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Hundertvierzehn | Interview
»Die auffällige Abwesenheit von Angst«

Im Nachlass des Schriftstellers und Arztes Hans Keilson fand sich ein Tagebuch von 1944 aus seiner Untertauchzeit in den Niederlanden. Die Literaturwissenschaftlerin Marita Keilson-Lauritz, Hans Keilsons zweite Ehefrau, hat das Tagebuch nun ediert und kommentiert. Ein Gespräch mit der Herausgeberin.

 
Hans Keilson

Hans Keilson wurde 1909 in Bad Freienwalde geboren. Sein Roman ›Das Leben geht weiter‹ erschien 1933 als letztes Debüt eines jüdischen Autors im S. Fischer Verlag. Hans Keilson verließ 1936 Deutschland und emigrierte in die Niederlande, wo er bis zu seinem Tod 2011 lebte. Wie kaum ein anderer Autor hat der Schriftsteller und Psychiater Hans Keilson die seelischen, politischen und kulturellen Folgen der NS-Zeit analysiert und sprachlich vergegenwärtigt; ein literarisches Engagement, das bis zuletzt anhielt. In großem Kontrast zu den lauten Wirren des Jahrhunderts stehen die geradezu leisen, manchmal komischen, immer aber zutiefst menschlichen Darstellungen seiner Figuren und ihrer existentiellen und geschichtlichen Erfahrung. Ein großer Dichter in seiner Prosa, ein hellsichtiger Analytiker in seiner Dichtung. 2005 erschien eine Werkausgabe in zwei Bänden bei S. Fischer. 2011 folgten seine Erinnerungen ›Da steht mein Haus‹.

Frau Keilson-Lauritz, ist Ihnen die Entscheidung schwergefallen, diese zum Teil intimen, in jedem Fall aber sehr persönlichen Aufzeichnungen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen?

Es hat mich natürlich einiges Nachdenken und auch ein paar schlaflose Nächte gekostet. Zu bedenken war einerseits die Frage, ob die Unverstelltheit, mit der Hans Keilson (»mein Mann« war er ja damals jedenfalls noch nicht) seine eigenen geheimsten Gedanken dem Papier anvertraut, wohl auf eine verstehende Leserschaft hoffen dürfe. Da hat mir der Zuspruch unserer Tochter mit ihrer uneingeschränkten Liebe zu ihrem Vater sehr geholfen. Er wird stärker, indem er seine Schwäche zeigt, meinte sie. Und das ist sicher wahr.

Zwei Seiten aus dem Tagebuch von Hans Keilson © Marita Keilson-LauritzAber es gab noch anderes zu bedenken: Konnte die Kritik an Dritten, zumal an genau den Menschen, die ihm das Überleben möglich machten, öffentlich gemacht werden? In diesem Dilemma habe ich mich für die Authentizität der Stunde entschieden, habe aber versucht, in der Einleitung die Situation plausibel und zugleich deutlich zu machen, dass diese Irritationen dem Basisgefühl der Dankbarkeit keinen Abbruch tun. In diesem Fall habe ich absichtlich die Verantwortung für die Textgestalt selbst übernommen (und also nicht zum Beispiel den Töchtern der Gastfamilie aufgebürdet).

Und schließlich war da die Verantwortung für das Öffentlich-Machen des emotionalen Dilemmas von Hans Keilson angesichts einerseits der Beziehung zu seiner späteren ersten Frau Gertrud und andererseits der in den Delfter Untertauchmonaten entstandenen Liebe zu der jungen niederländischen Jüdin Hanna Sanders, für die die dem Tagebuchtext in der Ausgabe nun beigefügten 46 Sonette in derselben Zeit geschrieben wurden. Die schließliche Entscheidung für Gertrud scheint mir die im Tagebuch sichtbaren Ambivalenzen ihr gegenüber aufzuwiegen. Zu der Entscheidung, die Liebesgeschichte mit Hanna, die zeitlebens zu seinen Geheimnissen gehört hatte, öffentlich zu machen und ihr, der wir die niederländische Übertragung der in Delft entstandenen ›Komödie in Moll‹ verdanken, damit ein posthumes Gedenkzeichen zu widmen, haben mich Hannas Kinder ermutigt.

