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Hundertvierzehn | Interview
Frauen.Leben.

Im Februar 2017 veranstaltete das Literaturhaus Niederösterreich in Krems eine »Personale« mit Marlene Streeruwitz. Die Literaturwissenschaftlerin Irina Hron sprach mit der Autorin über Frauenleben in der Literatur.

 
Marlene Streeruwitz

Marlene Streeruwitz, in Baden bei Wien geboren, studierte Slawistik und Kunstgeschichte und begann als Regisseurin und Autorin von Theaterstücken und Hörspielen. Für ihre Romane erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter zuletzt den Bremer Literaturpreis und den Franz-Nabl-Preis. Ihr Roman ›Die Schmerzmacherin.‹ stand 2011 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschienen die Romane ›Nachkommen.‹, ›Yseut.‹ und unter dem Pseudonym Nelia Fehn ›Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland.‹.
www.marlenestreeruwitz.at

© Julia Schwarzinger/Literaturhaus NÖ

Irina Hron

Irina Hron, geboren 1982 in Wien, ist Literaturwissenschaftlerin. 2012 Promotion im Fach Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München (Dr.phil.) und der Universitetet i Agder (Ph.D.) mit der Dissertation ›Hervorbringungen. Zur Poetik des Anfangens um 1900‹. Von 2011-2016 war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrende (DAAD-Lektorin) für Literaturwissenschaft am Institut für Germanistik der Universität Stockholm. Seit 2017 ist sie Postdoktorandin am Institut für Germanistik der Universität Stockholm mit einem Habilitationsprojekt zu Dynamiken der Nachbarschaft in deutschsprachigen Erzähltexten von der Moderne bis in die Gegenwart und Franz Werfel-Stipendiatin am Institut für Germanistik der Universität Wien.
 

Irina Hron: Der Titel und damit auch das Thema der gemeinsamen Veranstaltung in Krems vor wenigen Wochen lautete kurz und knapp Frauen.Leben. oder einfach: Frauenleben. Dieser Begriff des Frauenlebens ist natürlich keiner, den wir uns für diesen Abend ausgedacht hatten. Vielmehr ist es eine Wortfügung, die sich immer wieder in Ihren Texten finden lässt. Bereits in Ihrem ersten Roman ›Verführungen.‹ (1996) tauchen die ›Frauenjahre‹ schon im Untertitel auf, und auch die Literaturkritik greift mit Blick auf Ihr Werk immer wieder gerne darauf zurück. Warum wir uns dennoch oder erst recht dafür entschieden haben, liegt an einer prekären Traditionslinie, die es uns zum einen erlaubt, drei ausgewählte Romane (›Die Schmerzmacherin.‹ – ›Entfernung.‹ – ›Partygirl.‹) zueinander in Beziehung zu setzen. Vor allem aber geht es um einen geistesgeschichtlichen Spannungsbogen, der bis in die Gegenwart hineinreicht und an dem sich Ihr Werk in seiner ganzen Radikalität und Sprengkraft bricht – indem er mit einer immer noch ganz und gar nicht überholten Vorstellung eines klassischen Frauenlebens bricht. Die Rede ist von Adelbert von Chamissos Gedichtzyklus ›Frauen-Liebe und Leben‹ sowie von Robert Schumanns gleichnamiger berühmter Vertonung. Im Zentrum dieses Zyklus steht der Entwurf eines prototypischen Frauenlebens, das erst in dem Moment beginnt bzw. sichtbar wird, in dem es sich mit dem Leben eines Mannes verbindet. Frauenglück gibt es dieser Logik zufolge also ausschließlich für die aufopferungsvoll Liebende, die Ehefrau, die Mutter. Jenseits dieser Kategorien gibt es kein Frauenleben, zumindest keines, das eine Beschreibung wert wäre. Und eben das ist der Punkt, der wunde Punkt, an dem Ihre Romane an- und einsetzen. Unentwegt spüren sie diesen in die Unsichtbarkeit verbannten Frauenleben nach, spüren sie auf, um sie zur Sprache und damit in die Welt zu bringen. Dieses Großprojekt einer Schilderung von Frauenjahren und Frauenleben beginnt, zumindest was die Prosa angeht, mit Ihrem Romanerstling ›Verführungen‹. und scheint, wenn man Ihren zuletzt erschienenen Roman ›Yseut.‹ kennt, immer noch nicht abgeschlossen zu sein. Ist dieser Begriff für Sie im Jahr 2017 ebenso wichtig wie vor über zwanzig Jahren, als ›Verführungen.‹ publiziert wurde?

Marlene Streeruwitz: Die Geschichtsschreibung ist bis heute nicht um diesen Begriff erweitert worden. Weiterhin geht es um diese zweitausend Jahre alte geistesgeschichtliche Tradition, in der Leben als Männerleben gedacht wird. Diese Kultur ist bis heute im Grunde unbewusst selbstverständlich geblieben und nicht einmal oberflächlichst revidiert worden, so dass die Deutungsmacht auch über das, was nicht gewusst wird oder gewusst werden kann, in dieser kulturellen Tradition erhalten blieb. Meine Arbeit ist somit ein ständiges Anschreiben gegen dieses Nicht-vorhanden-Sein von Frauenleben, gegen die sich täglich wiederholende Auslöschung durch den Kanon. Diese Auslöschung geht immer weiter und gewinnt gerade wieder an Intensität durch die Entwertung von Frauen durch white male supremecy, wie wir sie in diesen Wochen erneut erleben. Es ist eine Spirale, die im Grunde an den Anfang meines Projekts zurückführt, in dem es darum geht, diese tausende Jahre Kulturgeschichte so nachzuholen, dass ein Frauenleben adäquat und gleichwertig dargestellt werden kann. Ich habe daran zu schreiben begonnen in dem Augenblick, als ich bei Stifter las: »Nach vier Jahren gebar sie ihm einen Sohn.« Das war für mich die Fanfare um zu fragen: ja und? Und?

