RAUFARHÖFN

©Kristín Elva Rögnvaldsdóttir
©Kristín Elva Rögnvaldsdóttir

Raufarhöfn-Blog: Tag 4

(Man lese diesen 2019 Raufarhöfn Reiseblog von unten nach oben, bei Tag 1 beginnend)

Mein letzter Tag im hohen Norden. Heute Morgen will ich niemanden besuchen, will einfach nur die Natur geniessen. Mein Ziel ist Hraunhafnartangi, der nördlichste Punkt Islands, nur 15 Minuten von hier entfernt. Da ist man schon über dem 66. Breitengrad, dem Polarkreis. Im Juni geht hier die Sonne nicht mehr unter. Ich habe die Fischer gestern im Hot-Pot gefragt, wie lange die Sonne auch in Raufarhöfn nicht untergeht, und der eine war überzeugt, dass sie während knapp zwei Wochen oben bleibt. Touristen kämen dann nach Raufarhöfn, um das zu erleben, aber man könne auch Kreuzfahrtschiffe am Horizont sehen. Die beiden Fischer sind indes froh, dass die Schiffe nicht im Hafen anlegen, denn eigentlich mag man hier die Ruhe. Eine völlig widersprüchliche Situation: Man baut den Arctic-Henge-Steinkreis, um Touristen anzulocken, bietet Unterkünfte an, aber wenn die Massen ausbleiben, ist man gar nicht traurig darüber.

Mir ist es egal, wenn Touristen kommen, sagt der andere Fischer. Ich will einfach nicht, dass sie in meinem Garten herumtrampeln!

Ich verstehe ganz genau, was die Fischer meinen. Ich denke auch so. Zum einen möchte ich, dass «Kalmann und Mauser» ein Weltbestseller wird, Raufarhöfn weltberühmt macht und vom Aussterben bewahrt. Zum anderen möchte ich, dass Raufarhöfn den nostalgischen Flair behält und vom Tourismus weiterhin verschont bleibt.

Die kurze Fahrt nach Hraunhafnartangi ist traumhaft schön. Die Strasse schlängelt sich der Küste entlang, an Seen vorbei, verlassenen Bauernhöfen, die Wolkengebilde am Horizont sind malerisch, die Strände sind schwarz und grob, das Wasser auch, und ich bin völlig alleine auf weiter Flur.

Bei Hraunhafnartangi muss ich das Auto stehen lassen und das letzte Wegstück zu Fuss zurücklegen – etwa 20 Minuten, bis ich beim Leuchtturm ankomme. Am Strand liegt völlig verwaschenes Treibholz. Einige Stämme sehen wie riesige Oberschenkelknochen aus. Zwischen den Steinen liegen Fischernetze und Bojen, aber ansonsten wenig Plastikabfall. Die Isländer sammeln gelegentlich den Müll, der an den Stränden rumliegt. Das interessiert dann die Medien. Sie wollen hören, dass da tonnenweise Plastiksäcke und Plastikflaschen rumliegen. Aber ist sind meistens nur Fischereiabfälle.

Ganz draussen am äussersten Spitz sitzen die Kormorane, in der Bucht hat es Eiderenten. Die Möwen sind weiter draussen. Die Raben sind bei den verlassenen Bauernhöfen anzutreffen.

Beim Leuchtturm hat es Ruinen eines Torfhauses und einer Unterkunft für Fischer. Unten am Wasser hat es eine Schneise im Fels, wo man früher die Ruderboote an Land gezogen hat. Die Wellen des Nordmeeres haben einen meterhohen Damm aus Steinen aufgetürmt. Ich klettere hoch und blicke gen Norden, sehe nur Wasser und Himmel. Zwischen mir und dem Nordpol ist jetzt eigentlich nur noch Wasser. Dass ich mutterseelenalleine hier stehe, ist ein seltsames, aber doch herrliches Gefühl. Aber alleine ist man in Island eigentlich nie. Ich erinnere mich an Ingibjörg, die mir gestern das alte Gemeindehaus gezeigt hat. Sie hat gesagt:

Manchmal bin ich alleine hier im Haus, aber ich bin dann nie alleine.