Das Tagebuch entstand zwischen März und Dezember 1944 in Delft, wo Hans Keilson bei einer Familie untergetaucht war. Es handelt von der politischen und persönlichen Situation, von der Beziehung zu seiner Partnerin Gertrud und von der Liebe zu einer jungen Frau. Eigene Schreibvorhaben werden ebenso protokolliert wie seine Lektüre oder Auseinandersetzungen mit den Gastgebern. Welcher Aspekt hat Sie am meisten überrascht?

Es gibt eine Menge überraschende Aspekte in diesem Tagebuch. Da ist die intensive Beschäftigung mit Literatur, die mir freilich auch aus den Berichten über andere Verstecksituationen während der Besetzungszeit bekannt war: es gab ja auch einfach viel Zeit, die gefüllt werden musste. Eine andere Überraschung ist vielleicht die auffällige Abwesenheit von Angst. Der Satz »Wir sind vollgepumpt mit Angst« zielt ja nicht auf eigene Angst, sondern setzt sich von einer nicht nur die Bedrohungssituation kennzeichnenden Angstkultur ab. Die natürliche Parallele hierzu ist im Tagebuch die intensive Beschäftigung mit der Zukunft, ihren Möglichkeiten und Schwierigkeiten – wo man vielleicht viel mehr Konzentration auf das Hier und Heute von Verfolgung und Bedrohung erwarten würde.

Aber wenn ich recht überlege, lag die eigentliche Überraschung doch in der Intensität der Liebesgeschichte mit Hanna, und in dem Umstand, wie Hans Keilson von dieser Liebe schließlich Abschied genommen und sie ein für allemal im großen Buch des Vergessens – um den niederländischen Dichter Adriaan Roland Holst zu zitieren – beizusetzen. Und womöglich war schließlich die allergrößte Überraschung das Auffinden der Sonette, von denen wir alle keine Ahnung gehabt hatten.

In welcher Form fanden Sie den Text des Tagebuchs vor, und was war beim Edieren besonders zu beachten?

Das Tagebuch hat sich in seiner originalen handschriftlichen Form erhalten: ein selbstgeheftetes Heft im Folioformat, von dem die ersten 42 Seiten dicht beschrieben waren, meist mit blassblauer Tinte, eine Passage mit Bleistift, während einer Razzia in Delft (die übrigens Niederländern galt, die sich dem Arbeitseinsatz in Deutschland entzogen, und ihn aufgrund seiner angenommenen Identität als »Dr. van der Linden« betraf).

Schwierigkeiten bei der Transkription und der Textgestaltung für die Publikation machten vor allem die vielen Niederlandismen  im auf Deutsch geschriebenen Text. Sie erklären sich aus der  Verwandtschaft der beiden Sprachen und natürlich auch aus dem Umstand, dass er sich in Delft in einem ausschließlich niederländisch sprechenden Umfeld befand.

Ein Beispiel der Sprachvermischung, die dabei zustande kam, findet sich in einem der Sonette: dort ist vom »Grau« der Haare die Rede. Über das niederländische Äquivalent »grijs« ist daraus im Typoskript »Greis« geworden. In diesem Fall habe ich das sogar im Sonnet korrigiert, während wir dort die Niederlandismen absichtlich nicht einzudeutschen versucht haben. Insofern zeigen die Sonette etwas von dem Balancieren zwischen den Sprachen.

Außerdem haben wir die meist abgekürzten Namen im Text der besseren Lesbarkeit wegen ausgeschrieben. Ansonsten folgt der Text mit Ausnahme ganz weniger Unleserlichkeiten oder Unklarheiten dem Original.