Irina Hron: Am Anfang steht damit also die Irritation über eine kanonisierte Darstellungskonvention, von der Ihr eigenes Werk sich radikal abgrenzt.

Marlene Streeruwitz: Nicht nur abgrenzt, sondern von der es geradezu wegexplodiert. Die Frage ist doch, was ist in diesen vier Jahren geschehen, wie kommt das Kind zustande, wie  war die Geburt, was ist da passiert, was macht diese Frau durch, was für eine Frau ist sie, wie fühlt es sich an, ein Kind zu erwarten. Wie heißt diese Frau überhaupt. Dinge, die das Leben ausmachen, jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde. Die jedoch im Archiv der Deutungsmacht nicht vorkommen, wodurch ihnen der Logik dieser Macht folgend jegliche Berechtigung abgesprochen wird. Es entscheidet über Leben und Tod von der Deutungsmacht benannt zu werden – oder eben nicht.

Irina Hron: Einmal mehr geht es also um die Frage, wer darf wie worüber sprechen und nachdenken.

Marlene Streeruwitz: Da wären wir wieder bei den tausenden Jahren des geistesgeschichtlichen Kanons: Männerleben ist das beschrieben Beschreibbare, Frauenleben wurde  als das Nicht-Beschriebene zum Unbeschreibbaren. Wenn von der Sprachlosigkeit des Weiblichen gesprochen wird, dann klingt das immer so, als wären wir unfähig zur Sprache. Als wäre das unsere Schuld und ein Versagen. Es ist aber ganz einfach diese Auslassung von Frauenleben, die sich wiederum in die behauptete Naturhaftigkeit und Quasi-Natürlichkeit der Zweitrangigkeit des Frauenlebens einfügt. Daraus entsteht diese Leere und nicht aus einer Unfähigkeit heraus. Diese Leere ist das Sprechen der Macht, die durch das Nicht-Aufnehmen der Frauen in die Geschichte entsteht. Diese Lücke reproduziert sich selbst immer weiter, weshalb die Leerstelle auch immer eine Leerstelle bleibt. Es ist herzzerreißend, zuschauen zu müssen, wie die schwachen Versuche, etwas daran zu ändern, immer wieder von der großen Lücke überwuchert werden. Es ist eine Lücke, die wuchert. Und was für mich so beklemmend daran ist, als streng denkende Autorin, ist der Umstand, dass ich für die Beschreibung des Zustands und der Angelegenheiten von Frauen zu den schrecklichsten Metaphern greifen muss, weil es für die Beschreibung eines Frauenlebens keine entwickelte Sprache gibt. Keine Sprache, die dafür vorgesehen ist. Eine wuchernde Lücke würden wir normalerweise aus jedem Text herausstreichen. In diesem Fall ist es aber einfach die Realität. Eine Frauenrealität. Und es ist empörend, dass es 2017 immer noch so ist.

Irina Hron: Der Verlust oder die Aberkennung einer eigenen Sprache ist ein Thema, das Ihr Werk bereits von Beginn an prägt, seien es Ihre poetologischen Texte, die Theaterschauspiele und vor allem Ihre Prosa. Insbesondere die Konstellation von Täter und Opfer ist ein Verhältnis, das auf dem Gegensatz von Sprechen-Können und Nicht-sprechen-Dürfen beruht. In Ihrem 2011 erschienen Roman ›Die Schmerzmacherin.‹ geht es, wie bereits der Titel offenlegt, vielfach um das Zufügen, aber ebenso das Erleben von Schmerz. Und so wie die Lust ist auch der Schmerz etwas zunächst Vorsprachliches. Hier ist es der leidende Körper, der spricht oder gezwungen wird, sich mitzuteilen, indem er zuckt, krampft, sich aufbäumt. An welchem Punkt berühren sich Sprache und Körperlichkeit in Ihrem Roman?

Marlene Streeruwitz: In der Sprache des Körpers. Amys Weg in ›Die Schmerzmacherin.‹ ist ja ein Weg, der aus den Defiziten ihrer frühen Kindheit herausführt – hinein in einen Beruf. Im Grunde genommen ist das ein sehr männlicher Weg, eine Art Umkehr von früher Bedürftigkeit. Und ihre Ausbildung zur Sicherheitsagentin ist ja zudem eine männliche Berufsausbildung, die im Augenblick gerade wieder Hochsaison hat. Aus den bedrängenden Angstsituationen der frühen Kindheit wird in der Umkehrung eine sadistische Version. Amy legt sich diese sadistische Version zu, um damit die eigene Angst abzuwehren. Und in diesen Fällen bin ich als Autorin ja auch nicht um eine Sprache verlegen. Sadismus ist schließlich die Methode, mit der weibliches Sprechen erschlagen wird.

Irina Hron: Und Amy? Wie steht es um ihre Sprache, um ihr Sprechen-Können?

