Die Sammlerin

Es ist ja nichts Neues oder sonderlich Unanständiges, dass sich manche Frauen Gipsabdrücke der erigierten Schwänze ihrer verflossenen Liebhaber in die Wohnzimmervitrine stellen. Sorgfältig mit Hand beschriftete Namensschilder auf den Marmorsockeln verleihen den Penisbesitzern den Nimbus des Unvergänglichen, einer in Wirklichkeit nie erreichten Härte, und ließen schon so manchen ehemals Geliebten beim späteren gelegentlichen Kaffeeplausch in Rinkas Wohnzimmer wohlig und sehnsüchtig erschauern.
Bei Rinka, meiner alten unerfüllten Jugendliebe, waren diese Erinnerungsstücke noch auf unvergleichliche Weise aufgehübscht. Auf jedem der kalkweißen Teile prangten karmesinrote Abdrücke ihrer sinnlich halbgeöffneten Lippen, auf manchem nur einer, auf manchem zwei, aber nie mehr als vier, je nachdem, wie oft ihr der Sinn nach dem Verzehr gestanden hatte.
Die Penisse, etwa 80 an der Zahl, standen wie die Soldaten des Kaisers von China mit weichem Licht ausgeleuchtet in einem Glasschränkchen auf zwei Regalebenen; in der unteren Reihe die 16er und länger, oben die Kürzeren. Das waren allerdings nicht so viele, denn Rinka war anspruchsvoll und erkannte meist schon auf den ersten Blick, was gut in sie passte. Deshalb war auf dem oberen Regal noch ein Eckchen frei für ein paar ziemlich dicke, aber maximal 12er-Stumpen, die keine Lippenabdrücke aufwiesen. „Ach, so weit hab ich damals meinen Mund gar nicht aufgebracht“, erklärte mir Rinka einmal augenzwinkernd auf meine diesbezügliche Frage, „und auf das Andere hatt‘ ich dann schon gar keine Lust mehr.“ Jetzt, ja jetzt wäre das schon was Anderes, meinte sie neulich scherzhaft, da tät so ein Stumpen gelegentlich schon passen.
Dabei wusste sie doch genau, dass sie sich auch jetzt noch meiner bedienen könnte, ich war ja noch gar nicht in der Sammlung. „Ne ne, lass man stecken!“, winkte sie dann jedesmal ab, wenn sie meinen lustvollen Unruheblick bemerkte, „mit dir mag ich’s einfach nur platonisch, du bist so ein wunderbarer kluger Kopf.“ Na ja, klug war der vielleicht schon, aber halt nicht gerade besonders ansehnlich mit seiner schmalen, länglichen Schädelform.
So vergingen die Jahre zwischen uns geistreich plaudernd und kaffeetrinkend, und Rinkas Sammlung wuchs von Jahr zu Jahr langsamer, bis ich schließlich gar keine Neuzugänge mehr feststellen konnte. Wir sprachen zwar das Thema nicht an, aber ich sah in ihren Augen noch manchmal den Widerschein früherer Glut, wenn sie die Lesebrille abnahm und sich eine graue Strähne aus der Stirn strich.
Eines Abends, ich hatte ihr wie üblich einen seit unseren jugendlichen Bergsteigertagen so geliebten Strauß Edelweiß mitgebracht, bat sie mich mit einem verschmitzten Mädchenlächeln in die Küche. Es roch nicht wie sonst nach Kaffee, eher staubig, und Kerzen brannten in feierlicher Aufstellung auf dem Gewürzboard, dem Kühlschrank, dem Fenstersims und dem Küchentisch, in dessen Mitte ihre kostbare  Porzellanschüssel stand, fast bis zum Rand gefüllt mit einer grauen glibbrigen Masse.
Rinka führte mich heran, nahm mir mit einem zärtlich gehauchten „Hey Du!“ die Brille ab, drückte mich in einen Stuhl und begann behutsam, mit der Sorgfalt einer Frau, die weiß was sie will, meinen glatzköpfigen Langschädel mit Gipsbinden einzuwickeln.

