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Hundertvierzehn | Extra
Schwester Lugtons Vorhang

Mit Romanen wie »Mrs. Dalloway« und »Zum Leuchtturm« wurde Virginia Woolf zur Pionierin der literarischen Moderne, mit ihrem Essay »Ein eigenes Zimmer« zur Ikone der Frauenbewegung. Zu ihrem 136. Geburtstag lassen wir uns von Virginia Woolf mitnehmen in die »Stadt, die ein sehr schöner Ort war und Millamarchmantopolis hieß«. 

 

Virginia Woolf

Virginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 in London geboren. Bereits in jungen Jahren bildete sie zusammen mit ihren Geschwistern den Mittelpunkt der intellektuellen Bloomsbury Group. Zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, gründete sie 1917 den Verlag The Hogarth Press. Ihre Romane stellen sie als Schriftstellerin neben James Joyce und Marcel Proust. Zugleich war sie eine der lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und hinterließ ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk. Virginia Woolf nahm sich am 28. März 1941 in dem Fluss Ouse bei Lewes (Sussex) das Leben.

Schwester Lugton war eingeschlafen. Sie hatte einen gewaltigen Schnarcher von sich gegeben. Sie hatte den Kopf sinken lassen; ihre Brille auf die Stirn hochgeschoben; und da saß sie am Kamingitter, den Finger hochgestreckt und einen Fingerhut darauf; und ihre Nadel voll Nähgarn hing herab; und sie schnarchte, schnarchte; und auf ihren Knien, ihre ganze Schürze bedeckend, war ein großes Stück gemusterter blauer Stoff.
Die Tiere, mit denen er bedeckt war, bewegten sich erst, als Schwester Lugton zum fünften Mal schnarchte. Eins, zwei, drei, vier, fünf – ah, die alte Frau war endlich eingeschlafen. Die Antilope nickte dem Zebra zu; die Giraffe biß durch das Blatt an der Baumspitze; alle Tiere fingen an, die Köpfe zu werfen und herumzustolzieren. Denn das Muster auf dem blauen Stoff war aus Scharen wilder Tiere gemacht und unter ihnen war ein See und eine Brücke und eine Stadt mit runden Dächern und kleinen Männern und Frauen, die aus den Fenstern sahen und zu Pferde über die Brücke ritten. Aber sofort als die alte Schwester zum fünften Mal schnarchte, verwandelte der blaue Stoff sich in blaue Luft; und die Bäume winkten; man konnte hören, wie das Wasser des Sees sich brach; und sehen, wie die Menschen sich über die Brücke bewegten und mit den Händen aus den Fenstern winkten.
Hintergrund

Wahrscheinlich im Herbst 1924 geschrieben, entstammt »Schwester Lugtons Vorhang« dem Roman-Komplex »Mrs Dalloway«: die (eigentlich titellose) Geschichte unterbricht die Szene, in der Septimus Warren Smith seiner Frau Rezia zusieht, wie sie einen Hut für Mrs Filmers Tochter näht. Die Transkription des handschriftlichen Entwurfs wurde am 17. Juni 1965 in Times Literary Supplement und 1966 von der Hogarth Press (als ›Nurse Lugton's Golden Thimble‹) veröffentlicht. Im Vorwort zur Hogarth Press-Ausgabe schrieb Leonard Woolf, die Erzählung sei für VWs Nichte, Ann Stephen, geschrieben worden, als sie ihre Tante einmal auf dem Lande besuchte.