Marlene Streeruwitz: Immer wenn es um ihre Erziehung geht – denn ›Die Schmerzmacherin.‹ ist ja auch ein Erziehungsroman – dann folgt alles einem Erziehungsplan, ganz realistisch und in den Sprechkulturen gut aufgehoben. Schwierig wird es immer dann, wenn es um die Schilderung von Bindungen geht. Ein Beispiel sind die E-Mails an ihre Pflegemutter, die sie eine nach der anderen löscht. Amys Sehnsucht nach Geborgenheit wird durch das Sterben dieser Frau auf höchst prekäre Weise in Frage gestellt. Dabei geht die konventionelle Sprache verloren, muss gelöscht werden. Es gibt im Roman ein Kapitel, in dem Amy versucht, der kranken Pflegemutter eine E-Mail zu schreiben. Jeder Entwurf wird wieder gelöscht und am Ende steht dann da nur noch: »Ich bin hier gut aufgehoben. Love you.«. Kommunikation ist nicht mehr möglich. Amy muss schließlich klein beigeben, weil sie das, was sie zu sagen versucht, nicht sagen kann. Und damit sind alle Schilderungen der weiblichen Anteile der Geschichte nur in der zerbrochensten Sprache möglich. Sie weiß es ja nicht – und das ist dann wieder wie ein Sinnbild für das Ganze, dass sie nichts von alledem weiß. Weder von einer Vergewaltigung, noch von einer Sexszene weiß sie etwas, weil sie praktisch bewusstlos war. Bewusstlos gemacht, auch von sich selbst, indem sie sich in diesem Ausmaß betrunken hat. Die Tat bleibt als Leerstelle übrig. Und die Folgen davon, die trägt sie dann als Frau an ihrem Frauenkörper aus. Die Fehlgeburt, ihr Trauma. Es sind ganz verschiedene Ebenen, die sprachlich darzustellen sind, und die sie nach langer Aufarbeitung – Amy braucht Monate, bis sie das Geschehene bearbeitet hat – zu einer Geschichte für sie selbst zusammenwebt. Durch die Selbsterzählung ihrer eigenen Geschichte wird sie wieder handlungsfähig und schafft es, auch mit Hilfe ihrer wenigen aufrechten Beziehungen, sich einen Platz in der Welt zu erobern. Um dann, wahrscheinlich, ein Leben in Lebendigkeit leben zu können.

Irina Hron: Amys Geschichte ist ja auch ganz und gar eine Gegennarration zu Kleists Marquise von O., die ebenfalls in einer Ohnmacht empfängt, zu guter Letzt aber ihren Vergewaltiger ausfindig macht, ihn heiratet und sich damit höchst freiwillig selbst zurück ins System begibt.

Marlene Streeruwitz: Ganz im Gegensatz zu Amy, die ihren Täter verrät und dann die Leiche erntet. Mit ihren E-Mails setzt sie bewusst Dinge in Bewegung, die ausreichen, um die Paranoia der Sicherheitsindustrie anzukurbeln, die diesen Mann dann eliminiert. Es geht übrigens auch immer um Geld, viel Geld. Amy ist erst einmal das klassische weibliche Objekt, das aber dann nicht mehr mitspielt.

Irina Hron: Kehren wir nochmals zurück zu den weiblichen Anteilen, von denen Sie vorhin sprachen, zu der Verbindung von Schmerz und Sprache. Was ist nun dieser Schmerz? Ist er Zeichen von etwas, ein Symptom? Oder ist er bereits eine Reaktionsbildung und damit eine Form von Widerstand?

Marlene Streeruwitz: Ja, natürlich ist er Widerstand. Solange  Amy ihren Schmerz wissen kann, existiert sie. In dem Augenblick, in dem sie den Schmerz zu unterdrücken versuchte, wäre sie eingeordnet. 

Irina Hron: Kann der Schmerz somit vielleicht sogar etwas Rettendes sein, weil er sie aus der Normalität herauskatapultiert? Weil er nicht kontrollierbar und nicht optimierbar ist?

Marlene Streeruwitz: Doch, er ist sehr wohl optimierbar. Doch. Das ist genau das, was Amy lernen soll, es gibt eine Folteroptimierung. Aber Sie haben selbstverständlich recht. Schmerz ist das Privateste, was wir haben. Darin liegt das Subversive des Schmerzes. Folter ist die weitestgehende Kontrollmaßnahme, diese Privatheit zu regieren.

Irina Hron: Was sie lernen soll, wogegen ihr eigener Körper sich allerdings vehement zur Wehr setzt.

Marlene Streeruwitz: Ihr Unvermögen ist ihrer Rettung. Und der Schmerz ist immer Wahrnehmung, da bin ich ganz dem Phänomenologischen verpflichtet. Ich habe für meine Figuren aber keine Supermatrix wie für den klassischen männlichen Helden, von dem wir schon alles aus der langen Kulturgeschichte des Helden wissen. Eine Matrix, in der sich Figuren formelhaft geometrisch anordnen lassen, wodurch die ganze Reihe sichtbar ist. Das habe ich nicht und will ich nicht haben. Deshalb jeweils der persönliche Schmerz. Deshalb muss ich immer von neuem beginnen. Der Schmerz, wie er für jede von uns unerzählt am Anfang steht. Das ist der Gegenstand.

Irina Hron: Eine weitere Traditionslinie, mit der ›Die Schmerzmacherin.‹ bricht, ist jene der kränkelnden bzw. kranken Frau, wie sie beispielsweise in kanonischen Texten von Fontane oder Thomas Mann in Erscheinung treten. Zumeist ist es die junge Ehefrau, die sich durch ihr Krank-Sein versucht zu entziehen, aber dennoch immer im Bannkreis des männlichen Blicks bleibt.