Tag 3

Ich wache schweissgebadet, aber ausgeschlafen auf. Es ist still im Haus. Die zwei Gäste sind schon wieder weg. Draussen wirbelt ein eiskalter Wind den Schnee um die Häuser und über die Strassen. Den Schneeammern scheints zu gefallen. Ein ganzer Schwarm tanzt durch die Luft, von Haus zu Haus. Da hats nämlich Brotkrummen. Auf die Bewohner von Raufarhöfn können sich die Vögel verlassen.

Heute habe ich einiges vor. Ich habe mich mit einer ganzen Reihe Leute verabredet und mache mich auf zwei Liter Kaffee gefasst. Die Gastfreundschaft ist hier oben grenzenlos. Man nimmt sich Zeit für mich, empfängt mich mit offenen Armen. Alle sind irgendwie auf derselben Wellenlänge. Auch ich bin ein Landei durch und durch. Wir sind uns einig, und es gibt eigentlich gar nichts zu diskutieren. Jeder weiss, dass Raufarhöfn kränkelt, wirtschaftlich und gesellschaftlich. Jeder weiss, dass die Idioten-Regierung in Reykjavik zu blöd ist, um ihren überteuerten Bürokratenapparat aus der teuren Hauptstadt aufs billigere Land zu verlegen, da, wo neue Arbeitsplätze willkommen wären und leere Häuser stehen. Heute, wo praktisch alles online erledigt werden kann, spielt es absolut keine Rolle, wo die Büroräumlichkeiten sind. Währenddem überall auf dem Land Banken zugemacht werden, baut die staatliche Landesbank ihr neues Hauptgebäude in Downtown-Reykjavik auf der teuersten Parzelle, völlig dekadent.

Svava und Nanna arbeiten für die fusionierte Nordurthing-Gemeinde. Ich finde die beiden in einem kleinen Haus an der Hauptstrasse, die Post und die Bank sind da auch noch untergebracht, aber nur für ein paar Stunden geöffnet. Rat und Hilfe gibt es von Svava und Nanna fast den ganzen Tag über. Gerade jetzt, wo die Steuererklärungen gemacht werden müssen, ist was los auf der Kanzlei. In Raufarhöfn gibt es nämlich viele Sozialhilfeempfänger und Ausländer.

Nanna und Svava wechseln sich ab im Kaffeetrinken. Nanna führt mit ihrem Mann noch eine Schaffarm, und darum unterhalten wir uns über Landwirtschaft. Die Regierung will die Schafbauern ermutigen, aufzuhören, und auch das gibt Gesprächsstoff . Stella, die Tiger-Bilder malt, streckt ihren Kopf zur Tür herein. Ach, du bist auch hier!, ruft sie. Sie ist Svavas Schwiegermutter. Kleine Welt.