Bei der ersten Lektüre des Tagebuchs fällt auf, dass sich Hans Keilson, obwohl er untergetaucht war, 1944 in den Niederlanden noch relativ frei bewegen konnte. Wie ist das zu erklären?

Dazu muss man wissen, dass er in Delft einen sehr gut gefälschten Personalausweis auf den Namen »Johannes Gerrit van der Linden« bekommen hatte, dessen Echtheit wohl auch darum schwer zu überprüfen war, weil ein Geburtsort in Niederländisch-Indien angegeben war. Dass das alles sowohl für ihn selbst als auch für seine Delfter Gastfamilie nicht ohne Risiko war, steht freilich wohl außer Frage.

Welchen Stellenwert haben die 46 Sonette, die im Anhang des Tagebuchs abgedruckt sind?

Die 46 Sonette, die sich der Liebe zu Hanna verdanken und von denen im Tagebuchtext immer wieder die Rede ist, sind eine Art Begleitmelodie zu dem Tagebuch. Und sie bedürfen bis zu einem gewissen Grade des Tagebuchtextes, um in ganzem Umfang verstanden zu werden. Insofern sind sie der lebende – leben Gedichte? – Beweis für die im Tagebuch vertretene These vom notwendigen Zusammenhang von Leben und Dichtung. Zugleich sind sie eine Ergänzung des Tagebuchs mit den Mitteln der Dichtung: Ohne die Sonette könnten wir die Intensität dieser Liebe nicht nachfühlen, auch nicht ihr Ausgesetztsein in Zeiten des Grauens. Aber auch nicht die aus diesem Erlebnis hervorgegangene Erkenntnis über die Ambivalenz von Gefühlen, und des Gefühls der Liebe zumal. Und ihrer Vergänglichkeit. Und ihrer uns überwältigenden Unheimlichkeit.

Zu Beginn Ihres Vorworts schreiben Sie, halb scherzhaft, dass Dichterwitwen aus Ihrer Sicht für die Rezeption eines Werks eher hinderlich seien. Wie kam es, dass Sie trotzdem die Herausgeberschaft dieses Tagebuchs übernommen haben?

Das ist eine gute Frage. Vielleicht weil ich das Gefühl hatte, dass ich diesen Text nicht ohne eine Art Hülle in die Welt entlassen dürfe? Der Tagebuchtext selbst ist ja gerade deshalb so eindrucksvoll und sowohl biographisch als auch historisch wichtig, weil er unverhüllt und nicht im Blick auf einen Leser zu Papier gebracht wurde. Insofern schien es mir wichtig, ihn vor Fehlinterpretationen und Missverständnissen zu schützen. Ob das gelungen ist, ist eine andere Frage.

Tagebuch 1944

Der Arzt und Schriftsteller Hans Keilson musste 1936 Deutschland verlassen und überlebte den Krieg in Holland, mit gefälschtem Pass und teilweise im Versteck. 1944 schrieb Hans Keilson Tagebuch. Er schildert die Erfahrung des Untertauchens und berichtet von der beängstigenden Entfremdung gegenüber Frau und Kind, einer heimlichen Liebe, von Gedichten und Lektüre, der Angst vor der Zukunft und der täglichen Bedrohung. Dieses Buch, das auch die 46 Sonette enthält, die Hans Keilson während der Niederschrift des Tagebuchs verfasst hat, ist ein persönliches Dokument ersten Ranges, aber auch ein außergewöhnliches historisches Zeugnis darüber, mit welcher Macht und Konsequenz das Klima von Verfolgung und Willkür auch die intimsten Bereiche der Existenz durchdringt.
Das ›Tagebuch 1944‹ wird von Marita Keilson-Lauritz aus dem Nachlass herausgegeben und kommentiert. Mit einem Nachwort von Heinrich Detering.

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Frankfurt am Main 2020
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