Marlene Streeruwitz: Ganz richtig. Amy ist kein Gefäß für den Schmerz, sie ist selbst der Schmerz. Es ist ihr Schmerz, sie ist an keiner Stelle ein Gefäß, wie diese Frauen des Kanons es sein müssen, weil sie aus dem Kanon heraus gesehen werden. Das ist dann auch ganz einfach die Realität, wie Frauen und alle anderen unbeschriebenen Geschlechter leben müssen, ohne im Archiv aufzuscheinen. Es ist ein bisschen so, als hätten die zweitrangig gedachten Geschlechter keinen Pass bekommen und können daher auch nicht aufgefunden werden. Was wiederum auf den bürokratischen Charakter dieses kulturellen Kanons verweist.

Irina Hron: Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die immer wiederkehrenden Märchen- und Mythenelemente, die sich wie »Spurenelemente« in vielen Ihrer Texte finden lassen? In der ›Schmerzmacherin.‹ sind es die Jungfrauen und Prinzessinnen, die frauenfressenden Drachen und opfernden Priester. Warum dieses wiederholte Zurückgreifen auf ein archetypisches Figurenarsenal, mit dessen Hilfe wir bereits unseren Kindern beibringen, wie Gewalt und Bedrohung funktioniert?

Marlene Streeruwitz: Auf diese Weise werden die Gewaltanteile symbolisiert, das heißt, Gregrory sagt Amy während des gemeinsamen Restaurantbesuchs im Savoy Grill einfach die Wahrheit. Märchen sind nichts anderes als eine Form von dringlicher Wahrheit, exemplarischer Wahrheit, verschlüsselter Wahrheit. Gregrory sagt ihr, was los ist. Er sagt ihr, dass er der Priester ist, der die Jungfrau entjungfert hat, und dass der Drache sie nicht intakt bekommt und deshalb hungrig bleiben muss. Der Drache symbolisiert die Gewalt der Herrschenden, den Hunger der Macht nach Gewalt, der von den Priestern künstlich aufrechterhalten wird – und außerdem verdienen sie auch noch daran. Das ist der Kreislauf, in dem sich die ganze Angelegenheit befindet, wahrscheinlich seit ewigen Zeiten. Es ist heute nicht anders, daran hat die Moderne nichts geändert. Die Priester sind bloß gesichtsloser geworden und die Drachen unbekannter oder nur einfach das Geld an sich. Und am Schluss liegt Gregory dann wie ein Priester aufgebahrt da. Kulturell betrachtet ist er natürlich eine Jesusfigur. Der aufgebahrte Held ist in unserer kulturellen Mythologie immer Jesus. Tatsächlich wird er von den eigenen Leuten getötet. Aber das ist ja immer das Risiko, dass die Konstellationen sich ändern und das, was gestern richtig war, plötzlich als Fehler gilt. Das ist das Risiko eines professionellen Gewalttäters, der einen Konzern für Gewalt aufbaut und Gewalt verkauft. Das fand ich ja auch das Interessante an der Konstellation dieser privaten Sicherheitsindustrie, die plötzlich Gewalt als Produkt verkauft, und nicht als nationale Notwendigkeit. Gewalt ist damit nicht länger etwas, das aus dem Volkskörper kommen muss oder Monopol des demokratischen Staates ist, sondern ein Produkt. Die Frage ist dann übrigens auch, wie sich Männlichkeit dadurch verändert, wenn sie sich nicht mehr von einer kollektiven Notwendigkeit geführt sehen kann. Darum geht es in diesem Buch. Um die Sicherheitsindustrie als eine industrialisierte Form von Gewalttätigkeit. – Und es beginnt ja auch alles damit, dass Amy ihren Körper mit Alkohol anfüllt, um die Entfremdung ihres Arbeitsplatzes auszuhalten. Sie trinkt diesen Wodka und hat das Gefühl, einen See in sich zu haben, den sie spüren kann. Und am Ende sitzt sie dann in ihrem Auto und fährt an genau derselben Stelle los, an der sie zu Beginn den Wodka in sich hineingeschüttet hat. Die Kreisbewegung ist damit vollkommen und das Körpergefühl von dieser kalten, wackelnden Oberfläche in ihrem Bauch hat sich in einen silbernen Faden verwandelt, an dem sie schlussendlich davongehen kann. Das ist eigentlich ganz schön.

Irina Hron: Ganz ähnlich also der Spur aus kleinen weißen Steinen, die Hänsel und Gretel – die ja am Ende des Romans nochmals auftauchen – aus dem Wald hinaus führt. Fast wie im Märchen.

Marlene Streeruwitz: Aber das Leben ist ein Märchen, natürlich.

Irina Hron: Sie haben einmal in einem auf Englisch publizierten Interview folgenden Satz formuliert: »Language is like skin.« Sprache ist wie Haut – womit ein weiteres Mal der Konnex von Sprachlichkeit und Körperlichkeit hergestellt wird. Welche Vorstellungen eines Körpers treffen in ›Die Schmerzmacherin.‹ aufeinander? Ist es tatsächlich vor allem der quälbare und tötbare Körper? Der kranke, verletze und verletzbare Körper? Und, eine Abart davon, der trainierbare und zurichtbare Körper? Was ist mit dem begehrenden weiblichen Körper, der in Ihrem letzten Roman Yseut. eine so wesentliche Rolle spielt? Ist Amy frei von Begehren?

Marlene Streeruwitz: Die Sprache ist unser Körper. Ich halte den Versuch, sich im Körper die eigene Geschichte erzählen zu können, für Begehren genug.

Irina Hron: Aber es gibt kein Liebesobjekt, keinen Mann oder keine Frau, kein Gegenüber, das sie begehrt.