Bald eile ich zum nächsten Termin: Ich treffe den Schulrektor Magnus. Er lädt mich kurzerhand zum Essen ein. Ich esse mit ihm, zwei weiteren Lehrern, zehn Schülern, fünf Kindergärtnern, und Nanna ist plötzlich auch da, denn heute ist Öskudagur, das ist ein bisschen wie Fastnacht; die Kinder verkleiden sich, futtern Süsses und man hängt sich gegenseitig kleine Aschesäckchen an den Rücken. Später solls im Gemeindesaal einen Ball geben. Den Saal würde ich eigentlich gerne mal sehen, denke ich so, und zack, schon habe ich ein Säckchen am Rücken hängen! Ich habs gar nicht gemerkt, aber ich vermute, es ist die kleine Frozen-Prinzessin gewesen, die mich jetzt so schelmisch anguckt. Und als ich am Nachmittag mit dem Hafenmeister Gunnar in seinem Container sitze und schwatze, merken wir, dass wir Kinder im selben Alter haben, und er zeigt mir ein Foto von heute Morgen, und da ist sie wieder, die Frozen-Prinzessin; seine Tochter! Da geht die Tür zum Container auf und des Hafenmeisters Frau Ingibjörg kommt rein. Sie braucht den Schlüssel zum Gemeindesaal. Wie klein ist die Welt eigentlich! Und darum frage ich auch gar nicht, als ich ein paar Stunden später einfach in den Gemeindesaal platze. Denn Ingibjörg ist ja da, um den Ball vorzubereiten, und sie kennt mich jetzt ja. Und sie führt mich sogar rum, zeigt mir alles. Das Gemeindehaus ist nämlich ein Juwel. Ein schöner Theatersaal, oben ein alter Filmprojektor für Kinovorführungen, dahinter eine schicke Bar. Im Keller sind einige Räumlichkeiten und Duschen, den früher war der Saal die Sporthalle, aber dann war da unten auch die alte Polizeistation, und die Duschen waren die Ausnüchterungszellen. Wenn also oben ein Ball ausser Rand und Band geriet, mussten die Missetäter nur einen Stock tiefer. Sowas kann man in einem Roman gar nicht schreiben! Das glaubt dir nämlich niemand!

Aber ich will nochmal den Dorfdichter treffen, Jonas, der einmal wöchentlich die Bibliothek öffnet, nämlich von 16-17 Uhr. Und wir sitzen eine ganze Stunde land mausalleine zwischen den Bücherstapeln, unterhalten uns über isländische Schriftsteller, als mein Telefon surrt. Es ist meine Gewerkschaft, die mich fragt, wieso ich noch nicht abgestimmt habe. Das kannst du doch gleich mit dem Telefon machen, ermutigt mich Jonas. Denn auch er ist ein vertrackter Sozi. Also logge ich mich ein und stimme Ja. Ja zu den angekündigten Streiks. Denn die Parlamentarier haben sich vor zwei Jahren eine 45% Lohnerhöhung gegeben. Die Führungsleute in den staatlichen Institutionen auch. Der Postchef etwa: 45% Lohnerhöhung! Klammheimlich! Die Landesbankdirektorin gar 80%! Achtzig Prozent, meine Damen und Herren! Und das beste Angebot der Regierung war, den Leuten mit Mindestlöhnen von Fr. 2500 einen Steuererlass von Fr. 55 zu geben. Eine Ohrfeige. Aber guess what! Jetzt wird gestreikt, und zwar da, wo es viele Arbeiter mit Mindestlöhnen hat: im Tourismus, dem Haupteinkommen der Isländer! Die Putzfrauen legen ihre Arbeit am 8.März nieder – wenn auch nur für ein paar Stunden, aber schon jetzt wird ihnen die Schuld für die nächste Rezession zugeschoben. Die Busfahrer streiken wohl auch bald. Auch sie verdienen etwa Fr. 2500 pro Monat. Zum Verlgeich: Schweizer Carchauffeure verdienen rund Fr. 4700, also fast das doppelte, obwohl Island teurer als die Schweiz ist.

Das Gespräch hat jetzt richtig Schwung. Da haben sich zwei gefunden, Jonas und Joachim, und als die Stunde um ist, verabschieden sich zwei Genossen.

Und jetzt merke ich auch, dass ich den ganzen Tag mit Leuten gequatscht habe, ohne irgendwelche Fragen gestellt zu haben.

Etwa im Lehrerzimmer nach dem Mittagessen, als ich mit dem Schulrektor Magnus und den Lehrerinnen Olga, Maria und Sigrun Kuchen gegessen habe. Es fehlten nur noch die zwei Sport- und Werklehrer. Ziemlich viele Lehrer für zehn Schüler eigentlich. Und plötzlich erinnere ich mich, dass ich gerne mehr über die Schule erfahren würde, weil sie in meinem Buch eine gewisse Rolle spielt.