wf

– auch im ebook „Von Küssen & Musen“

Eine Weihnachtsgeschichte

Als das Junkiegirl gegangen war, blickte Clement, immer noch nackt, ihr aus dem Fenster nach, bis sie um die Ecke bog. Er hatte ihr sein letztes Geld mitgegeben, ihr aber nicht gesagt, dass es das letzte Mal war. Es schneite noch immer.
Ein zufälliges, aber passendes Geschenk, dachte Clement, es wird den Effekt steigern. Die Reflexion der Schneedecke erhöhte die feierliche Wirkung der Straßen- und Weihnachtsbeleuchtung.
Clement las ein letztes Mal die ausgedruckte e-mail von „webmaster@lonelygays.net“ mit der Einladung zur Silvesterparty. Er lächelte über die Waschweibervertraulichkeit des Tonfalls. Vom Bildschirm grinste ihn Harrys Screensavermakellosigkeit an, als ob nichts geschehen wäre.
Er hätte Harry das Verhältnis mit dem Mädchen nicht gestehen dürfen und eine andere Erklärung für seinen positiven Befund erfinden müssen. Die Liebe hat ein Recht auf Lüge. Clement wußte, dass Harry ihm nie so recht vertraut und regelrecht darauf gewartet hatte, reale Gründe für seine Eifersucht zu finden.
Reue macht Fehler höchstens schlimmer, dachte Clement, als er in die offene Klappe des alten Holzofens auf die jetzt schnell verbrennende Mail starrte. Er fütterte das Feuer weiter mit Briefen und Dokumenten aus den neben dem Ofen gestapelten Ordnern, trank langsam eine zweite Flasche Chianti dazu und wunderte sich, dass er nicht nervöser war.
Er spürte eher ein wohliges Gefühl der Genugtuung bei der Vorstellung, wie morgen früh all die braven Kirchgänger seinen nackten Arsch und seinen Pimmel würden sehen können. Vielleicht käme er sogar mit einem Foto in die Zeitung, als weihnachtliche Wichsvorlage für schmuddelig-geile Bürgerträume.
Als die Ordner leer waren, kramte Clement noch die restlichen Beweise seiner Existenz aus den Schubladen. Kontoauszüge, Personalpapiere, ein paar Fotos – die Flammen schmeichelten ihm ihre freundliche Hilfestellung mit leisem Knistern.
Nachdem das letzte Dokument zu Asche geworden war, setzte sich Clement an den Rechner und überlegte kurz, ob er im Forum noch eine Nachricht hinterlassen sollte. Nein, die hatten kein Anrecht, sich in schlechtem Gewissen oder seichter Mitleidigkeit zu suhlen. Er war aus der Vergangenheit des realen Sein in die fiktive Cyberwelt eingetreten und würde sie in die Zukunft des realen Nichtsein wieder verlassen. Clement klickte auf das Programm zur Neuformatierung der Festplatte.

Im Schlafzimmer schüttelte Clement noch sein Bett auf, dass es wie unberührt erschien, zog den Bademantel an, den er mit einem langen Ledergürtel um seine Hüfte schnürte, nahm Harrys Weihnachtsgeschenk, eine rote Nikolausmütze, von der Garderobe und verließ barfuß das Haus.
Er hatte keinen weiten Weg in den Frühstunden dieses Feiertages, ging aufrecht und gemessenen Schritts an den weihnachtlich dekorierten Geschäftsauslagen vorbei, warf seinen Schlüsselbund durch die Ritzen eines Kanaldeckels, er fror nicht. Die elektrischen Kerzen des großen Christbaumes vor der Kirche waren noch eingeschaltet; er hatte es vermutet.
Clement hängte den Bademantel, vom Kircheneingang aus sichtbar, an einen der unteren Zweige und setzte sich die Mütze auf. Er hatte etwas Mühe, durch das auf seiner nackten Haut stachelnde Astwerk nach oben zu klettern und einen geeigneten Platz zu finden. Dann knotete er den Gürtel erst an einen festen, direkt ober ihm aus dem Stamm ragenden Ast und dann so genau und entschlossen, als bände er sich die Schnürsenkel, um seinen Hals und ließ sich fallen.
Ohne Absicht löste er dabei von den romantisch beflockten Zweigen eine kleine Schneelawine ab, die den Bademantel fast gänzlich bedeckte.