Marlene Streeruwitz: Da gibt es nun einfach mal nichts. Auch das ist ja so ein Missverständnis, dass das alles immer und jederzeit da sein muss. Niemand lebt das. Amy ist in einer schwierigen beruflichen Situation, da gibt es nichts anderes. Das ist die Verwirtschaftlichung des Lebens, die den Körper vollkommen in Anspruch nimmt, und das ist darzustellen und nicht eine Lüge von Liebesmöglichkeiten, die keiner und keine mehr kennt. Sie befindet sich am Beginn einer militaristischen Ausbildung. Ihr Körper ist voll und ganz von dem beansprucht, was ihr rund um die Uhr abgefordert wird. Es wird ihr doch so viel abverlangt: sie soll richtig sitzen, richtig essen, die richtigen Antworten geben. Sie soll zur Verfügung sein. Und natürlich hat sie auch eine leichte und für sie rettende Verhaltensstörung, das lässt sich nicht restlos auflösen.

Irina Hron: Dieses Moment der Unauflösbarkeit spielt auch eine entscheidende Rolle für die, wie ich finde, reichlich enigmatische Schlussszene eines weiteren Romans, nämlich die Schlusspassage Ihres 2006 publizierten Buches ›Entfernung.‹ Darin begegnet uns ein halbnackter, schwarzer Mann mit einem rätselhaften Stein in der Hand. Als Leser und Leserinnen müssen wir beim Lesen dieses Kapitels aushalten, dass hier etwas vor sich geht, das wir weder klar und unmissverständlich benennen noch begreifen können: Ist es eine Performance, ist es Kunst, ist es ein Traum (»nightmare«)? Und ebenso wie Selma versucht, diesem Stein eine Bedeutung zu entlocken, versuchen wir beim Lesen, der ganzen Szene eine Bedeutung abzuringen: Was will der Mann? Was ist ihm widerfahren? Was ist das für ein Stein? Doch das einzige, was übrigbleibt, ist eine Geste – das Hochhalten dieses Steins. Eine Geste also, und damit etwas Sprachloses, etwas Außersprachliches.

Marlene Streeruwitz: Genau deswegen, um sich zu entziehen. Dazu kann ich im Grunde nicht viel sagen, außer dass die Szene dahin gehört hat. Diesen Mann gab es, den habe ich gesehen. Ich habe natürlich nicht mit ihm kommuniziert, aber genau diese Form eines Auftritts, die gab es. Es wird zehn, fünfzehn Jahre her sein, da gab es in London eine Einwanderungswelle, im Zuge derer zum Beispiel ein anatolischer Bauer, der noch nie in seinem Leben einen Traktor gesehen hatte, sich plötzlich in London wiederfand, weil der Familiennachzug gerade von der EU her gegriffen hatte. Alle möglichen Personen sind auf diese Weise in dieses psychotische Universum geraten, und man kann sich fragen: waren sie es, die  psychotisch waren, oder war es die Welt. Es gab damals viele solche Fälle. Ich habe einiges darüber erfahren, weil eine Bekannte damals in Maudsley, einem psychiatrischen Krankenhaus in London, gearbeitet hat, in dem diese Menschen dann gelandet sind. Dadurch hatte ich Zugang zu diesen Informationen. Den Mann aber, den habe ich gesehen, bin aber weitergegangen, und manche der Reaktionen von Lesern und Leserinnen weisen darauf hin, dass die meisten von uns vorbeigegangen wären. Die Szene ist deshalb auch so etwas wie eine Wiedergutmachung. Eine Wiedergutmachung dafür, dass ich ihn damals nicht an der Hand genommen habe. Die Leute haben sich zunächst über ihn lustig gemacht, aber ab einem bestimmten Punkt ging auch das nicht mehr. Alle wurden sehr betreten und geniert. Dieser Mann hat nicht gesprochen, nur gestikuliert und war ganz offenkundig schwer verwirrt. Schlussendlich wurde die Polizei geholt, um die Sache in Ordnung zu bringen. Da finde ich meine Lösung erfreulicher. Es war eine winzige Szene, aber sie ist mir in Erinnerung geblieben.

Irina Hron: Und was verbindet Selma mit diesem ihr völlig unbekannten Mann?

Marlene Streeruwitz: Die Traumatisierung. Selma ist in diesem Moment selbst schwer traumatisiert. Trauma bedeutet doch, dass alles durcheinander kommt und dass die Person nicht mehr diejenige Person ist, die sie vorher war. Sie ist plötzlich jemand anderer. Und die wesentliche Frage ist, ob sie jemals wieder halbwegs zur der Person werden kann, die sie vorher war – oder eben nicht. Das ist das Entscheidende bei einer Traumatisierung, ob der oder die Traumatisierte wieder zurück kann oder nicht und im Danach leben muss. Doch an diesem Punkt ist Selma noch längst nicht. Sie treibt frei im Weltall umher, deshalb ist das Schlussbild mit den Sternen auch ganz folgerichtig. Davor ist sie eine gepflegte Person, die unglaublich darauf achtet, was die anderen von ihr denken. Und plötzlich ist das alles ganz gleichgültig und es geht nur noch darum zu gehen. Wegzugehen. Wegzukommen. Da wird etwas sichtbar. Und was das ist, das wird wohl für jede lesende Person etwas anderes sein. Dieser Schluss hat viel Unbehagen ausgelöst. Wie sich das für Literatur gehört.

