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Hundertvierzehn | Essay
Sjón: Die Statistik der Dichtung

Vor 30 Jahren schrieb Italo Calvino seine berühmten Harvard-Vorlesungen. Zur Erinnerung und Bestandsaufnahme im Wintersemester 2015/16 haben sich mehrere Autorinnen und Autoren diese Vorlesungen noch einmal angesehen: Sjón dichtet uns das Jahrtausend als Zeiteinheit.

 
Sjón

Mit 16 Jahren veröffentlicht Sjón seinen ersten Gedichtband. Es folgen Romane, Songtexte und Drehbücher. Seine Texte für Lars von Triers ›Dancer in the Dark‹ wurden für den Oscar nominiert. Für ›Schattenfuchs‹ erhielt er 2005 den Literaturpreis des Nordischen Rates. Zuletzt erschien sein Roman ›Das Gleißen der Nacht‹. ›Der Junge, den es nicht gab‹ wurde mit dem Isländischen Literaturpreis 2013 ausgezeichnet.

Es gibt einen kleinen Singvogel, der eintausend Federn trägt. Er hat genauso viele Federn, wie Jahre in einem Jahrtausend. Mehr hat ein Jahrtausend nicht. Und weil er ein Singvogel ist, singt er. An jedem Tag. Sein ganzes Leben.

Eintausend kleine Federn. Ein Federgewand, darinnen: Gesang. Der Gesang eines Vogels, der nichts anderes kann als Singen. Er muss singen. Denn wenn er nicht singt, dann wird er aus der Welt verschwinden, und sein gesamtes Geschlecht mit ihm. Mit seinem Gesang singt er gegen die Stille, die sich nach seinem Verschwinden ausbreiten würde. Es ist ein schöner Gesang. Er klingt weder nach Verzweiflung, noch Erwartung.

Ein Jahrtausend. Das sind zehn Jahrhunderte. Zehn Mal hundert Jahre. Dreihundertfünfundsechzigtausend Tage, dazu kommen zweihundertfünfzig Schalttage. Und immer so weiter. Bis zu den Nanosekunden. Dem entsprechend setzt sich auch eine einzelne Feder aus unzähligen kleinen Ästchen zusammen, sie bilden die so genannte Fahne und sind entlang des Federkiels angeordnet. Und jedes dieser Ästchen der Fahne setzt sich wiederum aus unendlich vielen noch kleineren Ästchen zusammen.

Italo Calvino

Italo Calvino, am 15. Oktober 1923 in Santiago de las Vegas auf Kuba geboren, wuchs in San Remo auf. Er arbeitete mehrere Jahre als Lektor des Verlages Einaudi und als Redakteur bei verschiedenen Zeitschriften. Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und in alle Weltsprachen übersetzt. Italo Calvino starb am 19. September 1985 in Siena.

Die Federn größerer Vögel hat man als Schreibfedern verwendet. Dabei wird die Spitze des Federkiels zurechtgeschnitzt, um die Versuche des Menschen, Gesang hervorzubringen, zu notieren. Doch die Federn des Singvogels mit den eintausend Federn sind so klein, dass man mit ihnen nicht schreiben kann. Man lässt sie auf der Fingerkuppe des kleinen Fingers ruhen und behauptet, sie symbolisierten die Gedanken, die nie in Worte gefasst werden.

Jede Feder am Körper des tausendfedrigen Singvogels hat ihre ganz eigene Form. Jedes Jahr dieser eintausend Jahre hat seine eigene Gestalt. Kein Vogel kennt alle seine Federn. Fünfzehn Jahre des gerade begonnenen Jahrtausends haben wir bereits zu sehen bekommen. Niemand von uns wird lang genug leben, um den ganzen Vogel zu sehen.

Calvino30

Alle bisherigen Beiträge zu Italo Calvinos berühmten Harvard-Vorlesungen finden Sie hier

Von diesen kleinen Vögeln gibt es unermesslich viele. Zumal, wenn man die toten mitzählt.

Uns - den Dichtern und den Vögeln - ist gemeinsam, dass wir die Stille zerreißen.


(In seiner Vortragsreihe ›Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend‹ beginnt Italo Calvino sein Kapitel über die Genauigkeit mit dem Verweis auf eine Vorlesung, die eingangs darauf hinweist, das Zeichen der Ägypter für Genauigkeit sei eine Vogelfeder auf einer Waagschale. Doch vielmehr ist diese Vogelfeder das Gewicht, das auf die Waagschale gelegt wird, um die Seele eines Menschen zu wiegen. Die Feder nennt sich Maat und teilt ihr Schriftzeichen mit dem Grundton der Flöte. Italo Calvino zu Ehren, und aus Dankbarkeit für seine in die »Vorschläge« so großzügig eingestreuten dichterischen Gedanken, unternehme ich hier den Versuch, die Zeiteinheit Jahrtausend hinzuzufügen.)

Aus dem Isländischen von Betty Wahl

Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend

Welche Literatur wird dem Verschleiß standhalten und die Jahrtausendwende überleben? Welche literarischen Tugenden muss ein Werk haben, damit es über die Epochenschwelle hinaus Leser findet? In seinen für die Harvard-Universität konzipierten Vorlesungen entwirft Calvino ein handliches Vademekum der Tugenden, die ihm beim Gang durch die Jahrhunderte bedeutsam erscheinen: Leichtigkeit, Schnelligkeit, Genauigkeit, Vielschichtigkeit, Haltbarkeit. Seine Beispiele entnimmt er der bekannten Literatur: vom Volksmärchen über Dante bis hin zu Milan Kundera.

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