wf

– auch im ebook „Von Küssen & Musen“

Antiantianti

Als ich mich 1982 in Erich verliebte, hatte er schon die Absicht, die christlich-ontologische Katastrophe abzuwenden. Er war die kritische westliche Logik in Person und hielt alles, was mit Metaphysik und Spiritualität zu tun hatte, für „Quatsch“. Erich stand auf Kriegsfuß mit Gott, besonders mit dem christlichen, mit der Seele, mit den Ideen, mit dem Kantischen „Ding an sich“ und dem Schopenhauerschen Willen, der dem Seienden zugrunde liegen soll. Seelen, die von einem Körper in einen anderen wandern, auch nach dem Tod, waren ihm ebenfalls ein Gräuel.
Ich dagegen war dem Rationalismus noch nicht verfallen, kam aus der Provinz und verschlang die Platonischen Dialoge zusammen mit dem Eros, den ich damals für mich zu entdecken begann, als etwas Atemberaubendes, das mir dazu verhalf, die Welt mit neuen Augen zu sehen. „Eros ist an Jahren und Ehren der reichste Gott, er, der die Menschen edel und selig macht, im Leben und im Tode“, kann man in Platons „Symposion“ lesen.
Dieser Eros und Erich zusammen waren im Begriff mein Leben durcheinander zu wirbeln. Erich hatte einen heillosen Hang zur Besserwisserei, der durch kein Argument auf der Welt zu stoppen war. Das, was ich an der Universität über Philosophie gelernt hatte, zerpflückte Erich abends bei unseren endlosen Diskussionen im dichten Nebel unserer Zigaretten Stück um Stück bis nur noch ein Trümmerhaufen von inkonsistenten Behauptungen übrig blieb. Hegels System z.B. war für Erich widersprüchlich, weswegen sich alles aus ihm beweisen ließ, also auch die Existenz Gottes. Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten wurde unsere Poesie, und der Hegelsche Weltgeist trieb sein Unwesen mit uns, bis wir uns erschöpft in den Armen lagen, und Vater Schlaf uns schließlich übermannte, so dass es völlig egal war, wer Recht hatte.
Dann träumte ich davon, dass Erich mich für immer lieben würde und verzweifelt nach mir suchen würde, wenn wir uns später mal aus den Augen verlieren sollten, wie die zwei Hälften der platonischen Kugelmenschen. Ich war überzeugt davon, dass es nach ihm keinen Mann mehr für mich geben könnte, da mir sein Wissen und seine Bildung unendlich erschienen. Mit zwanzig glaubt man noch an die große Liebe. Ich liebte Erich auf eine Art, die jede Zeile Philosophie, die ich las, mit seinen Gedanken durchwob, so dass er ununterbrochen präsent war und es mir unmöglich wurde, auch nur eine Minute lang daran zu zweifeln, dass er der Mann war, der für mich vom Schicksal bestimmt worden war.

Eines Abends fragte ich Erich: „Warum hat Gott seinen Sohn nicht in der Retorte erzeugt? Wenn er schon allmächtig ist, dann hätte er auch diesen Anachronismus bewirken können und sich die Schmach eines feuchten Sexualaktes ersparen können. Oder er hätte bloß noch ein paar Jährchen warten müssen bis zu seiner Niederkunft nach der Erfindung des Retortenbabys. Ein Gott sollte sich nicht an Jungfrauen vergehen. Das macht im Nachhinein wirklich keinen guten Eindruck. Hat sich Gott eigentlich auch in die Erziehung seines einzigen Sohnes eingemischt? Offensichtlich verlief seine Entwicklung nicht so vorbildlich, sonst hätte Gott seinen Sohn sicherlich nicht mit dem Kreuz bestrafen müssen. Vielleicht hätte er mehr Freude an einem göttlichen Enkel gehabt, aber dieser christliche Gott scheint überhaupt keine Geduld gehabt zu haben. Und die Gene wie das Fremd-Gen, die er besonders hasst, hätte er auch eliminieren können.“
Erich antwortete mir folgendermaßen: „Nichts ist sexier als eine entgleiste Katholikin!“