Irina Hron: Tatsächlich wird in dem Roman ja in einem fort gelaufen, sehr oft auch weggelaufen. Und zwar sowohl in der Bedeutung von gehen, aber auch im Sinne von rennen, davonrennen. Und jedes Davonlaufen ist ja auch immer schon eine Art des Wettlaufs: Wer läuft schneller? Wer holt wen ein? Hat dieses Durch-London-Laufen, allein oder zu zweit, möglicherweise auch ein darwinistisches oder sozialdarwinistisches Moment im Sinne eines Laufs ums Überleben – durch das globalisierte London?

Marlene Streeruwitz: Ja, das ist sicher richtig, in London kann man sehr viel gehen, ja. Dieses Endlose, immer gleiche, riesige Zentrum, in dem sich immer etwas bewegt. Das stimmt sicherlich. Und natürlich ist sie, seit sie aus der Wohnung hinausgeflogen ist, auf der Flucht und läuft um ihr Überleben. Seitdem die Ungarin in ihrer Wohnung sitzt und das Schloss ausgetauscht ist. – Außer in der Nacht, da ist alles anders. In der Nacht ist alles statisch. Da sitzt sie Modell, sitzt im Kino. Die Nacht ist deutlich anders, und das ist ja auch typisch für eine Theaterfrau. Die Nacht ist immer anders. Eine kulturelle Träumerei halt.

Irina Hron: Vielleicht hat man auch deshalb beim Lesen den Eindruck, dass Selma trotz allem, was ihr zustößt, nie zur Gänze schutzlos ist. Sie haben einmal in einem Interview einen schönen Satz über den finnischen Regisseur Aki Kaurismäki gesagt, nämlich dass er so etwas wie eine liebevolle, zwischen Lachen und Weinen schwingende Situationskomik herstellt, ohne je eine Person zu verraten. Können Sie der Vermutung etwas abgewinnen, dass auch die Figuren in Ihren Romanen, zumindest gewisse Figuren, ebenfalls nie verraten, nicht preisgegeben werden?

Marlene Streeruwitz: Das ist sehr schwierig zu formulieren. Das, was Kaurismäki mit der Kamera macht, indem er die Person umhüllt, ist so etwas wie die Einhaltung der Menschenrechte jeweils für  diese eine Figur. Und eigentlich entscheidet sich für mich an dieser Perspektive die Frage, gehört es zum alten Kanon mitsamt seiner Menschenverachtung, oder ist es ein einzelner und nur einzeln möglicher Versuch, zu leben. Im Grunde geht es um das Recht zu leben, das allen in dieser Welt zuzugestehen ist. Genau das ist Solidarität und damit Lebendig-Sein.

Irina Hron: Das ist doch auch das, was Selma tut, wenn sie den verwirrten »wilden Mann« auf der Straße an der Hand nimmt. Sie tut es ja nicht, weil sie irgendeine schematische Vorstellung von der einen guten Tat am Tag im Kopf hat, sondern sie tut es, weil der andere ein Mensch ist, und weil das, was da gerade passiert, nicht geht, einfach nicht geht.

Marlene Streeruwitz: Aber sie ist ja genauso entzivilisiert, das heißt sie ist genauso eine Wilde wie er ein Wilder ist. Im Grunde genommen ist sie damit der Moderne und ihrer kulturellen Westlichkeit entkommen. Ihre Tat ist Gastfreundschaft als eine anthropologische Invariante. Es ist das, was die Welt bis heute am Leben erhalten hat. Es muss Gastfreundschaft geben auf der Welt, denn diese gehört ja niemandem und ist daher zu teilen. Das ist basale Gesellschaftlichkeit oder Sozietät, wie Sie das halt nennen möchten.

Irina Hron: Sozietät ist das Stichwort, das uns nun zu einem weiteren Ihrer Romane bringt, nämlich zu ›Partygirl.‹ von 2002. Es gibt darin eine höchst intrikate Passage, in der es zunächst um eine gänzlich andere Art des Sozialverbandes geht, nämlich um die Gemeinschaftsform der Bienen. Bei den Bienen entscheidet – so wird es in Ihrem Buch beschrieben – die Nahrung, was aus dem Einzelnen wird. Welche Nahrung der Einzelne erhält, entscheiden wiederum die Pflegerinnen – und damit ist das ganze Leben entschieden. Wie ist es hier um die Analogie zwischen einem Bienenleben und einem Frauenleben bestellt?

Marlene Streeruwitz: Ich würde sagen, das lässt sich klar unterteilen in zwei Lebensformen: Für das Frauenleben interessiert sich niemand, deshalb bleibt es auch der Pflegerin überlassen. Für das Männerleben interessiert sich die Gesellschaft, und deshalb gibt es da noch einen zusätzlichen Input und es ist nicht gleich von Anfang an entschieden. Und der Volkskörper der Bienen ist doch das, was der völkische Nationalstaat so gerne sein würde, nämlich Eindeutigkeit in der Zuweisung. Dazu gibt es heute wieder die entsprechenden politischen Parteien, die die Rückkehr in den aggressiv-männlichen Kanon der Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts betreiben. Mit allen Folgen für das Frauenleben.

Irina Hron: Und damit das Gegenteil von Unordnung. Absolute Kategorien und keinerlei Ambiguität.

Marlene Streeruwitz: Genau. Alles ganz eindeutig, denn alles andere macht ja Angst. Und die Bienenkönigin ist wie die eine HerrscherIn in der österreichischen Monarchie. Ein System, das ganz aus sich selbst heraus entsteht: Gott hat es so gewollt. Da gibt es dann auch keine Fragen mehr, da ist die Sprache zu Ende. Es braucht nichts mehr besprochen zu werden. Sprache ist auf eine wüste Art überwunden. Da aber auch für die Männer.