Also führt mich Magnus rum. Seine Mutter ist Deutsche, und darum spricht er fliessend Deutsch. Alles ist so, wie ich es mir vorgestellt habe. Das Schulgebäude hat seinerzeit 150 Schüler gefasst, in den 90ern waren es dann noch etwa 70, und jetzt zehn. Eine Familie mit drei Kindern überlegt sich nun, wegzuziehen. Davor haben sie alle Angst hier, alle, mit denen ich rede, äussern Angst: Der Schulrektor, die Gemeindeschreiberinnen, der Dichter, die Senioren, der Hafenmeister… Der sagt, seine Kinder machen einen bedeutenden Prozentsatz aus: ein Büblein im Kindergarten (20% Anteil) und eine Prinzessin in der Grundschule (10% Anteil). Eigentlich meint er es lustig, aber es ist nicht lustig. Und wenn die Familie mit den drei Kindern wegzieht, besteht die Gefahr, dass die Schule geschlossen wird. Und dann kann auch Raufarhöfn dicht machen.

Meine Raufarhöfn-Recherche wächst mir über den Kopf. Vielleicht hätte ich gar nie kommen sollen. Wie soll ich diesen mit Geschichten und Eindrücken vollgestopften Koffer nach Hause schleppen? Da hilft nur eins: Entspannen im Hot-Pot. Da hatte ich schon vor zwei Tagen meine Ruhe…

Kasch denka! Im Hot-Pot sitzen zwei Fischer und eine in Island berühmte Regisseurin/Schauspielerin. Den einen Fischer kenne ich schon: Er hat tags zuvor mit dem Jungen Fischer die Netze draussen gelegt. Drei Tonnen Kabeljau haben sie heute gelandet, erzählt er, ist aber nicht ganz zufrieden damit, denn es hätten gut fünf Tonnen sein können. Der andere Fischer ist auch gesprächig. Wir unterhalten uns übers fischen, über Touristen und Naturperlen. Die Regisseurin erzählt, dass sie kürzlich von einem Geist heimgesucht wurde. Die Fischer doppeln nach. Ich stehe kurz vor dem Zusammenbruch. Wieso ist der Hot-Pot plötzlich so verdammt heiss?!

Hast du eins deiner Bücher dabei?, fragt mich die Regisseurin, die eigentlich in Reykjavik wohnt, aber hier mit ihrem Mann ein altes Haus renoviert. Und sie fragt es auf Deutsch. Fliessend. Sie würde mein Buch gerne ausleihen, sagt sie. Du kannst es haben!, rufe ich, vielleicht etwas zu laut. Bring es mir morgen vorbei, sagt die Regisseurin und lächelt.

Tag 2

Ich schlafe mit Unterbrüchen. Mit meinen Hustenanfällen wecke ich alle guten Geister des Hauses, aber das kümmert sonst niemand, denn ich bin ja alleine mit ihnen.

In der Nacht hat es geschneit. Geschätzte fünf Zentimeter. Ein Mann fährt mit dem Traktor, Schneepflugschaufel montiert, die Hauptstrasse rauf und runter. Und gleich nochmal, rauf und runter, als lägen da 50 Zentimeter.

Es ist windstill, und immer wieder drückt die Sonne durch. Ich packe meinen Hals ein und gehe mit der Kamera bewaffnet nach draussen. Location hunting, wie die Amis sagen würden. Ich finde Kalmanns kleines Häuschen. Bin irgendwie enttäuscht, dass ich ihn da nicht vorfinde. Das knapp 100-jährige Haus steht seit Jahrzehnten leer.

Oben beim Arctic-Henge-Monument glaube ich Fuchsspuren zu entdecken. Vielleicht auch Hundespuren. Nein, Fuchsspuren, entscheide ich. Das ist spannender. Und da drüben wäre dann die Blutlache. Raufarhöfn fügt sich geschmeidig in meine Geschichte ein. Ich bin zufrieden.