Sabine Scholz

Published in: on November 26, 2007 at 1:16  Kommentar verfassen  
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Der Kuss der Muse

Erotische Geschichte aus der Midlife-Crisis
– eine motivisch-szenische Parodie


Anna war eigentlich keine Frau, die ein Model-Agent in seinen Katalog aufnehmen würde. Dazu war ihr Gesicht zu flächig, breit, ihre Nase zu groß und ihre Figur etwas zu barock.
Aber unter ihren langen, kastanienfarbenen Locken lag dieses dunkelgrüne Augenpaar, das mich in sie hineinzog wie einen erhitzten Bergsteiger der Labsal verheißende See am Wegrand.
Und ihr volllippiger Mund erregte meine Phantasien in unzähligen Nächten; sogar wenn, wie selten auch immer, ein anderes Weibchen in mein Bett geschlüpft war.
Am meisten erstaunt aber war ich über Annas Art, sich zu bewegen: Trotz ihrer erwähnten Fülle hatte ihr Gang die laszive Geschmeidigkeit einer Striptänzerin, ihre Arm- und Kopfbewegungen waren wie bei einer ausgeklügelten Choreographie fein aufeinander abgestimmt und zogen immer wieder meine Aufmerksamkeit wie ein seltenes Naturschauspiel an. Meine Faszination war ihr sicher nicht verborgen geblieben, auch wenn ich mir alle Mühe gab, sie nur durch den Vorhang der Verstohlenheit anzudeuten.

***

Während meines Musikstudiums in dieser Stadt hatte ich öfter in dem Lokal, das Anna zusammen mit ihrem damaligen Partner betrieb, am Klavier gesessen, um mir ein paar Mark zu verdienen. Mehrmals hatte ich dafür schon lukrativere Jobs abgelehnt. Was ich Anna natürlich nicht sagte.
Denn außer der geringen Gage profitierte ich viel mehr von der Inspiration, die Anna auf mein Spiel ausübte.
Mein Anschlag wurde sicher und weich, meine Improvisationen in sich rund, wenn ich ihren Blick spürte, ihren vorbeiwehenden Geruch oder, in seltenen Fällen, ihren Händedruck auf meiner Schulter fühlte.
Vor allem aber verdankte ich dieser Inspiration einige Kompositionen, die ich ihr auch an die Ohren schmeichelte.
„Ah, das ist aber hübsch! Kenn‘ ich ja gar nicht, wie heißt das denn?“, hatte sie mich öfter gefragt, worauf ich ihr zwar den jeweiligen Titel nannte, die geheime Ursprungs-Beziehung aber nicht.
Am besten schien ihr „These alluring eyes“ zu gefallen, das ich wegen der harmonischen Spannung und der klaren, eingängigen Melodiebögen für mein stärkstes Stück hielt. Auch wenn der Kitsch mit einer leisen Drohung am Gehörgang lauerte.

So verbrachte ich Monate in meiner ungestillten Begierde und feilte immer wieder an weiteren Feinheiten ihrer Stücke, um ihr damit, wenigstens heimlich, nahe zu sein und Liebesgaben zu erweisen.

***

Als meine Refendarzeit begann, wurde ich an zwei weiter entfernte Orte versetzt, und hatte danach das Glück, an einem musischen Gymnasium als Studienrat unterzukommen. Meine Vita schien sich in geordnetere Bahnen zu bewegen.
Ich war auch mehrmals in Versuchung, einen Familienstand zu gründen. Doch immer wieder fiel Annas Schatten über meine Versuche emotionaler Annäherung an eine der Frauen, die mich wegen meiner behenden Finger bewunderten und mir recht offensichtlich mit der Einräumung gewisser Chancen eine Komplettmöblierung anboten.

Ein paar unwichtige Bettgeschichten, Abende beim Italiener, Party-Smalltalk und kreative Arbeiten als Begleit- und Studiopianist verschiedener Jazz-Combos (in denen ich Annas Themen zum Gefallen der anderen Musiker einbringen konnte) sind mir aus diesen Jahren in Erinnerung geblieben.