Irina Hron: Ist das nicht auch in gewissem Sinne das Gegenteil zu der sprachlosen Geste, von der wir vorhin sprachen, am Schluss von ›Entfernung.‹?

Marlene Streeruwitz: Ja, es ist das genaue Gegenteil. Das ist eben doch eine Sprache und der Stein ist ein Zeichen. Es gibt ein Zeichen, mit dem trotz der Unmöglichkeit der Verständigung eine Sprache erzeugt wird, die auch verstanden werden kann. Es ist Mitteilung. Nicht Kategorie, nicht Herrschaftskaskade.

Irina Hron: Und jedem bzw. jeder Anwesenden, der bzw. die diese Geste sieht, ist die Möglichkeit gegeben, sie selbst zu deuten und damit ein eigenes Verständnis und ein eigenes Begreifen zu entwickeln.

Marlene Streeruwitz: Eine eigene Vokabel daraus zu machen, ja. Wir wissen doch, dass ein halbwegs autonomes Leben heute nur noch in der Form des Künstlers oder der Künstlerin möglich ist.  Ich bin übrigens in der taz für diese Szene des Rassismus bezichtigt worden. Das fand ich schon sehr gezwungen. Aber im Rahmen des fünftausendjährigen Kanons lässt sich so eine Szene eben nicht mehr so leicht entschlüsseln, weil alles schon so besetzt ist. Eine freie Assoziation, wie sie hier notwendig wäre, gibt es dann nicht mehr.

Irina Hron: Nochmal zurück zu ›Partygirl.‹ Ich würde gerne über die darin entworfenen Vorstellungen von Zeitlichkeit sprechen. In diesem Roman wird ein Frauenleben, das Leben der Madeline Ascher – rückwärts erzählt: Durch die Anordnung der Kapitel begegnen wir zunächst der 60-jährigen Madeline in Chicago und folgen ihr, die immer jünger wird, nach Havanna, Kreta, Santa Barbara, Berlin und Wien. Bis sich schließlich hinter der 10-jährigen Schülerin in Baden der Buchdeckel endgültig schließt. Was macht das mit der Erzählung von einem Frauenleben, wenn sich der Zeitpfeil umkehrt? Wenn die Frau, anstatt zu altern, immer jünger wird?

Marlene Streeruwitz: Diese Anordnung untergräbt die Sicht auf ein Frauenleben als steten Abstieg ins entwertete Altern. Wir begreifen dadurch, dass jeder Augenblick eines Frauenlebens gleich wichtig ist. Das wird in der Umkehrung sehr viel deutlicher, als wenn wir es in einer Konsekutivfolge präsentiert bekämen. Was mich daran auch interessiert hat, ist der Umstand, dass es so viele Aspekte sind, die in dieser einen Person Madeline aufgehoben sind, in den verschiedenen Lebensabschnitten. Das ist auch das, was ich an Yseut so spannend finde. Dass diese langen Leben, die wir leben, immer nur Passagen sind. Eine Passage folgt auf die andere und dadurch gibt es nicht diese Vorstellung, wie sie der bürgerliche Roman und im Übrigen auch die bürgerliche Biographie hat, nämlich dass die Figur bis zu einem bestimmten Punkt eine Entwicklung durchmacht und dann festgelegt ist. Das ist vor allem für Frauenbiographien nicht so, weil es ja die von außen an sie herangetragenen Veränderungen sind, die eine andere Person aus ihr machen wegen der zwei Falten auf der Stirn. Da mag sie sich innerlich wie vierzehn fühlen, das hilft ihr überhaupt nichts. Und diese Spannungen zwischen innen und außen, die sind zu untersuchen. Bei ›Yseut.‹ war es das Vergnügen daran, bei ›Partygirl.‹ war es zunächst einmal das Erstaunen. Das Erstaunen darüber, dass diese einerseits eingeschränkte und andererseits wieder sehr potente Figur immer wieder eine ganz andere ist, obwohl sie immer dieselbe bleibt. Und so können wir sagen: Ein Frauenleben ist zumindest auch sehr interessant. Und es ist eben nicht so, dass sie nach vier Jahren einen Sohn gebiert und dazwischen nicht existiert und nur einmal kurz als Subjekt in einem Satz auftaucht. Sondern dass es ein Abenteuer ist, aufregend und schön und gefährlich, eine Frau zu sein.

Irina Hron: Also auch dieser eigentlich ein Abenteuerroman.

Marlene Streeruwitz: Auch dieser ein Abenteuerroman. Madeline führt nun einmal dieses Illustriertenleben, und ich bin ja damals konfrontiert gewesen mit der Moral, dass man gar nicht leben kann, wenn nicht gearbeitet wird. Und so fand ich es sehr subversiv, eine Frauenfigur zu erfinden, die nicht arbeitet. Außer dann am Schluss, wenn sie es wirklich muss, aber das tut sie sicherlich auch sehr elegant. Und ähnlich wie die Vorschrift des Kinderbekommens, fand ich den Bruch mit der Vorschrift zu arbeiten als Untersuchung für mich offenkundig notwendig. Freiheit der Entscheidung kann es doch nur geben, wenn es alle Möglichkeiten gibt. Und eben auch die Möglichkeit, nicht zu arbeiten und nicht Kinder zu bekommen. Übrigens das Gegenteil von dem,  was wir in der Frauenbewegung so fetischisiert haben: den Job. Dass es den eben nicht notwendigerweise geben muss und dass die Konzentration auf sich selbst und im Fall von Madeline das Triebschicksal mit dem Bruder, dass das auch reicht. Dass das Leben dadurch nicht weniger wert ist. Das war für mich sehr ertragreich. Das war gegen die Bigotterie einer Welt gerichtet, die so gut weiß, wie Frauen leben sollen.

