im Wagen. Auf dem Rückweg, der zu einem Kampf gegen den Himmel wird, der sich entleert. Kotzende Engel. Wurfgeschosse, die ihr Ziel erreichen. Kann sie hören, Stimmen die zwischen den Wolken ertönen. „Auf sie!“ Rücklichter, die verschluckt werden. Die sich im Nichts einrichten. Die Welt läuft in die Kanalisation. Das Ende. So sieht es also nicht aus.

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15. Mai, Dienstag

Habe den ganzen Tag Mails an den Typen von „Isländische Krimis“ geschrieben, der mich eingeladen hat, etwas zum fünfmonatigen Bestehen ihrer Seite zu schreiben. Und jetzt? Ruhe? Was soll die Scheiße? Wollen die meine siebzehn Seiten etwa nicht veröffentlichen? Drohte mit einer ganzen Armee von Anwälten, wenn man meinen „Gefallen“ nicht bringen werde. Außerdem wüsste ich, wo der Besitzer der Seite wohnt, wie seine Kinder heißen und wer mit ihm befreundet ist. Die Sache mit dem jungen Geliebten behielt ich für mich. Man muss ja nicht gleich das ganze Pulver verschießen. Nur seltsam, dass niemand antwortet.
97 Mails sind auf keinen Fall übertrieben.

Einladung zu einer Lesung vor Studenten. Niemals. Nur über meine Leiche. Diese verfluchten Studenten würde mein Werk nicht zu schätzen wissen.
Um meine Absage auf die rechte Arte formulieren zu können, werde ich mal nachfragen, was sie mir anbieten. Ich denke nicht, dass ich vor halbnackten kreischenden blutjungen Frauen lesen möchte. (Schlaflose Nacht deshalb.)

Haarausfall. Ich muss meinen Haarausfall beobachten.

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14. Mai 2012, Der Hund ist hier, 18.11 Uhr

Nein, nein, nein. Der Hund wird nicht gefunden werden. Er ist fort. Die Nachbarn rufen. Schreien. Wir fassen uns an die Bäuche.
Seraphe versteht sich auf die Zubereitung von Zebras, Giraffen, Zwergen, Kundschaftern, Seiltänzern, Buchfinken. Aber eben auch auf die von Hunden.
Mit dem Messer ins Fleisch. Schneiden. Sägen. Anton. So hieß er. Und während sich draußen die Stimmen allmählich verlieren, sitzen wir am Tisch und kauen und schlucken und haben Tränen in den Augen, weil Anton, ja, weil Anton mehr als ein Hund war.
Ein Gedicht war er, ein Lied, eine Hymne, ein Roman über weite Felder, Flüsse, Pfannen. (Die Pfanne erlebte er nicht mehr, aber sie sollte unbedingt Teil dieses noch zu schreibenden Romans sein.)
Wir schleppen uns zum Sofa. Den Kopf betten. Die Bäuche schweben unter der Decke. Nicht reden. Nichts sagen. Ach, was könnte das Leben schön sein, wären da nicht die Rufe der Nachbarn: Anton, Anton, Anton!
Anton bellt ein letztes Mal aus meinem Mund. Dann schweigt er.

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Wo ist der Hund?

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14. Mai 2012, Wo ist der Hund?, 6.08 Uhr

Kann nicht mehr.
„Iss das!“
„Nein!“
„Die Geschichte?“
„Weg!“
Blutspuren quer durch das Restaurant. Alles ist erlegt worden. Der Bär, der Fahrer eines Wagens. Keine Mütter. Die standen auf der Liste.
„Liste?“
„Bedrohte Tiere.“
„Nenn Mütter nicht Tiere.“
„Wir sind alle Tiere.“
„Schlimmer. Wir sind schlimmer.“
„Stimmt. Wir gehen auf die documenta.“
Kaffee. Zigarette. Nur kein Essen mehr. Liegt alles schwer im Magen.
„Wo ist der Hund?“

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