***

Irgendwann hat mich der Zufallsgenerator des Lebens ausgerechnet wieder in die Stadt, in der Anna ihr Lokal betrieben hatte, verschlagen – als Co-Rektor des dortigen musischen Gymnasiums. Also bezog ich Wohnung und ganz vorsichtig wieder ein wenig Hoffnung – ließ doch meine Stellung, mein Junggesellendasein und meine Bereitschaft, mich Anna endlich zu offenbaren, ein Fünkchen Mut erglimmen.
Obwohl in meinen Gedanken längst wieder ganz bei Anna, mied ich doch wochenlang ihre Kneipe (gab’s die überhaupt noch?) oder ein Telefonat. Der Zustand von Unsicherheit und Vorfreude hielt mich öfter schlaflos, fügte aber dieser Zeit der Einarbeitung in einen neuen Lebensabschnitt eine wohltönende Note hinzu.

***

Eines Abends beschloss ich mit dem Mut mehrerer Cognacs im Hirn, Anna wiederzusehen, spielte mich warm auf der Tastatur, kleidete ich mich lässig wie vor vielen Jahren und schlenderte zu Anna’s Lokal. Mein Herz hüpfte bei jedem Schritt auf und ab, als ob es seine Arbeit auf diesem so lange gescheuten Weg für ein ganzes Menschenleben erledigen wollte.

Als ich vor der Tür des Lokals stand, über dem immer noch in Leuchtbuchstaben „ANNA’S“ flimmerte, spürte ich aufgrund der nachlassenden Wirkung des Cognacs diesen medizinisch noch ungeklärten, plötzlich auftretenden Druck in der Körpermitte und zögerte einen Moment, die einst und auch jetzt wieder so aufregende Messing-Türklinke zu drücken.
Das Problem erledigte sich aber von allein, als die Tür von zwei Gästen des Lokals von innen her aufgedrückt wurde, ich einen kleinen Rempler eines der beiden offensichtlich Angetrunkenen abbekam „Tschuldigung!“ und freien Blick ins Lokal hatte.
Anna stand mit einem Serviertablett an einem Tisch, smalltalkte wie eh, lachte und glitt dann genau wie vor vielen Jahren mit gleicher lasziver Lässigkeit in ihr Thekenreich zurück.
Ich betrat das Lokal, hatte nur wenige Blicke für die Gäste an den Tischen, wohl aber ein aufmerksames Ohr für die wunderbar melancholischen Töne, die ein junger Mann aus dem immer noch am selben Platz stehenden Klavier zauberte.
Ich musterte ihn im Vorübergehen, verstohlen, eben darum aber umso genauer und mir fiel sofort auf, dass die Sensibilität seines Spiels mit seiner Erscheinung übereinstimmte. Ein junger Farbiger, nicht zu dunkel, Mischling – und Schönling. Der Blues seiner Töne spiegelte sich in seinem Gesicht wieder, die zartgliedrigen Hände hätten bis auf die Farbe meine eigenen sein können, und seine Augen wanderten Anna immer wieder hinterher. Verdammt offensichtlich.

Mir schien, dass Anna die Jahre nichts angetan hätten – so genau entsprach ihre Erscheinung, ihr Gesicht, dem Bild meiner Erinnerung.
Sie erkannte mich, als ich an der Theke Platz nahm, nicht sofort, „Was hätten Sie gern?“. Doch das hatte ich auch nicht erwartet, da im Gegensatz zu ihr mich die Zeit äußerlich verändert hatte. Eine Brille war nötig geworden und die Grautönung meiner Haare wies auf die Überschreitung der statistischen Lebensmitte hin.
„Ein Pils, bitte!“
Und als sie es vor mich hinstellte: „Mein Gott, Harry! Dich gibt’s auch noch. Was machst’n jetzt, verdammt lang nicht geseh’n…“ und sie wies ihre Bedienung an, die nur halbvolle Kneipe vorübergehend allein zu schmeißen.