Ich schaue mich um, das Dorf liegt zu meinen Füssen, die Melrakka-Ebene erstreckt sich hinter mir. Sie ist endlos, karg und abweisend, so dass ich am liebsten gleich losmarschieren würde. Aber die kalte Luft schmerzt bei jedem Atemzug. Hustend fliehe ich zurück ins Auto.

Unten am Hafen herrscht Betrieb. Die letzten Tage seien schlecht gewesen, erzählt mir ein junger Fischer. Er habe eben erst die Netze draussen bei den Leinen legen können, darum sei er schon wieder zurück. Ihm gefällt es in Raufarhöfn. Hier bist du völlig frei, sagt er. Es ist ruhig und die Natur ist wunderschön. Und man spart viel Geld, denn man kann es nirgendwo ausgeben.

In der Genügsamkeit liegt wohl sein Glück. Tote Hose, würden andere sagen. Die Bar ist geschlossen. Das Hotelrestaurant auch. Das Kino wird schon lange nicht mehr gebraucht.

Aber es gibt einen Kirchenchor. Und immer samstags Yoga-Unterricht. Heute um 12 Uhr bietet die Yoga-Lehrerin, die Olivia heisst und zwischen drei Ortschaften pendelt, Yoga-Nidra in der Turnhalle an: Tiefenentspannung. Abtauchen in die tieferen Schichten des Bewusstseins. Mediation. Ausser mir und der Yoga-Lehrerin ist noch eine Frau da. Niemand sonst. Wir drei in einer riesigen Turnhalle.

Olivia erzählt mir später, dass ihre Stunden in den anderen Dörfern besser besucht sind, als hier. In Raufarhöfn gibt es mehr Arbeitslosigkeit, sagt sie. Die Leute verkriechen sich in ihren Häusern und kommen nicht raus. Aber Olivia gibt nicht auf. Und es gefällt ihr in Raufarhöfn. Sie weiss: Wenn man mit sich alleine sein kann, hat man hier keine Probleme.

Ich spaziere durchs Dorf. Es ist gar nicht so einfach zu bestimmen, welche Häuser bewohnt sind und welche leer stehen. Dank dem Neuschnee erkennt man aber, dass nur bei wenigen Häusern Spuren wegführen.

Am Nachmittag treffen sich die Senioren und Seniorinnen im Haus Breidablik, um Kaffee zu trinken, Karten zu spielen, zu stricken und zu schwatzen. Anders als im Yoga-Nidra erscheinen sie zahlreich, über ein Dutzend sogar…

Manchmal kommen zwanzig Leute!, versichert man mir, worauf eine Diskussion losbricht, wer denn eigentlich fehlt, und wo sie wohl stecken.

Helgi ist fast 90 Jahre alt, sieht aber zehn Jahre jünger aus. Er sagt, Nahrungsmittel halten sich am besten im Kühlschrank. Darum sei man hier oben in Raufarhöfn länger haltbar. Er setzt mir einen ganzen Stapel voller Fotographien vor. Die meisten Fotos sind aus den 50er Jahren, als man den Hering tonnenweise aus dem Meer schaufelte. Die Boote sind bis zum Rand mit Fisch gefüllt, liegen Seite an Seite im Hafen, mehrere Reihen, ein Wald aus Schiffsmasten, eine Freude für jeden Seemann. Auf den Fotographien sind hunderte von Frauen und Männern zu sehen, die den Fisch verarbeiten, salzen und in Fässer legen. Die Fässer sind fast haushoch gestapelt. Riesige Salzhaufen liegen am Hafen. Die Leute auf den Fotographien strahlen stolz.

Jetzt scharen sich ein paar gestandene Männer um mich.

Siehst du diese Pier hier? Die ist unter dem Gewicht des Salzes zusammengebrochen. Sie haben zu viel auf sie geladen!

Aber darum ist das Meer nicht salzig!

Schau mal einer an, die X-Brüder.

Dieser hier ist der Schwager von Y.

Der hier ist mein Vater.

Diesen hier, und den hier, und den, und den, und den auch, gibt es nicht mehr.