Die Tiere setzten sich nun in Bewegung. Als erstes gingen der Elefant und das Zebra; als nächstes die Giraffe und der Tiger; der Strauß, der Mandrill, zwölf Murmeltiere und eine Herde Mungos folgten; die Pinguine und die Pelikane watschelten und wateten, häufig nacheinander pickend, daneben her. Über ihnen brannte Schwester Lugtons goldener Fingerhut wie eine Sonne; und als Schwester Lugton schnarchte, hörten die Tiere den Wind durch den Wald brausen. Sie gingen hinunter, um zu trinken, und während sie dahinschritten, wurde der blaue Vorhang (denn Schwester Lugton nähte einen Vorhang für das Wohnzimmerfenster von Mrs John Jasper Gingham) zu Gras gemacht, und Rosen und Maßliebchen; übersät mit weißen und schwarzen Steinen; mit Pfützen darauf, und Wagenspuren, und kleinen Fröschen, die eilig hüpften, damit die Elefanten nicht auf sie traten. Hinunter gingen sie, den Hügel hinunter an den See, um zu trinken. Und bald waren alle am Rand des Sees versammelt, manche beugten sich hinunter, andere warfen die Köpfe hoch. Wirklich, es war ein wunderschöner Anblick – und der Gedanke daran, daß all dies über den Knien der alten Schwester Lugton lag, während sie schlief, im Lampenlicht in ihrem Windsor-Sessel sitzend – der Gedanke daran, daß ihre Schürze mit Rosen und Gras bedeckt war, und mit all diesen wilden Tieren, die darüber trampelten, wo Schwester Lugton eine Heidenangst davor hatte, im Zoo auch nur mit ihrem Schirm durch die Gitter zu pieksen! Selbst ein kleiner schwarzer Käfer ließ sie einen Satz machen. Aber Schwester Lugton schlief; Schwester Lugton sah nichts, gar nichts.
Die Elefanten tranken; und die Giraffen knipsten die Blätter an den höchsten Tulpenbäumen ab; und die Leute, die die Brücken überquerten, warfen Bananen nach ihnen, und schleuderten Ananasse hoch in die Luft, und wunderschöne goldene Semmeln gefüllt mit Quitten und Rosenblättern, denn die Affen liebten sie. Die alte Königin kam in ihrer Sänfte vorüber; der General der Armee ging vorbei; ebenso der Premierminister; der Admiral; der Henker; und hohe Würdenträger auf Geschäften in der Stadt, die ein sehr schöner Ort war und Millamarchmantopolis hieß. Niemand fügte den lieblichen Tieren ein Leid zu; viele bemitleideten sie; denn es war überall bekannt, daß selbst der kleinste Affe verzaubert war. Denn eine große Menschenfresserin hatte sie in ihren Fesseln, wie die Menschen wußten; und die große Menschenfresserin wurde Lugton genannt. Sie konnten sie sehen, von ihren Fenstern, wie sie drohend über ihnen aufragte. Sie hatte ein Gesicht wie die Flanke eines Berges mit großen Abgründen und Lawinen, und Klüften als Augen und Haare und Nase und Zähne. Und jedes Tier, das sich in ihre Territorien verirrte, ließ sie lebendig erstarren, so daß sie den ganzen Tag über stocksteif auf ihrem Knie standen, aber wenn sie einschlief, dann waren sie erlöst, und sie kamen am Abend nach Millamarchmantopolis hinunter, um zu trinken.
Plötzlich knüllte die alte Schwester Lugton den Vorhang ganz in Falten.
Denn eine große Schmeißfliege summte rund um die Lampe und weckte sie. Sie setzte sich auf und stach ihre Nadel ein.
Die Tiere flitzten in Sekundenschnelle zurück. Die Luft wurde blauer Stoff. Und der Vorhang lag ganz still auf ihrem Knie. Schwester Lugton nahm ihre Nadel auf und fuhr fort, Mrs Ginghams Wohnzimmervorhang zu nähen.

Deutsch von Brigitte Walitzek

Das Mal an der Wand

Zu Virginia Woolfs Lebzeiten erschien nur ein Band mit Kurzprosa, und zwar ›Montag oder Dienstag‹. Er enthielt acht Erzählungen. Bis zur Veröffentlichung des hier nun auf deutsch vorliegenden Bandes (1985 in London erschienen, in erweiterter Ausgabe 1989) waren selbst auf englisch lediglich 21 Erzählungen Virginia Woolfs erhältlich. Diese Ausgabe enthält 46 Erzählungen und Skizzen, von denen 28 bisher noch nie ins Deutsche übersetzt waren. Sie vereint die gesamte von ihr selbst und ihrem Mann Leonard Woolf aus dem Nachlaß veröffentlichte Kurzprosa und alle unveröffentlichten Stücke.
Die Sammlung ist chronologisch angeordnet, so dass dem Leser neue Einsichten in den schriftstellerischen Werdegang Virginia Woolfs eröffnet werden. In den Erzählungen experimentiert die Autorin mit erzählerischen Methoden, Themen und sogar einzelnen Figuren, wie Mrs Dalloway, die sie dann in ihren Romanen breiter angelegt fortführte.
›Das Mal an der Wand‹ präsentiert nicht nur die maßgebliche Textfassung von jeder Erzählung, der Band enthält auch Kommentare mit den wichtigsten Informationen, die u. a. die Entstehungsgeschichte der abgedruckten Fassungen skizzieren.

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