Anna und ich unterhielten uns über die Dinge, die uns beiden in den letzten Jahren so an die Köpfe und Herzen gestoßen waren – und bei alledem traute ich mich nicht, mit der Wahrheit herauszurücken, dass ich sie liebte und diese Musik damals für sie geschrieben hatte und dass ich eigentlich gekommen war, um ihr all das zu sagen und das GANZE DING mit ihr wollte…

Sie erzählte mir, dass sie in all den Jahren immer wieder Musikstudenten am Klavier hatte, von ihrem damaligen Partner längst getrennt lebe, bald mit der Kneipe aufhören wolle und zu einer griechischen Freundin, die früher im Lokal bedient hatte, auswandern werde.

Der junge Farbige am Klavier spielte wunderbar, er untermalte unser Gespräch mit seiner Lyrik, zauberte Standards in Vollendung und ließ es sich nicht nehmen, zweimal eine Komposition für Anna anzusagen.
Sie wandte beide Mal den Kopf zu ihm, lächelte ihn an und schien mir dabei so gelassen, wie nur eine Muse sein kann, die sich ihrer Wirkung auf den Künstler sicher ist.

Als der Pianist eine Pause machte, setzte er sich zu uns an die Theke. Anna stellte uns lächelnd einander vor. Er heiße André, stamme aus der Dominikanischen Republik, studiere am selben Konservatorium Musik wie ich damals und er wohne hier bei ihr.
Dann bat Anna mich, auch ein paar Takte zum Besten zu geben, „These alluring eyes“ wenigstens.
Ich war sehr überrascht, dass sie sich noch an den Titel erinnerte, freute mich aber über die Einladung und nahm nach einem kurzem Blick des Einverständnisnehmens mit André am Klavier Platz.
Eine Aufforderung aus Annas Bergseen zerriss den gordischen Knoten der jahrelangen Unaufrichtigkeit und bar jeder Nervosität, hörte ich mich selbst wie ein fremder Moderator zu den Gästen sagen:
„Hallo zusammen! Ich freue mich, nach vielen Jahren wieder mal an diesem Klavier zu sitzen und für Sie und Anna ein paar Stücke spielen zu dürfen, die ich vor langer Zeit für die Chefin des Hauses komponiert hatte.“
Endlich war es heraus, das Teufelsteil! – und während des kurzen Beifalls der wenigen noch verbliebenen Gäste entging mir nicht, dass Annass Gesicht sich in ein Relief verwandelt hatte und ihre Augen starr auf irgendeinen Punkt hinter mir an der Wand gerichtet waren.
Dann begann ich zu spielen, länger als eine halbe Stunde die Stücke für Anna, ineinander als Potpourri verwoben, und versank in sie, in meine Gefühlswelt, die sich aus ihrer Vergangenheit in das Jetzt übertrug.
Es gab freundlichen Applaus und Zugaberufe, worauf ich André mit ans Klavier bat, um noch einige Jazz-Standards vierhändig zu spielen. Wir hatten sofort die Übereinstimmung im Groove, lächelten uns öfter mal an und ich empfand Spaß beim Spiel wie seit Langem nicht mehr.
Danach hatten André und ich an der Theke Gelegenheit, um bei den von den Gästen spendierten Drinks über Musik und das Leben halt so oder haltlos zu quatschen.
Anna nahm zwischendurch den restlichen Gästen die Zeche ab und schloß hinter dem Letzten die Lokaltür.
Ob ich noch auf ein Glas, auf die alten Zeiten, mit nach oben kommen wolle, fragte Anna.
In ihrem über dem Lokal liegenden Wohnzimmer goss sie uns drei Gläser Wein ein und verschwand für einige Minuten ins Bad.
André und ich prosteten uns auf das gelungene Spiel zu „Let’s swing together again!“ und er lehnte sich lässig in seinen Sessel zurück, während ich noch etwas unruhig auf dem Sofa saß und den geschmackvoll, in fernöstlichem Stil gehaltenen Raum betrachtete.