Dieses Haus hier, und dieses, und diese Baracke, und dieses Haus, und jenes, gibt es nicht mehr. Alles abgerissen.

Diese Pier ging kaputt, als sich Treibeis in den Hafen zwängte. Die Küstenwache brachte uns den Treibstoff mit dem Schiff, legte einen Schlauch übers Eis.

Ist das die Susanne?

Ja, das muss sie sein, ist im Hafen aufgelaufen. Wir mussten sie entzweischneiden, um sie beseitigen zu können. Siehst du hier? Nur noch die Hälfte, die aus dem Wasser ragt.

Dieses Haus wurde auch abgerissen.

Kennst du den hier? Das bin ich!

Damals waren deine Haare noch schwarz!

Kommt jetzt, ihr Knaben! Der Kaffee ist fertig, bitteschön!, ruft Stella. Sie trägt ein gehäkeltes Kleid und hat die ganzen Tiger-Bilder, die an der Wand hängen, gemalt.

Jonas Fridrik ist der Dorfdichter. Er trägt einen etwas ungepflegten Bart (wie es sich für einen Dichter gehört) und ein T-Shirt, auf dem steht: Manchmal trinke ich Wasser – einfach um meine Leber zu überraschen.

Er ist eine lokale Berühmtheit, hat Liedertexte verfasst, die jeder kennt.

Nach dem Senioren-Treffen bietet er mir eine Dorfrundfahrt an. Er zeigt auf die Häuser, die leeren Lagerhallen, die leeren Speicher und auf das brache Fundament, wo der erste Kaufladen gestanden war, einst ein stolzes Holzhaus, das man aus Kopenhagen nach Raufarhöfn verschiffte. Das war 1835. 1956 brannte es ab. Ich erinnere mich an die Fotographie: eine Menschenschar, die hilflos dasteht und zuschaut. Eine Feuerwehr gab es damals keine.

Ich war im Kino, sagt Jonas und zeigt mir auch gleich das Haus, wo das alte Kino war. Aber ich schaute den Film fertig, bevor ich zur Brandstelle rüberging.

Jonas fährt mich zum Arctic-Henge-Monument hoch, denn es war auch seine Idee. Das Projekt hat man 2002 in Angriff genommen, es ist aber noch immer nicht fertig. Und fast scheint es, als ärgere sich Jonas ein wenig, aber als ich erwähne, dass die Hallgrimskirche in Reykjavik 49 Jahre lang im Bau war, freut er sich: Stimmt! Und da habe ich auch mitgeholfen! Ich habe die Schalungsbretter entnagelt!

Als wir beim Laden vorbeituckern, bemerken wir ein Polizeiauto.

Wirst du gesucht?, fragt mich Jonas. Er wundert sich, dass die Polizei schon wieder hier ist. Die kämen nämlich nur selten hier hoch.

Weisst du, wann man die Polizeistation zugemacht hat?, frage ich ihn.

Ach, das ist lange her.

Jetzt wird es dunkel über Raufarhöfn. Ich bin völlig geschafft. Und ich stelle mit ungutem Gefühl fest: Die kauzigen Bewohner dieses Kaffs wachsen mir ans Herz. Es wird schwierig werden, mich in meinem Werk von ihnen zu distanzieren.

Ein Auto fährt vor. Zwei weitere Gäste betreten das Haus. Jetzt wird es aber langsam eng in Raufarhöfn!

Tag 1

Tag 1

Ich schlafe schlecht. Gliederschmerzen und ein trockener, schmerzhafter Husten. Fünf Uhr dreissig, und ich gebs auf. Ich muss sowieso früh los, mein Flieger nach Akureyri geht um sieben Uhr, also Honigtee trinken!