Irina Hron: In welchem Moment ist Ihre Madeline Ascher entstanden, die natürlich eine sehr ungleiche Schwester von E.A. Poes Madeline Usher ist?

Marlene Streeruwitz: Poes Madeline ist eine Schattenfigur, darum geht es ja auch. Ich habe einmal in Chicago im Rahmen eines Theaterprojekts mit Studierenden ›The Fall of the House of Usher‹ dramatisiert.  Ich sollte einen Theaterschreibkurs leiten, vier Stunden in der Woche. Für mich war es dann sehr wichtig, Kriterien aufzustellen, die es möglich machen, Texte zu vergleichen. In diesem Fall ging es vor allem um eine Form der Vergleichbarkeit der Projekte. So habe ich Poes Novelle genommen und vorgegeben, jeder und jede macht ein Theaterstück daraus, und dann werden wir ja sehen, was entsteht. Und so ging es jede Woche vier Stunden, und mit dem Durcharbeiten der Vorschläge zehn Stunden die Woche, fünfzehn Wochen. Immer nur ›House of Usher.‹ Da war es dann schon notwendig, Madeline doch endlich einmal zu retten.

Irina Hron: Und dann treibt die gerettete Madeline höchst elegant von einem Ort zum nächsten. Orte und ihre oft detailgetreue Topographie spielen in so gut wie allen Ihren Texten eine wesentliche Rolle. Warum all diese akribisch benannten Details, wenn Madelines in einem fort wechselnden Wohn- und Urlaubsorte beschrieben werden?

Marlene Streeruwitz: Weil es ihre Geschichte der Exemplarität enthebt. Das macht die Besonderheit der Geschichte aus, und es ist nicht die Bibel oder das Märchen, die natürlich beide exemplarisch sind. Das macht ja genau den Roman aus. Und ein bisschen habe ich dafür auch etwas von Hemingway gelernt.

Irina Hron: Womit wir wieder dort angelangt wären, wo wir begonnen haben, nämlich bei einem Frauenleben jenseits jeder Exemplarität: kein Frauenkollektiv, sondern das Einzelschicksal der einen, einzigartigen Frau, von der dann ein Roman auch erzählen kann.

Marlene Streeruwitz: Das große Problem der Demokratie ganz allgemein ist doch, dass es schlussendlich immer nur Einzelne sind, die sich freiwillig zu einem Gesamt zusammenschließen, und auch, dass dieses Gesamt nicht näher beschreibbar werden darf, weil es sonst schon wieder in die falsche Richtung geht. Es soll natürlich – und das ist selbstverständlich feministisch – um das eine, besondere Frauenleben gehen, und es sollen nicht bloß die allgemeinen und bekannten Sätze über Frauen  wiederholt werden. Gleichzeitig geht es auch darum, eine Figur nicht wieder an dieses Gesamt, an einen Volkskörper, eine Nationalität oder eine übergeordnete Gruppe rückzubinden, sondern es geht wirklich immer nur um diese eine Person. So gesehen ist es natürlich ein analytischer Blick, der immer parteilich nur auf diese eine, einzelne Geschichte schaut. Wobei ich sagen muss, wenn es einem Autor oder einer Autorin gelingt, diese Besonderheit wirklich und eindringlich herzustellen, dann führt das für mich zur Lust an der Literatur. Und genau das ist der Unterschied zur Unterhaltungsliteratur, dass Literatur eben nicht auf einen Frauentyp zu beziehen ist oder auf eine Kohorte, auf einen sozialen Stand, sondern dass es überhaupt keinen erhellenden Rückschluss auf all das gibt. Meinetwegen ist das narzisstisch, aber den Figuren tut es gut. Und dann sind sie auch ganz wunderbar normal. Ich glaube wunderbar normal – das ist doch ganz gut.

Yseut. Abenteuerroman in 37 Folgen.

Anstelle einer Autobiographie erzählt Marlene Streeruwitz in ›Yseut.‹ von der Reise ihrer Heldin nach Italien, die auch eine Reise in die Vergangenheit wird. Yseut ist auf der Suche nach Antworten. Sie will entscheiden, ob sie nach all den schwierigen Erfahrungen und Versuchen mit der Liebe allein weiterleben will oder ob sie es noch einmal wagen soll. In Italien ist aber nichts mehr so, wie sie es vom Sehnsuchtsland der frühen Reisen in Erinnerung hat. Yseut gerät mitten in den mörderischen Kampf um Macht und Ordnung in einer kleinen Region. Eine alte Aristokratin entpuppt sich als Widerstandskämpferin, ein ehemaliger CIA-Agent bringt Yseut in Gefahr, der Polizeipräsident hält sie für eine Anarchistin, und ein charmanter Mafioso will sie verführen. Als Yseut von dem Schlägertrupp einer militanten Separatistenbewegung bedroht wird, greift sie zur Pistole in ihrer Handtasche.
Yseut weiß nicht, was hier gespielt wird, aber sie gibt nicht auf und kämpft mutig. Mitten in den Abenteuern erinnert sich Yseut an ihr vergangenes Leben, das sie hierher geführt hat. Auch diese Reise wird gut ausgehen. Aber wie schon bisher in Yseuts Leben, wird dieser Sieg ganz anders aussehen als erwartet.

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Frankfurt am Main 2020
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