Als Anna zurückkam, trug sie einen hellen Seiden-Kimono, setze sich neben mich, legte mir eine Hand auf meinen Schenkel und sagte, wie mir vorkam, mit leicht spöttischem Tonfall:
„Mark, ich wusste schon immer, dass du diese Stücke für mich geschrieben hattest. Aber ich habe immer darauf gewartet, dass du den Mut aufbringst, es mir zu sagen.“
Bevor ich eine, wahrscheinlich sehr verlegene und verworrene Antwort herausbringen konnte, küsste sie mich kurz auf den Mund und drückte mich sanft in Schräglage. Dann öffnete sie lässig meine Jeans und zog sie etwas nach unten, ihren Blick in meinen verhakt.
Sie begann, mein steifes Glied mit ihren Händen sanft zu massieren und umfasste es erst mit ihren warmen kräftigen Lippen, als André ihr den Kimono hochschob und mit einem sanften Rhythmus von hinten in sie eindrang. Ich schloss benommen die Augen und ließ mich in den Groove hineingleiten, den André durch Annas Körper und Lippen auf mich übertrug.

Nach einem zeitlosen Gleitflug begann Annas Körper sich wie eine Schlange zu winden, sie bäumte sich auf „Ja, ja, jetzt!“ und biss dann sanft in mein Glied. André und ich explodierten gleichzeitig.
Dann blieben wir, ineinander verknäult, lange wortlos liegen.
Ich genoss es, Annas warmen, weichen Körper an meinem zu spüren, die Sehnsucht all der Jahre erfüllt zu bekommen, bis Anna sich aus unser beider Umklammerung löste, mich, wie bei einem freundschaftlichen Abschied, auf die Wangen küsste und dann in ihr Schlafzimmer verschwand.

André und ich sahen uns einen Moment etwas verlegen an, dann lächelte er, prostete mir mit dem restlichen Schluck Wein zu „Good groove again!“ und folgte Anna in ihr Zimmer.
Etwas ratlos brachte ich meine Kleider in Ordnung, zog die CD mit Annas Stücken nebst Widmung aus der Jackentasche, legte sie auf den Tisch und bewegte mich wie in Trance zum nächsten Taxistand, da meine Knie zu weich waren, um den ganzen Heimweg mein immer noch vibrierendes Herz zu tragen.

***

In den folgenden Wochen lief ich wie auf einer Schmalspurbahn durch meine beruflichen Verpflichtungen, rein mechanisch, Gedanken nur bei Anna und André. Ich traute mich nicht in ihre Bar oder sie anzurufen – eine Mischung aus Glück, Scham und Hoffnung ließ mich ihren Anruf erwarten.
Doch nach bald zwei Monaten, nachdem sich meine Erwartungshaltung nicht erfüllte, kramte ich aus der Zauberkiste der Gefühle einen Rest Mut und ging in die Kneipe.

Über dem Eingang flimmerte „Piano-Bar“ und als ich das Lokal betrat, sah und hörte ich André am Klavier.
An der Theke wurde ich von einer jungen schwarzen Schönheit bedient, und als André mich sah, unterbrach er sein Spiel und setzte sich zu mir.
„Anna has gone to Greece!“, war seine lächelnde Begrüßung. Dann erzählte er mir, dass sie drei Tage nach unserem Zusammensein ihre Sachen gepackt habe und mit ihrem Kleinbus abgereist sei, um auf irgendeiner griechischen Insel eine Musikkneipe zu eröffnen. Er hätte weder Telefonnummer noch Adresse von ihr, wohl aber meine von Anna zurückgelassene CD.
Nachdem er mich noch aufgeklärt hatte, dass die kleine Schwarze seine Schwester und jetzt Pächterin des Lokals sei, setzten wir uns ans Klavier, warfen uns vierhändig den Blues zu und betranken uns danach fürchterlich.

***

Das liegt nun auch schon wieder über vier Jahre zurück, mit André bin ich immer noch gut befreundet, wir spielen auch öfter zusammen.
Seit kurzem bin ich mit einer Lehrerkollegin liiert, mit der ich mich gut verstehe. Vielleicht liebt sie mich sogar.
Aber jedes Jahr mache ich für drei Wochen allein Urlaub auf verschiedenen griechischen Inseln. Und davon gibt’s verdammt viele…

© wf/ Berliner Zimmer/ ZEITschrift No. 97 (Wien)
( Vassiliki – Oktober 1999)

– auch im ebook „Von Küssen & Musen“