Das Propellerflugzeug hebt ab, sticht in den Morgenhimmel. Ich klebe am Fenster, versuche mich zu orientieren. Das Bergmassiv Esja, schneebedeckt, der Þingvallasee, ein Schildvulkan in der Ferne. Soweit kenne ich mich gut aus. Kann es sein? Ist der Þórisgletscher direkt unter uns? Tatsächlich, denn gleich dahinter folgt der Langgletscher, unverkennbar, massiv und so weiss, dass er sich kaum von der Wolkendecke unterscheidet. Dann Nichts. Nur Wolken, und dazwischen kleine Einblicke ins Hochland: Steine und Schnee. Keine Lichter. Dann wieder Lichter. Der Flug in den Norden Islands dauert nur 40 Minuten. Wie ein Glühwürmchen leuchtet ein Gewächshaus. Aber in den Tälern schlängeln sich die Flüsse so wild und munter, als schenkten sie der angrenzenden Landwirtschaft keine Beachtung.

In Akureyri bläst ein steifer Wind. Schnee wirbelt über die Flugpisten. Der Autovermieter will meinen Fahrausweis gar nicht sehen. Eine Unterschrift, da, da unten, genügt. Der Schlüssel steckt schon, der Motor brummt, das Auto ist warm. Zum ersten Mal in meinem Leben fahre ich durch den neuen Tunnel Vaðlaheiðargöng, erspare mir so die verschneite Passstrasse und bin nach rund sieben Kilometern und 1500 Kronen (soviel kostet es nämlich, den Tunnel zu benützen) im Ljósavatnsskarð, also auf gutem Weg. Der Tunnel ist erst seit wenigen Monaten offen. Der Fertigstellung war ein Albtraum. Wasseradern, heiss und kalt, führten dazu, dass es dann doch etwas länger dauerte und ziemlich viel teurer wurde. Zeitweise mussten die Bauarbeiter mit dem Ruderbötchen in den Tunnel vordringen. Hier ist auch das längste Wort Islands zu finden: Vaðlaheiðarvegavinnuverkfærageymsluskúraútidyralyklakippuhringur. Gesundheit!

In Húsavík hat es tatsächlich Touristen auf der Strasse. Es ist der 4. März. Aber Húsavík gilt ja als das Mekka der Walbeobachter – was in erster Linie mit saugutem Marketing zu tun hat. Die Walbeobachter im Eyjafjördur bei Akureyri sind genauso erfolgreich, und die See ist da ruhiger.

Ich brauche Honig und Zwiebeln, um mir schnellst möglich einen Saft zuzubereiten. Die Apotheke macht sowieso erst um 10 Uhr auf, und warten mag ich nicht. Mitten auf dem Parkplatz steht ein verlassenes Auto und brummt zufrieden vor sich hin; ein Laster der Landbevölkerung, den Motor laufen lassen, indes völlig harmlos. Hinter Húsavík qualmt nämlich die neue Ferrosilizium Anlage und trägt zu einem grossen Teil des CO2 Ausstosses der Isländer bei. Schwerindustrie. Damit versucht man, der Landbevölkerung Perspektiven zu bieten. Ich vermute aber, dass in der hässlichen Container-Anlage hinter der Fabrik nur wenige Isländer wohnen.

Jetzt wird es einsam auf der Strasse. Auf einer Strecke von fast 100 Kilometern kreuze ich etwa drei Autos. Die Bauernhöfe sind so spärlich gesät, dass sie wie Fremdkörper in der Landschaft stehen. Ein Missverständnis, ein gescheiterter Versuch. Menschen sieht man keine, aber ich kann davon ausgehen, dass ich gesehen werde. Nun kämpft sich die Wintersonne über den Berg, schafft es sogar, ist dabei noch immer unter der Wolkendecke. Jetzt spiele ich den Touristen, halte mitten auf der Strasse an, um ein Bild zu machen. Es gibt aber niemanden, der das stören könnte.


In Kopasker mache ich Mittagspause. Da gibt es einen Dorfladen, der auch ein Café ist. Die Bank, die Post und die Weinbude, alles unter ein- und demselben Dach. Vor dem Gebäude steht ein alter Männer, stützt sich auf zwei Skistöcken ab.

Hast du Verwandschaft hier?, fragt er mich. Ich verneine, erkläre, dass ich auf dem Durchweg bin, Ziel Raufarfhöfn.

Zum Glück ist dein Auto genagelt, sagt der Alte und klopft mit dem Skistock an die Reifen. Die Strasse nach Raufarhöfn ist vereist. Am besten fährst du zuerst etwa 50 km/h, und dann bremst du mal, um zu sehen, ob du guten Griff hast.

Ich bedanke mich für den Ratschlag. Ob es da drinnen Kaffee gibt, will ich von ihm wissen.

Aber sicher, sagt der Alte. Bei Gummi gibt’s reichlich Kaffee, und er serviert auch Essen, und manchmal gibt es Antworten auf alle Fragen zwischen dem Himmel und der Erde!

Gummi macht mir ein gegrilltes Sandwich. Zwischendurch bedient er die Kasse. Er ist zufrieden in seinem Kaff.

Wir haben das Schlachtaus für die Lämmer und wir haben eine Lachszucht. Jeder, der hier lebt, hat Arbeit. Es gab eine Zeit, da wir glaubten, wir sterben aus, aber jetzt sind nebst den Polen auch ein paar Spanier zugezogen, und die haben Kinder. Und weil das Wetter hier im Sommer oft so angenehm ist, nennen wir unseren Ort Costa del Sol!

Die Fahrt von Kopasker nach Raufarhöfn ist fast surreal. Alles weiss, alles graublau, oben und unten, der Horizont spiegelt den Himmel. Ich fahre auf Wolken. Dann tauche ich in eine graue Front ein. Schneetreiben. Schlechte Sicht.

Raufarhöfn taucht unverhofft wie aus dem Nichts auf. Ich bin da! 600 Kilometer von Reykjavik entfernt. Das nördlichste Dorf auf dem Festland. Ich habe es geschafft! Sogleich packt mich die Neugier. Ich kurve durch das verschlafene 170-Seelen-Dorf. Noch hat man mich nicht bemerkt. Kaum Betrieb am Hafen, aber trotzdem nicht ganz ausgestorben. Bei der Schule stehen Kinderwagen – aha, Nachwuchs. Auch das Arctic-Henge-Steinmonument steht da, wo ich es erwartet habe. Spannend, stämmig, aber halbfertig, und jetzt fegt der Wind über die Melrakka-Ebene, dass es einem den Atem verschlägt. Mein Hals gibt mir zu verstehen, schön im warmen Auto zu bleiben. Das Hotel Nordurljos ist über den Winter zu, aber das Gasthaus Nest nimmt mich auf. Die Gasthausbetreiberin Halldora ist trotz unserem Email-Austausch vor ein paar Tag völlig überrascht über meinen Besuch. Aber das ist nicht so schlimm; ich bin der einzige Gast.

Das Schwimmbad ist von 16-19 Uhr geöffnet. Der Bademeister schreitet voran. Seine Haut ist braungebrannt, sein T-Shirt spannt sich über seinen Bizeps, Tattoos schlängeln sich unter dem T-Shirt hervor. Seine Glatze ist spiegelblank. Er zeigt mir alles: Schwimmbecken, Hot-Pot, Fitnessraum, Solarium, Sauna, Infrarotwärmekabine, Ruheliegen. Ich bin erleichtert. In der Sauna entspannt sich mein Hals umgehend. Trotzdem. Ich ziehe mich bald wieder ins Gasthaus zurück, bereite den Tee grad Literweise zu und haue in die Tasten. Vor meinem Fenster wirbeln die Schneeflocken. Eine Antenne ragt gut vierzig Meter in die Höhe; sie ist die Verbindung zum Rest der Welt. An der gegenüberliegenden Strassenseite steht ein grosses, graues Haus; das alte Post- und Telekommunikationshaus. Ich warte darauf, dass die Lichter angehen. Aber es bleibt dunkel.